Gnosis

Die alte Urweisheit war in ihren letzten Phasen vorhanden in dem, was sich herausbildete gegen Vorderasien, Griechenland zu als Gnosis. Diese Gnosis war immerhin noch eine solche Weisheit, welche in der verschiedensten Art zusammenfaßte, was dem Menschen vorlag an Welt- und Naturerscheinungen. Sie hatte aber doch schon im Verhältnis zu dem unmittelbaren anschaulich-instinktiven Einblicke in die geistige Welt, der eigentlich der orientalischen Entwickelung zugrunde lag, sie hatte demgegenüber einen schon mehr, man könnte sagen intellektuellen, verstandesmäßigen Charakter. Es war das geistige Leben, das im alten Orient alles menschliche Anschauen durchdrang, nicht mehr vorhanden. Und eigentlich aus den letzten Resten der alten Urweisheit heraus suchte man jene philosophisch-menschliche Anschauung zusammenzusetzen, die man als Weisheitsgut anwendete, um das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Es wurde gekleidet dasjenige, was im Mysterium von Golgatha lag, in die Weisheit, die sich ins Griechentum herüber vom Orient gerettet hatte. [1]

Als das Mysterium von Golgatha durch die Entwickelung der Menschheit hindurchgegangen ist, da waren noch viele Menschen wirklich fähig, in Nachklängen von hellseherisch erfaßten Begriffen die Dinge aufzunehmen, die eigentlich doch nur spirituell begriffen werden können, und die sich auf das Mysterium von Golgatha beziehen. Nur so können wir es begreifen, daß für die späteren Zeiten vieles unverständlich sein mußte, was in den ersten Zeiten, in den ersten Jahrhunderten des Christentums an Begriffen entwickelt wurde, um das Mysterium von Golgatha zu erfassen. Wenn die älteren christlichen Lehrer noch Nachklänge der alten hellseherischen Begriffe anwandten, um das Mysterium von Golgatha zu erfassen, so blieben natürlich diese hellseherischen Begriffe ihrem eigentlichen Nerv nach den späteren Jahrhunderten unverständlich, und im Grunde genommen ist das, was man Gnosis nennt, gewöhnlich nichts anderes als das Nachklingen alter hellseherischer Begriffe. Nun würde man aber die Sache sehr einseitig ansehen, wenn man einfach sagen würde: Da gab es also eine Gnosis, die hatte noch alte hellseherische Begriffe, die noch bis ins 3. Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha hereingingen, und dann kamen die unverständigen Leute, die nicht fähig waren, die Gnostiker zu verstehen. – Das wäre sehr einseitig, so zu denken. In einem gewissen vollkommenen Sinne mit hellseherischen Begriffen zu arbeiten, gehört einer viel älteren Zeit an als der Zeit, in die das Mysterium von Golgatha hineinfiel. Und diese hellseherisch erfaßten Begriffe waren schon ganz luziferisch infiziert, das heißt: das alte hellseherisch-begriffliche Erfassen war schon luziferisch durchdrungen, und diese luziferische Durchdringung des alten hellseherischen Begriffssystems, das ist die Gnosis. Es mußte deshalb eine Art Reaktion gegen die Gnosis entstehen, weil die Gnosis eben die aussterbende alte hellseherische Begriffswelt war. [2]

Die Gnosis neigt zu Luzifer hin, das heißt, zu einem einseitigen spirituellen Auffassen. Sie kann daher zu dem Vaterprinzip durchaus nicht kommen, kann es nicht ordentlich würdigen. (Daher) wird ihr das Materielle (ein Ausdruck des Vaterprinzips) ein zu Verschmähendes, etwas, was sie nicht brauchen kann. [3]

