Mysterium von Golgatha

Das, was die alten Initiierten durchgemacht haben in ihren Mysterienschulen, hat sich bei dem Christus als historische Tatsache von selber entwickelt. Daher konnten die Evangelisten die alten Einweihungsbücher benützen, nicht aber um eine Initiation des Christus zu beschreiben, sondern um eine Biographie desselben zu schreiben. – Wer davon spricht, daß das Christus-Leben irgendwie als Initiation zu erklären ist, der begeht den größten Fehler gegen den Geist des Christentums. Ein solcher würde das Christentum so auffassen, wie wenn sein Stifter nicht ein Initiierter schon gewesen, sondern erst geworden wäre, wie wenn man Initiationsvorgänge für das Christus-Leben zu beschreiben hätte. [1] Der menschliche Verstand sucht immer nach einem Maßstab, nach einem Vergleich, nach welchem die Dinge verstanden werden können. Aber etwas, was unvergleichbar ist, kann nicht verglichen werden, weil es einzigartig ist, (deshalb) wird es schwer verstanden. [2] Nur derjenige kann es verstehen, der nicht mit den Kräften des physischen Leibes Verständnis sucht, sondern der mit dem verstehen kann, was unabhängig vom physischen Leibe ist. [3] Nur wenn wir die Ideen, die Begriffe haben, die ins Übersinnliche hineinführen, können wir auch das Mysterium von Golgatha verstehen, das eben ein Ereignis ist, das mit der übersinnlichen, nicht mit der sinnlichen Welt zu tun hat. Was sich in der sinnlichen Welt zugetragen hat vom Mysterium von Golgatha, ist nur der äußere Abglanz. [4] An einem Freitag, am 3. April des Jahres 33, drei Uhr am Nachmittag fand das Mysterium von Golgatha statt. Und da fand auch statt die Geburt des Ich. Und es ist ganz gleichgültig, auf welchem Erdenpunkte der Mensch lebt, oder welchem Religionsbekenntnis er angehört, das, was durch das Mysterium von Golgatha in die Welt kam, gilt für alle Menschen. [5]

Wir sind heute in einer ganz anderen Lage, als diejenigen waren, die Zeitgenossen Christi waren oder die in den folgenden Jahrhunderten bis ins 7. Jahrhundert gelebt haben. Daß wir im 20. Jahrhundert leben, das hat zur Folge, daß, indem wir als Seele geboren werden und aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche hereintreten, wir nun wiederum Jahrhunderte vorher in der geistigen Welt etwas erleben. So wie diejenigen, die Zeitgenossen des Mysteriums von Golgatha waren, Jahrhunderte danach zum vollen Verständnisse kamen des Mysteriums von Golgatha, so erleben wir eine Art von Spiegelbild, bevor wir geboren werden, und zwar Jahrhunderte, bevor wir geboren werden. Das gilt aber nur für die heutigen Menschen. Die heutigen Menschen tragen alle, indem sie hereingeboren werden in die physische Welt, etwas mit, was wie ein Abglanz ist des Mysteriums von Golgatha, wie ein Spiegelbild desjenigen, was man Jahrhunderte nach dem Mysterium von Golgatha in der geistigen Welt erlebte. [6]

Wenn wir noch einmal den Blick zurückwenden zu den alten Mysterien, so finden wir, daß in diesen alten Mysterien der Mensch versuchte, sich zu erheben über sich selbst, um mit seiner Seele hineinzuwachsen in die geistige Welt. Aber dadurch, daß die luziferische Versuchung einmal da war, ist das nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Dann verliert man sozusagen bei diesem Aufstieg die Möglichkeit, weiter hinaufzusteigen. Man kann nichts mehr hinauftragen in die höhere Welt. Warum ist das so? Die Antwort auf diese Frage wird uns, wenn wir den tieferen Sinn der luziferischen Versuchung ins Auge fassen. Was will denn eigentlich Luzifer mit der Menschheit? Wir haben das öfter betont: die Menschheit lebt in der Maya, in dem, was nur ein Spiegel der Welt ist, nicht die wirkliche Welt. Der Mensch kann sich in diesem Spiegel einige Stufen über sich erheben bis zu dem Arché hinauf (als dem heutigen Träger seines höchsten künftigen Wesensgliedes Atma). Dann aber muß er von Luzifer übernommen werden, wenn er noch weiter ins Geistige hinauf will, dann muß er gewissermaßen Luzifer zu seinem Führer machen, der das Licht ist, das ihn weiterführen kann. Wäre es bei der luziferischen Evolution geblieben, wäre kein Christus in die Menschheitsevolution eingetreten, so würde von der Zeit an, in der das Mysterium von Golgatha hätte sein sollen – aber dann nicht gewesen wäre –, die Menschen in den Mysterien sich hoch entwickelt haben, so weit, daß ihnen die Archai offengelegen hätten. Dann aber würden sie in die luziferische Welt eingetreten sein. Dann aber würde auf der Erde alles das geblieben sein, was von höheren Göttern, wie zum Beispiel von den Exusiai, eingesetzt worden war in die Erdentwickelung als das Irdisch-Menschliche, als alles dasjenige, was auf der Erde irdisch-menschlich ist. Die Menschen hätten sich sozusagen ganz asketisch vergeistigt und würden asketisch vergeistigt, mit Zurücklassung der Leiblichkeit, in die geistige luziferische Welt eingetreten sein. Die Seelen der Menschen hätten ihre Erlösung gefunden, aber die Erde wäre zwecklos gewesen. Die Leiber hätten, den Seelen niemals den Dienst leisten können, den sie eigentlich leisten sollen. Daß das verhindert wurde, darin liegt die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha. [7]

