Mithrasdienst

Dieser Mithrasdienst läßt sich etwa kurz durch eine Formel dadurch charakterisieren, daß mit dem irdischen und kosmischen Zusammenhange imaginativ bildhaft der Besieger des Mithrasstieres dargestellt worden ist: der Mensch auf dem Stiere reitend und die Stierkräfte besiegend. Man hat heute sehr leicht die Vorstellung, daß sich solche Bilder, die ja alle Kultbilder sind – religiöse Versinnbildlichungen, wenn wir so sagen dürfen, die aus den alten Weisheitslehren organisch hervorgegangen sind –, daß sich solche Kultbilder einfach abstrakt-symbolisch aus den alten Weisheitslehren ergeben hätten. Aber es ist eine ganz und gar falsche Vorstellung. Wenn man sich eine imaginative Anschauung, von dem Hereingehen des Menschen aus der geistigen Welt durch die Planetensphäre in die irdische Feuer-, Luft-, Wasser-, Erdensphäre, wenn man sich eine solche Vorstellung bildet, da kommt man nämlich dazu, sich zu sagen: Ja, wenn da etwas hereingeht aus der außerplanetarischen Sphäre in die planetarische und in die Erdensphäre und aufgenommen wird von der Erdensphäre, da wird ja kein wirklicher Mensch daraus; man kommt zu der Vorstellung, die sich am deutlichsten wiedergibt, wenn man nicht einen Menschen sich vorstellt, sondern einen Stier sich vorstellt, ein Rind sich vorstellt. Und wenn man nichts anderes begreift im Menschen als dieses (Hereinziehen aus der außerplanetarischen, in die planetarische und Erdensphäre) begreift man im Menschen auch nur das Stierhafte. – Diese Vorstellungen haben die alten Weisheitslehrer sich gebildet. Nun sagten sie sich: Also muß der Mensch gegen dieses Stierhafte mit noch einem Höheren ankämpfen. Er muß dasjenige, was diese Weisheit als Anschauung gibt, überwinden. Er ist als Mensch mehr ein Wesen, das bloß aus der außerplanetarischen Sphäre kommt, in die planetarische Sphäre hineinkommt und von den irdischen Elementen ergriffen wird; er hat etwas in sich, was mehr ist. [1]

Bis zu diesem Begriff kamen diese Weisheitslehrer, und deshalb bildeten sie dann den Stier aus, setzten den Mithras darauf, den kämpfenden Menschen, der den Stier überwindet und der sich sagt: Ich muß einen weit höheren Ursprung haben als denjenigen, der ein solches Wesen hat, welches im Sinne jener alten Weisheitslehre vorgestellt wurde. Und nun sagten sich diese Lehrer: Diese alte Weisheitslehre enthält allerdings eine Hindeutung auf das, worauf es hier ankommt. Diese alte Weisheitslehre blickt auf in die Planetensphäre zu Saturn, Jupiter, Mars, Merkur, Venus, Mond und so weiter; aber sie sagt auch: Indem der Mensch sich der Erde nähert, wird er fortwährend von der Sonne herausgehoben, daß er nicht aufgehe in dem Irdischen, daß er nicht bloß bleibe dasjenige, was aus der Mischung von schwarzer und weißer Galle, Phlegma und Blut und aus dem Ätherleib hervorgeht, wenn er von der (einen) Planetensphäre aufgenommen wird, und wenn der astralische Leib von der anderen Planetensphäre aufgenommen wird durch Merkur, Venus, Mond. Was den Menschen heraushebt, es wohnt in der Sonne. Daher sagten sich diese Lehrer: Machen wir den Menschen aufmerksam auf die in ihm wohnenden Sonnenkräfte, so ist er der Mithras, der den Stier besiegt. Das war dann das Kultbild. Es sollte nicht bloß ein ausgedachtes Symbolum sein, sondern es sollte tatsächlich das Faktum, das kosmologische Faktum geben. Die religiöse Zeremonie (dagegen) war mehr als ein äußeres Zeichen; sie war etwas, was gewissermaßen herausgeschnitten war aus dem Wesen der Welt selber. [2]

Dieses Kultartige, das war etwas, was seit sehr alten Zeiten da war, was aus Asien nach Europa herübergebracht worden war. Es war, ich möchte sagen, das Christentum von der einen Seite angesehen, von der äußeren, von der astronomischen Seite angesehen, denn Mithras war die Sonnenkraft im Menschen. Und nun entstand ein gewisses Bestreben, dessen Ausläufer wir überall wahrnehmen können, wenn wir auf die ersten christlichen Jahrhunderte zurückgehen. Es entstand das Bestreben, die historische Tatsache, das Mysterium von Golgatha zusammenzunehmen mit dem Mithrasdienst. Zahlreich waren in der damaligen Zeit, insbesondere innerhalb der römischen Legionschaft, die Menschen, die dasjenige, was sie in Asien, was sie überhaupt im Oriente erfahren konnten, herübertrugen in die Donauländer bis weit herein nach Mitteleuropa, ja sogar nach Westeuropa. In dem, was sie da als Mithrasdienst herübertrugen, lebten Empfindungen, die, ohne das Mysterium von Golgatha zu reflektieren, durchaus christliche Anschauungen, christliche Empfindungen in sich hatten. Der Mithrasdienst wurde als ein konkreter Dienst betrachtet, der sich bezog auf die Sonnenkräfte im Menschen. Nur wurde noch nicht gesehen in diesem Mithrasdienst, daß mit dem Mysterium von Golgatha diese Sonnenkraft selber heruntergestiegen war als die geistige Wesenheit und sich mit dem Menschen Jesus von Nazareth vereinigt hatte.

Und nun gab es – und je weiter wir in den Untersuchungen nach Osten gehen, desto klarer wird es – bis in das 4. nachchristliche Jahrhundert herein Weisheitsschulen im Osten, welche nach und nach Berichte bekamen, Nachrichten bekamen, Kenntnis bekamen von dem Mysterium von Golgatha, von dem Christus. Sie bemühten sich nun, ein Diktum über die Welt hin zu verbreiten, und es war eine Zeitlang durchaus das Bestreben, in den Mithraskultus hineinzugießen dasjenige, was der übersinnlichen Anschauung entspricht: Der wahre Mithras, das ist der Christus, und Mithras ist sein Vorläufer; man muß hineingießen in diejenigen Kräfte im Menschen, welche den Stier besiegen, die Christus-Kraft. Wer nun die Verbreitung des östlichen Christentums, die Verbreitung des Arianismus beobachtet, kann an der Verbreitung des Arianismus wahrnehmen, wie ein Mithraselement in diesem Arianismus drinnen ist, obwohl es schon sehr geschwächt ist. Und jede Übersetzung der Ulfilas-Bibel in die neueren Sprachen bleibt unvollkommen, wenn man nicht weiß, daß in die Termini des Ulfilas, des Wulfila, noch Mithraselemente hineinspielen. [3]

In Griechenland gab es bis ins 4. Jahrhundert hinein Philosophen, welche daran arbeiteten, die alte ätherische Astronomie mit dem Christentum in Einklang zu bringen, und daraus entstand jene wahre Gnosis, welche durch das spätere Christentum gründlich ausgerottet worden ist. [4] (Weiteres siehe: Gnosis).

Zitate:

[1]  GA 204, Seite 66ff   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[2]  GA 204, Seite 68f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[3]  GA 204, Seite 69f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[4]  GA 204, Seite 71   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)

Quellen:

GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)