Man sieht platonische und ältere Vorstellungsarten damit ringen, zu begreifen, was die Religionen verkünden, oder auch es bekämpfen. Bedeutende Denker suchen, was die Religion offenbart, auch gerechtfertigt vor den alten Weltanschauungen darzustellen. So kommt zustande, was die Geschichte als Gnosis bezeichnet, in einer mehr christlichen oder mehr heidnischen Färbung. Persönlichkeiten, welche für die Gnosis in Betracht kommen, sind Valentinus, Basilides, Marcion. Ihre Gedankenschöpfung ist eine umfassende Weltent-wickelungsvorstellung. Das Erkennen, die Gnosis, mündet, wenn es sich aus dem Gedanklichen ins Übergedankliche erhebt, in die Vorstellung einer höchsten weltschöpferischen Wesenheit. Weit erhaben über alles, was als Welt von dem Menschen wahrgenommen wird, ist diese Wesenheit. Und weit erhaben sind auch noch die Wesenheiten, welche sie aus sich hervorgehen läßt, die Äonen. Doch bilden diese eine absteigende Entwickelungsreihe, so daß ein Äon als ein unvollkommener immer aus einem vollkommeneren hervorgeht. Als ein solcher Äon auf einer späteren Entwickelungsstufe ist der Schöpfer der dem Menschen wahrnehmbaren Welt anzusehen, der auch der Mensch selbst zugehört. Mit dieser Welt kann sich nun ein Äon des höchsten Vollkommenheitsgrades verbinden. Ein Äon, der in einer rein geistigen, vollkommenen Welt verblieben und da sich im besten Sinne weiterentwickelt hat, während andere Äonen Unvollkommenes und zuletzt die sinnliche Welt mit dem Menschen hervorgebracht haben. Die dem Christentum zugeneigten Gnostiker sahen in dem Christus Jesus jenen vollkommenen Äon, der mit der Erdenwelt sich verbunden hat. [4]

Die Gnosis entfaltet sich in ihrer eigentlichen Gestalt im Zeitalter der Empfindungsseele – viertes bis erstes Jahrtausend vor dem Eintritte des Mysteriums von Golgatha. Die Gnosis war die aus alter Zeit bewahrte Erkenntnisart, die das Mysterium von Golgatha bei seinem Eintritte am besten zum Menschenverständnisse bringen konnte. [5]

Was man kennt als Emanationslehre, als das Hervorgehen des einen Äon aus dem anderen Äon, wo immer der weniger vollkommene oder der weniger hohe Äon aus dem vollkommeneren Äon hervorgeht, das, was gewöhnlich äußerlich-exoterisch als die Gnosis geschildert wird, ist eigentlich schon eine korrumpierte Sache. Das weist zurück auf eine Weltanschauung, die ganz anderer Natur war, und die insbesondere für die alten Zeiten, in denen noch die geistigen Lehrer (siehe: Urlehrer) aus dem Übersinnlichen selbst die Menschen gelehrt haben, möglich war; es weist zurück der Emanationismus auf eine Wissenschaft, die eben in alter Form sich bezog auf die Region der Dauer, auf das Obere. Und für dieses Obere kann man in einer gewissen Weise den Emanationismus verteidigen, nicht in der Form, wie man ihn korrumpiert kennt, sondern in der Form, wo eigentlich innerhalb der Emanationslehre nur von einer Perspektive der Zeit, nicht von einer eigentlichen Entwickelung gesprochen wird, sondern von einem Wechselverhältnis in den Wesen, denen die Dauer eignet. [6]

Die Gnostiker haben ein Gefühl gehabt von dem, daß man in unendlich weit zurückliegenden Welten die Gründe suchen muß für das, was in der äußeren Welt der damaligen Zeit sich ereignet hat. Und dieses Bewußtsein hat sich auf andere übertragen, und wir sehen es noch durchschimmern in der Theologie des Paulus. [7]

Eines leisen Lächelns wird sich der heutige Mensch, der in der Gegenwartsbildung drinnensteckt, wirklich nicht enthalten können, wenn ihm zugemutet wird, zu denken, die Urgründe der Welt seien bei jenen Weltenwesen, zu denen überhaupt Begriffe zunächst nicht reichen, zu denen nichts reicht von all dem, was man heute aufwendet zum Weltverständnis: In dem göttlichen Urvater liegt das, was der Weltengrund genannt werden kann. Und gleichsam von ihm ausgehend, ihm zur Seite, ist erst dasjenige, wozu die Seele sich hindurchringen kann, wenn sie abseits aller materialistischen Vorstellungen ein wenig nur ihr Tiefstes sucht: Schweigen, das unendliche Schweigen, in dem noch nicht Zeit und Raum ist, sondern nur Schweigsamkeit ist. Und dann ließ der Gnostiker hervorgehen gleichsam aus der Vermählung des Urvaters mit dem Schweigen andere – man kann sie ebensogut Welten wie Wesen nennen, durch dreißig Stufen hindurch. Äon ist der Ausdruck, den man gewöhnlich annimmt für diese dreißig unserer Welt vorangehenden Wesenheiten oder Welten. Man bekommt nur dann eine Vorstellung von dem, was mit dieser Äonenwelt gemeint ist, wenn man sich klar und deutlich sagt: Nicht nur das, was die Sinne wahrnehmen, was du deine Welt um dich herum nennst, gehört sozusagen der 31. Welt an, sondern auch das, was du aufbringst als physischer Mensch mit deinen Gedanken als Erklärungen dieser Welt, gehört dieser 31. Stufe an. Es ist ja noch leicht, sich abzufinden mit einer spirituellen Weltanschauung, wenn man sagt: Nun ja, die äußere Welt ist ja allerdings Maya, aber durch unser Denken dringen wir in die geistige Welt ein –, und wenn man dann die Hoffnung hat, daß dieses Denken wirklich hinaufkommen kann in die geistigen Welten. Das war aber nach Ansicht der Gnostiker nicht der Fall. So daß zunächst nicht nur der sinnlich wahrnehmende, sondern auch der denkende Mensch herausversetzt war aus den dreißig Äonen, die stufenweise aufwärts angeschaut werden können durch die geistige Entwickelung und die in immer größerer und größerer Vollkommenheit sich darstellen. [8]