Nun stellen wir uns einmal für einen Augenblick vor, was dann geworden wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht gekommen wäre, so wäre die Entwickelung zunächst in derselben Weise fortgegangen; das heißt, es wären in der Außenwelt immer mehr und mehr Menschen gewesen, denen aller unmittelbare Zusammenhang mit der geistigen Welt hingeschwunden wäre, und zuletzt wäre es dahin gekommen, daß die Menschen überhaupt nicht mehr geisterfüllt, sondern nur Larven, nur eigentlich organische, ätherische und dergleichen Gliederungen wären. Wir wären längst in der Zeit, in welcher die Seelen der Menschen nicht fähig wären, in Leibern wirklich zu leben, wir wären längst in der Zeit, in welcher die Seelen nur in der geistigen Welt über ihren Leibern schwebten; wir wären längst in der Zeit, in der nur mehr möglich wäre, daß weiterentwickelte Seelen aus früheren Zeiten inspirierend von oben herunter in die Menschheit hineinwirkten. Nur dadurch könnte in dem Menschen noch ein Bewußtsein von der geistigen Welt auftreten, daß einzelne in den Mysterien inspiriert würden. Der Menschengeist würde selber gar nicht auf der Erde wohnen. Mysterienstätten wären diejenigen Stätten, in denen Inspirationen eintreten würden, nur würde Ahriman immer dagegen kämpfen, würde gegen die Inspirationen kämpfen, er würde immer die Menschenlarven abhalten, im Sinne der Inspirationen zu handeln beziehungsweise er würde die Absichten, welche ihnen inspiriert würden, ins Gegenteil verkehren. Daher mußte es möglich gemacht werden, daß die menschliche Seele in dem menschlichen Leibe, der durch die Geburt entsteht und durch den Tod vergeht, wiederum, im allgemeinen, wohnen kann, weil dieser menschliche Leib in seinem Leben, das dem Tod entgegengeht, das schwächer gewordene Leben der Seele überwindet. [8]

Ohne das Mysterium von Golgatha hätte das Sibyllentum, das mit den elementarischen Kräften der Erde zusammenhängt, die im Unterbewußten der Seele wirken und in leidenschaftlicher Art sich herausdrängen, über die bewußten Ich-Kräfte gesiegt, hätte die Ich-Kräfte zurückgedrängt. Das Ich wäre der Menschheitsentwickelung verloren gegangen. Als Kraft sehen wir den Christus-Impuls in dem Menschheitsgang wirken, auch ohne daß das menschliche Bewußtsein ihn aufgenommen hat. [9]

Ebenso wie das Leben dem menschlichen Wissen unzugänglich ist, so ist dies der Fall mit dem Tod dem wahren Wissen gegenüber, welches in den übersinnlichen Welten erlangt wird. In dem ganzen Gebiet der übersinnlichen Welten gibt es keinen Tod. Man kann nur auf Erden sterben, in der physischen Welt oder in den Welten, welche in der Entwickelung unserer Erde gleichen, und alle die Wesenheiten, die hierarchisch höher stehen als der Mensch, haben keine Kenntnis vom Tode, sie kennen nur verschiedene Bewußtseinszustände. Ihr Bewußtsein kann zeitweise so herabgesetzt sein, daß es unserem irdischen Schlafzustand ähnlich ist, aber es kann aus diesem Schlaf wieder aufwachen. Es gibt keinen Tod in der geistigen Welt, es gibt dort nur Bewußtseinsänderungen, und die größte Furcht, die der Mensch hat, die Todesfurcht, kann von einem, der nach dem Tode zu den übersinnlichen Welten aufgestiegen ist, nicht empfunden werden. Es gibt daher keinen Tod für die Wesen, die zu den höheren Hierarchien gehören, mit nur einer einzigen Ausnahme, der des Christus. Aber damit eine übersinnliche Wesenheit wie der Christus durch den Tod gehen konnte, mußte er erst auf die Erde herabsteigen. Und das ist es, was von so unermeßlicher Wichtigkeit in dem Mysterium von Golgatha ist, daß eine Wesenheit, die in ihrem eigenen Reiche in der Sphäre ihres Willens niemals den Tod hätte erfahren können, hat hinuntersteigen müssen auf die Erde, um eine Erfahrung durchzumachen, die dem Menschen eigen ist, nämlich um den Tod zu erfahren. Es vereinigte sich ein Wesen, einzig in seiner Art, welches bis dahin nur kosmisch war, durch das Mysterium von Golgatha, durch den Tod des Christus, mit der Erdenevolution. Seitdem lebt es auf eine solche Weise auf Erden, ist so an die Erde gebunden, daß es in den Seelen der Menschen auf Erden lebt und mit ihnen das Leben auf Erden erfährt. Daher war die ganze Zeit vor dem Mysterium von Golgatha nur eine Zeit der Vorbereitung in der Evolution der Erde. Das Mysterium von Golgatha gab der Erde ihren Sinn. Als das Mysterium von Golgatha stattfand, wurde der irdische Körper des Jesus von Nazareth den Elementen der Erde übergeben, und von der Zeit an war der Christus verbunden mit der geistigen Sphäre der Erde und lebt darin. [10]

