Dionysius Areopagita

Der (spätere rosenkreuzerische Erkenntnis-)Weg hat sich zum Teil schon lange vor dem Christentum vorbereitet. Er nahm eine besondere Gestalt an durch jenen großen Eingeweihten, der in der esoterischen Schule des Paulus zu Athen als Dionysius der Areopagite jene Schulung begründete, aus der alle spätere esoterische Weisheit und Schulung hervorgegangen ist. [1] Die Lehre von den Göttern ist zuerst in ein System gebracht worden von dem Schüler des Apostels Paulus, Dionysius dem Areopagiten. Sie ist aber erst im 6. Jahrhundert aufgeschrieben worden. Die Gelehrten leugnen deshalb die Existenz des Dionysius Areopagita und sprechen von den Schriften des Pseudo-Dionysius, als ob man erst im 6. Jahrhundert alte Überlieferungen zusammengestellt habe. Der wahre Sachverhalt ist aber nur zu konstatieren durch das Lesen in der Akasha-Chronik. Diese lehrt, daß Dionysius wirklich in Athen gelebt hat, daß er von Paulus eingeweiht worden ist und von ihm den Auftrag erhalten hat, die Lehre von den höheren Geistwesen zu begründen und besonderen Eingeweihten zu erteilen. Gewisse hohe Lehren wurden damals niemals aufgeschrieben, sondern nur durch mündliche Tradition fortgepflanzt. Auch die Lehre von den Göttern wurde so von Dionysius seinen Schülern gegeben und von diesen wiederum weitergegeben. Der direkte Schüler wurde dann mit Absicht wiederum Dionysius genannt, so daß der letzte, der die Lehre von den Göttern aufschrieb, einer in dieser Reihe war, die alle Dionysius genannt wurden. [2]

Man kann den Inhalt in der folgenden Art skizzieren: Wenn die Seele sich allem entringt, was sie als Seiendes wahrnehmen und denken kann, wenn sie auch hinausgeht über alles, was sie als Nichtseiendes zu denken vermag, so kann sie das Gebiet der überseienden, verborgenen Gottwesenheit geistig erahnen. In dieser ist das Urseiende mit der Urgüte und der Urschönheit vereinigt. Von dieser ursprünglichen Dreiheit ausgehend, schaut die Seele absteigend eine Rangordnung von Wesen, die in hierarchischer Ordnung bis zum Menschen gehen. Scotus Erigena übernimmt im 9. Jahrhundert diese Weltanschauung und baut sie in seiner Art aus. [3] Diese Lehre von den Göttern umfaßt dreimal drei Glieder der göttlichen Wesenheiten:

Seraphim Cherubim Throne
Kyriotetes Dynamis Exusiai
Archai Archangeloi Angeloi

Über den Seraphim stehen dann göttliche Wesenheiten (die Trinität) von solcher Erhabenheit, daß das menschliche Fassungsvermögen nicht ausreicht, um sie zu begreifen. Nach der dritten Stufe folgt die vierte Hierarchie: der Mensch, als der zehnte in der ganzen Reihe. Die Namen der Hierarchien sind keine Eigennamen, sondern Namen für gewisse Bewußtseinsstufen des großen Universums, und die Wesen rücken von einer Stufe zur anderen. Eliphas Levi hat das klar gesehen und betont, daß man es bei diesen Namen mit Rangstufen zu tun hat, mit Hierarchien. Auf denselben Dionysius geht auch das Prinzip der Kirchenorganisation zurück. Die kirchliche Hierarchie sollte nur ein äußeres Abbild sein für die innere Hierarchie der Welt. [4]

So wie sich der Diakon zu dem Archidiakon verhält, so sollte das ein Abbild sein, wie sich der Angelos zu dem Archangelos verhält. Und wiederum, wie sich der Archidiakon zu dem Bischof verhält: Abbild vom Archangelos zum Arché. Und so sollte die soziale Struktur der Kirche eine Art Abbild der Theokratie sein. Oben in der geistigen Welt stehen stufenweise die Hierarchien, unten sollen, als Abbild der geistigen Hierarchien, die kirchlichen Würdenträger stufenweise stehen. Das war in der ersten Zeit nach dem Mysterium von Golgatha nicht juristisch gedacht, sondern das war theokratisch gedacht. [5]