Die umliegende Welt, auch mit dem, was der Mensch über sie denken kann, warum ist sie denn abgeschlossen von den dreißig Äonen? – Da muß man hinblicken, sagte sich der Gnostiker, auf den untersten, aber noch nicht rein geistigen Äon. Da ist vorhanden die göttliche Sophia, die göttliche Weisheit. In geistiger Art abstammend durch die 29 Stufen hindurch, zu dem höchsten Äon schaute sie hinauf innerhalb der geistigen Welt, zu dieser Reihe der geistigen Wesenheiten oder Welten. Aber es wurde ihr eines Tages, eines Weltentages, klar, daß sie etwas von sich auszusondern habe, wenn sie den freien Ausblick erhalten wollte in die geistige Welt der Äonen. Und sie sonderte von sich aus dasjenige, was in ihr vorhanden war als Begierde. Und das, was fortan nicht mehr in ihr vorhanden ist, in dieser göttlichen Sophia, in dieser göttlichen Weisheit, das irrt nunmehr herum in der Raumeswelt, das durchdringt alles Werden der Raumeswelt. Es lebt nicht nur in der Sinneswahrnehmung, es lebt auch im Menschendenken, lebt da mit der Sehnsucht nach der geistigen Welt, lebt aber doch wie ausgeworfen in die menschlichen Seelen. Gleichsam als die andere Seite, das Ebenbild, aber als das in die Außenseite geworfene Ebenbild der göttlichen Sophia lebt die Begierde, die in alles hineingeworfen ist, die Welt durchdringend: Achamod. Schaust du in deine Welt, ohne dich aufzuschwingen in die geistigen Welten, so schaust du in die begierdenerfüllte Welt von Achamod.

Weit, weit zurückliegend in der Welt der Äonen, erzeugt aus der reinen Geistigkeit der Äonen heraus, dachte sich die Gnosis, was sie nannte den Sohn des Vatergottes, und auch das, was sie nannte den reinen, heiligen Geist. Wenn man hinaufgeht durch die Äonen, so begegnet man einmal einem Äon, von dem abstammt auf der einen Seite die Sohnfolge, die dann zur göttlichen Sophia hinführte, wie auf der anderen Seite die Sohnfolge, von der abstammen der Gottessohn und der heilige Geist. Dann kommen wir hinauf zum Vatergott und dem göttlichen Schweigen.

Dadurch nun, daß die menschliche Seele mit Achamod versetzt ist in die materielle Welt, dadurch lebt in ihr im Sinne der Gnosis die Sehnsucht nach der geistigen Welt, vor allem nach der göttlichen Sophia, von der sie aber durch ihr Erfülltsein mit Achamod getrennt ist. Dieses Gefühl der Trennung wird als die materielle Welt empfunden. [9]

Und abstammend von der göttlich-geistigen Welt, doch verbunden mit Achamod, erscheint der Gnosis das, was man nennen könnte, an die griechische Sprache sich anlehnend, den Weltenbaumeister, den Demiurgos. Er ist der eigentliche Durchschöpfer und Durcherhalter dessen, was von Achamod und dem Materiellen durchzogen ist. In seine Welt sind einverflochten die Menschenseelen. Das ist ein wichtiger Begriff der Gnostiker, daß Achamod, wie sie in den Menschenseelen lebt, ansichtig wurde in urferner Vergangenheit des Gotteslichtes, das ihr nur gleich wiederum entschwunden war. Aber die Erinnerung lebt jetzt in der Menschenseele, wie sehr sie auch verstrickt sein kann in die materielle Welt. [10]