Es ist also das, was durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, eine Götterangelegenheit, durch die ein Ausgleich geschaffen worden ist für eine Luziferangelegenheit. Es ist die einzige Götterangelegenheit, die sich vor den Augen der Menschen abgespielt hat. [11]

Die Auferstehung (Christi) müssen wir tatsächlich auffassen als das Historischwerden der Auferweckung in den heiligen Mysterien zu allen Zeiten – nur mit dem Unterschiede, daß wir sagen müssen: Der, welcher die einzelnen Mysterienschüler auferweckt hat, war in den Mysterien der Hierophant (der Vater der Mysterien); in den Evangelien wird aber darauf hingewiesen, wie der, der den Christus auferweckt hat, die Wesenheit ist, die wir mit dem Vater bezeichnen, daß der Vater selber den Christus auferweckt hat. Wir werden damit auch darauf hingewiesen, daß das, was sich sonst in einem kleineren Maßstabe in den Tiefen der Mysterien zugetragen hat, von den göttlichen Geistern hingestellt worden ist für die Menschheit einmal auf Golgatha, und daß die Wesenheit, die als der Vater bezeichnet wird, selber als Hierophant aufgetreten ist zur Erweckung des Christus Jesus. [12]

Was aber durch das Mysterium von Golgatha selber den Menschen bewußt werden konnte, war noch sehr weniges. Wir sind ja heute mit unserer Geisteswissenschaft im Grunde genommen selbst auch erst am Anfange, dasjenige zu verstehen, was mit dem Mysterium von Golgatha in die Menschheits-entwickelung eingeflossen ist. [13]

So wie in der Gegend des menschlichen Herzens ein fortwährendes Verwandeln des Blutes in Äthersubstanz stattfindet, so findet ein ähnlicher Vorgang im Makrokosmos statt. Indem das Blut des Jesus Christus ausfloß und hineinströmte in die Erde, ist unserer Erde eine Substanz gegeben worden, die im Verlaufe der Erdenevolution einen Ätherisierungsprozeß durchmacht. Der Ätherleib der Erde ist durchsetzt von dem, was aus dem Blute geworden ist. Seit dem Mysterium von Golgatha ist eine fortwährende Möglichkeit vorhanden, daß diesen Strömungen (im Menschen) von unten nach oben die Wirkung des ätherischen Blutes des Christus mitströmt. Aber eine Verbindung dieser beiden Strömungen kommt nur zustande, wenn der Mensch das richtige Verständnis entgegenbringt dem, was im Christus-Impuls enthalten ist, sonst stoßen sich die beiden Strömungen gegenseitig ab. [14]

Eine Zeit wird kommen, wo derjenige, der Anhänger der chinesischen, der buddhistischen, der brahmanischen Religion ist, es ebensowenig gegen seine Religion finden wird, das Mysterium von Golgatha anzunehmen, wie er es gegen seine Religion findet, anzunehmen das Kopernikanische Weltensystem. Und es wird angesehen werden als eine Art von religiösem Egoismus, wenn man sich in den außerchristlichen Religionen wehren wird, diese Tatsache anzunehmen. Die Tatsache, die eben jetzt vom Mysterium von Golgatha geltend gemacht worden ist, hat mit irgendeinem konfessionellen Christus nichts zu tun, sondern ist eine objektive okkulte Tatsache. Wie niemand verbieten kann, die Kopernikanische Weltanschauung zu lehren, weil sie nicht in den alten indischen Religionsbüchern steht, so kann auch niemand verwehren, die Tatsache von dem Mysterium von Golgatha zu lehren aus dem Grunde, weil es nicht in den Religionsbüchern der alten Inder enthalten ist. [15]

Zitate:

[1]  GA 137, Seite 158   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[2]  GA 152, Seite 33   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[3]  GA 169, Seite 138   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)
[4]  GA 198, Seite 243   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[5]  GA 143, Seite 163   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[6]  GA 182, Seite 175   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[7]  GA 172, Seite 206f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[8]  GA 176, Seite 287f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[9]  GA 152, Seite 97   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[10]  GA 152, Seite 39f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[11]  GA 143, Seite 191   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[12]  GA 131, Seite 141   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[13]  GA 162, Seite 209   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[14]  GA 130, Seite 92f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[15]  GA 140, Seite 22f   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)

Quellen:

GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 137:  Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (1912)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)