Bei der Verjüngung der Urweltweisheit (siehe: Uroffenbarung) im Beginne unserer Zeitrechnung mußte wiederum in scharfen Worten hingewiesen werden darauf, daß da, wo das menschliche Auge sich hinausrichtet und als physisches Auge nur Physisches sieht, daß da Geistiges den Raum geistig erfüllt. Und so wies mit den allerschärfsten Worten derjenige, der der intimste Schüler des Apostels Paulus war, so wies in Athen Dionysius darauf hin: Es gibt nicht nur Materielles draußen im Raume, es gibt, wenn die menschliche Seele ahnend aufsteigt in die Räume des Weltendaseins, Geistiges da draußen in der Welt, das über dem Menschen steht in der Entwickelung des Daseins. Und er gebrauchte jetzt Worte, die allerdings anders lauten mußten, denn hätte er die alten Worte gebraucht, niemand hätte darin anderes als Materielles gesehen. Die Rishis haben gesprochen von den geistigen Hierarchien, so daß sie in ihren Worten ausgedrückt haben, was auch griechische und römische Weisheit noch ausgedrückt hat, wenn sie gesprochen hat von der vor ihr aufsteigenden Welt des Mondes, des Merkur, des Mars, der Venus, des Jupiter, des Saturn. Dionysius hat ganz dieselben Welten im Auge wie die Rishis; nur betonte er scharf, daß man es mit Geistigem zu tun hat, und er nahm Worte, von denen er sicher war, daß sie geistig genommen wurden: er sprach von Angeloi, Archangeloi, Archai, Exusiai, Dynamis, Kyriotetes, Thronen, Cherubim, Seraphim. Und jetzt wurde wiederum von den Menschen vergessen, richtig vergessen dasjenige, was die Menschheit einmal gewußt hat. Hätte man im Zusammenhang verstehen können, was Dionysius der Areopagite und was die alten heiligen Rishis gesehen haben, so hätte man gehört von der einen Seite den Mond benennen, von den anderen Mysterien hätte man die Welt der Angeloi benennen hören, und man hätte gewußt: Das ist dasselbe. Man hätte das Wort Merkur von der einen Seite gehört und von der anderen das Wort Archangelos und gewußt: das ist dasselbe. Man hätte gehört das Wort Sonne auf der einen Seite und Exusiai (Elohim) auf der anderen und hätte gewußt: Dieselben Welten sind mit diesen Worten bezeichnet. Hätte man gehört das Wort Mars auf der einen Seite, man hätte gefühlt: Hier steigt man auf zu den Dynamis. Hätte man gehört das Wort Jupiter auf der einen Seite, wo wäre es dasselbe gewesen, was in der Schule des Dionysius angeschlagen wurde, wenn von Kyriotetes die Rede war. Dem Wort Saturn entspricht hier das Wort Throne. [6]

Also in Athen namentlich war bis ins 4. Jahrhundert herein, ja noch länger, eine Weisheitsschule, welche sich bemühte, die alte ätherische Astronomie mit dem Christentum in Einklang zu bringen. Die letzten Reste dieser Anschauung von dem Hereinkommen des Menschen aus höheren Welten durch die Planetensphäre in die Erdensphäre, sie durchglänzen noch die Schriften des Origenes, glänzen noch durch selbst durch die Schriften der griechischen Kirchenväter. Und es glänzte namentlich durch die Schriften des wahren Dionysius des Areopagiten.