Die Äonen waren diejenigen Wesen, die hervorgegangen waren aus dem Demiurg. Dann war in der Reihe dieser Äonen ein verhältnismäßig untergeordnetes Äonenwesen Jahve. Und Jahve oder Jehova verband sich mit der Materie. Und aus dieser Verbindung ging der Mensch hervor. Alles das, was sich da gewissermaßen nun erhebt – für die ältere Menschheit durchaus verständlich, für die spätere Menschheit nicht mehr verständlich –, was sich da erhebt auf der Grundlage desjenigen, was uns im Erdenleben sinnlich umgibt, das alles faßte man zusammen unter dem Ausdrucke Pleroma. Gewissermaßen auf der untersten Stufe dieser Pleroma-Welt, erscheint der durch Jahve ins Dasein gerufene Mensch. Auf der untersten Stufe dieses Pleroma ersteht eine Wesenheit, die eigentlich nicht in dem einzelnen Menschen, auch nicht etwa in einer Völkergruppe, sondern in der ganzen Menschheit lebt, die aber eine Erinnerung hat an die Abstammung vom Pleroma, vom Demiurgen, und wiederum zurückstrebt nach der Geistigkeit. Es ist das die Wesenheit Achamod. [11]

Nun gliederte sich an diese Vorstellungswelt die andere an (der christlichen Gnosis), daß der Demiurg dem Streben der Achamod entgegengekommen ist und einen sehr frühen Äon herabgeschickt hat, der sich mit dem Menschen Jesus vereinigte, damit das Streben der Achamod in Erfüllung gehen könne. So daß in dem Menschen Jesus ein Wesen aus der Äon-Entwickelung steckt, das von viel höherer geistiger Wesenheit, von höherer geistiger Art als Jahve gedacht wurde. [12] Die Gnosis kennt den Christus ebenso wie das esoterische Christentum, aber nur als eine geistige Wesenheit, und sieht höchstens in dem Jesus von Nazareth einen mehr oder weniger an diese geistige Wesenheit gebundenen menschlichen Verkünder. Sie will festhalten an dem unsichtbar bleibenden Christus. Dagegen ist das esoterische Christentum immer im Sinne des Johannes-Evangeliums gewesen, das auf dem festen Boden des Wortes stand: «Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet.» Und derjenige, der da in der sichtbaren Welt war, ist eine wirkliche Verkörperung der sechs anderen Elohim, des Logos! [13]

Die Menschen kommen auf der einen Seite nach dem Materialismus, auf der anderen Seite nach einem einseitigen Spiritualismus. So war es bei den Gnostikern; sie kamen nicht zum physischen Dasein, zum materiellen Dasein. Und wenn man nur einen solchen Menschen wie Marcion betrachtet, so sieht man: für ihn ist ein klarer, ein mehr oder weniger klarer Christus-Begriff da, aber er kann durchaus nicht erfassen, wie dieser Christus in dem Jesus enthalten war. Daher ätherisierte sich ihm der ganze Prozeß. Er brachte es dahin, den Christus noch als Geist, als ätherisches Wesen zu fassen, das zum Schein einen Leib angenommen hat. 165.204In Griechenland gab es bis ins 4. Jahrhundert hinein Philosophen, welche daran arbeiteten, die alte ätherische Astronomie mit dem Christentum in Einklang zu bringen, und daraus entstand jene wahre Gnosis, die durch das Christentum gründlich ausgerottet worden ist, so daß nur einige Fragmente von den literarischen Proben dieser Gnosis übriggeblieben sind. Die letzten Reste dieser Anschauung von dem Hereinkommen des Menschen aus höheren Welten durch die Planetensphäre in die Erdensphäre, sie durchglänzen noch die Schriften des Origenes, glänzen noch durch selbst durch die Schriften der griechischen Kirchenväter. Es glänzte namentlich durch die Schriften des wahren Dionysius des Areopagiten. [14]

Im Grunde wurzeln die christlichen Dogmen alle in der Gnosis. Nur ist das Lebendige der Gnosis abgestreift worden und die abstrakten Gedanken und die Begriffshülsen sind geblieben, so daß man in den Dogmen diesen lebendigen Ursprung nicht mehr erkennt. [15] Man hat im Alten Testament eigentlich nur Reste: diejenigen Reste, die die jüdische Überlieferung behalten hat, von einer umfangreichen Bilderweisheit, die in der alten Gnosis enthalten war, vorzugsweise im Oriente lebte, deren Strahlen aber herüberwirkten ins Abendland, und die eigentlich erst im 4. Jahrhundert für das Abendland mehr oder weniger verglommen sind, dann noch nachgewirkt haben bei den Waldensern und Katharern, aber doch verglommen sind. [16]