Dieser hinterließ ja eine Lehre, die eine reine Synthesis war zwischen der ätherischen Astronomie und demjenigen, was im Christentum lebte: daß sich die gewissermaßen in der Sonne astronomisch oder kosmisch lokalisierten Kräfte in dem Christus durch den Menschen Jesus von Nazareth in die Erdensphäre hineinbegeben habe, und daß damit eine gewisse Beziehung, die vorher nicht vorhanden war, zur Erde entstanden ist in bezug auf alle höheren Hierarchien. Im 6. Jahrhundert hat man versucht, die Spuren zu verwischen auch der älteren Lehren des Dionysius des Areopagiten, und man hat sie so umgestaltet, daß man darin eigentlich nur noch eine abstrakte Geisteslehre hatte. So wie heute die Lehre des Dionysius vorliegt, ist sie ja eine Geisteslehre die nicht mehr viel mit ätherischer Astronomie zu tun hat. Und so nennt man ihn dann den Pseudo-Dionysius. Auf diese Weise hat man der Weisheitslehre einen Untergang bereitet, auf der einen Seite, indem man den Dionysius verballhornt hat, und auf der anderen Seite dadurch, daß man jene noch in Athen ganz lebhaft lebendige Lehre, welche die ätherische Astronomie mit dem Christentum vereinigen wollte, ausgerottet hat, und daß man in bezug auf das Kulthafte dann den Mithrasdienst ausgerottet hat. [7] (Siehe auch: Julianus; Konstantinismus; Mithras).

Dieser Dionysius wird ja gewöhnlich so geschildert, als ob er zwei Wege zum Göttlichen hätte. Die hat er auch. Der eine Weg ist der, daß er verlangt: Wenn der Mensch aufsteigen will von den Außendingen, die uns umgeben in der Welt, zu dem Göttlichen, so muß er versuchen herauszufinden aus all den Dingen, die da sind, ihre Vollkommenheiten, ihr Wesentliches, muß versuchen zurückzugehen zu dem Allervollkommensten, muß die Möglichkeit haben, das Allervollkommenste so mit Namen zu benennen, daß er einen Inhalt hat für dieses Göttlich-Vollkommenste, der nun wiederum sich gleichsam ausgießen und durch Individualisierung und Differenzierung die einzelnen Dinge der Welt aus sich hervorbringen kann. Der andere Weg ist, daß er sagt: Du mußt dein Bewußtsein vollständig reinigen von alldem, was du an den Dingen erfahren hast. Du mußt alle Namen, die du gewohnt bist, den Dingen zu geben, vergessen, und dich in einen Seelenzustand versetzen, wo du von der ganzen Welt nichts weißt. Wenn du das in deinem Seelenzustand erleben kannst, dann erlebst du den Namenlosen, der sofort verkannt wird, wenn man ihm irgendeinen Namen beilegt; dann erkennst du den Gott, den «Übergott» in seiner «Überschönheit». [8]

Wie kommt man zurecht mit einer Persönlichkeit, die einem nicht eine Theologie gibt, die einem zwei Theologien gibt, eine positive und eine negative, eine rationalistische und eine mystische Theologie? Geht man jeden (Weg) allein, dann findet man ebensowenig die Gottheit; aber geht man beide, so kreuzen sie sich, und man findet in dem Durchkreuzungspunkte die Gottheit. Es genügt nicht zu streiten darüber, ob der eine Weg oder der andere Weg richtig sei. Beide sind sie richtig; aber jeder einzelne, für sich gegangen, führt zu nichts. Beide gegangen führen, wenn die Menschenseele sich im Kreuzungspunkte findet, zu dem, was angestrebt wird. [9]

Diese Anschauungen des Dionysius enthielten für die Denker des siebenten, achten Jahrhunderts bis noch in die Zeiten des Thomas von Aquino den Neuplatonismus, aber eben in einer besonderen Gestalt, durchaus mit christlicher Nuance. [10]

(Der Herausgeber konnte die Bibliothek des Nicolaus Cusanus in Kues sehen, dabei ist ihm aufgefallen, daß neben dem Bande des Boëthius der Band des Dionysius die meisten Gebrauchsspuren aufwies.)

Zitate:

[1]  GA 99, Seite 151   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[2]  GA 93a, Seite 97   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[3]  GA 18, Seite 88   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[4]  GA 93a, Seite 97f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[5]  GA 184, Seite 42   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[6]  GA 110, Seite 25f   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[7]  GA 204, Seite 71f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[8]  GA 74, Seite 48f   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)
[9]  GA 74, Seite 49f   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)
[10]  GA 74, Seite 47   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 74:  Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)