Bis zu einem gewissen Grade war es den Menschen möglich bis zum ägyptisch-chaldäischen Zeitraum hin, also bis in das 8. Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung, vieles mitzubringen aus der Zeit, die zwischen Tod und neuer Geburt durchlebt wurde. Was da mitgebracht wurde und in Begriffe, in Ideen gekleidet wurde, das ist die Gnosis. Das lebte dann fort im griechisch-lateinischen Zeitalter, wo es nicht mehr unmittelbar wahrgenommen wurde, wo es als ein Erbgut in Ideen noch vorhanden war, wo nur auserlesene Geister den Ursprung wußten, wie Plato, in einem geringeren Grade auch Aristoteles, Sokrates wußte auch davon; Sokrates büßte in Wirklichkeit gerade dieses Wissen mit dem Tode. Da muß man den Ursprung der Gnosis suchen. [17]

Man kann durch Raumesschemen das Gnostische ausdrücken. Der Zeitbegriff spielt keine besondere Rolle, wenigstens durchdringt man ihn nicht verständnisvoll. Und insoferne ist nun doch ein Fortschritt von der Gnosis zu Clemens von Alexandria. Wenn auch die umfassende Fülle der Geistesweisheit verloren gegangen ist, war dennoch ein Fortschritt zu Clemens, indem er den Zeitbegriff in die Entwickelung des Christus hineinbrachte und sagte: Der Christus gab sich früher, konnte sich früher kundgeben durch Angeloi, dann als Sohn, indem er selber fortgeschritten war. Entwickelung kam hinein, das ist das Bedeutsame. Man kann es nicht oft genug betonen, daß dazu die abendländische Kulturentwickelung da war, den Zeitbegriff dann in die Weltanschauung in der richtigen Weise hineinzubringen, den Entwickelungsgedanken in der richtigen Weise zu verstehen. [18]

Damit eine (solche) Sache (wie die Gnosis) vollständig verschwände, wäre schon notwendig, daß in einer gewissen Weise nach und nach auch die Fähigkeiten verschwinden, um die Sache zu verstehen, die Sache zu behalten, um sie von Generation zu Generation fortzupflanzen. Das muß aber dazumal geschehen sein. Es muß sich dazumal in einer gewissen Weise das vollzogen haben, daß die Menschen die Fähigkeit verloren haben, so etwas zu verstehen, wie es die Gnosis des Valentinus ist, wie der Inhalt der Pistis-Sophia-Schrift, wie es der Inhalt des Buches Jeu ist und so weiter. Die Menschen haben einfach nicht mehr die Fähigkeit gehabt, innerhalb der abendländischen Kultur so etwas zu verstehen. Dadurch konnte allein das, was Weisheitsgut war, verlorengehen. [19]

Zitate:

[1]  GA 204, Seite 93   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[2]  GA 165, Seite 201f   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[3]  GA 165, Seite 215   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[4]  GA 18, Seite 86f   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[5]  GA 26, Seite 212   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[6]  GA 184, Seite 140   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[7]  GA 149, Seite 17f   (Ausgabe 1960, 120 Seiten)
[8]  GA 149, Seite 18ff   (Ausgabe 1960, 120 Seiten)
[9]  GA 149, Seite 20ff   (Ausgabe 1960, 120 Seiten)
[10]  GA 149, Seite 22   (Ausgabe 1960, 120 Seiten)
[11]  GA 225, Seite 118f   (Ausgabe 1990, 192 Seiten)
[12]  GA 225, Seite 119f   (Ausgabe 1990, 192 Seiten)
[13]  GA 103, Seite 63   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[14]  GA 204, Seite 71   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[15]  GA 187, Seite 54   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[16]  GA 187, Seite 55   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[17]  GA 187, Seite 57   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[18]  GA 165, Seite 66   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[19]  GA 165, Seite 60f   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 149:  Christus und die geistige Welt. Von der Suche nach dem heiligen Gral (1913/1914)
GA 165:  Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls (1915/1916)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 187:  Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?. Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht (1918/1919)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 225:  Drei Perspektiven der Anthroposophie. Kulturphänomene, geisteswissenschaftlich betrachtet (1923)