Maya

Maya ist das große Nichtsein. Denn (das Sanskritwort) Maya ist zusammengesetzt aus mahat aya – mahat = groß, ya = sein, a = nicht, also aya das Nichtsein – heißt das große Nichtsein. Auf dem Wege der okkulten Entwickelung kommt der Mensch dazu, daß er sich mit etwas vergleicht wie dem Regenbogen. Der Mensch ist nur ein Scheingebilde. Und Scheingebilde ist alles, was an die physischen Sinne herantritt. Auch die Sonne als physischer Weltenkörper ist ein Scheinbild. Was die physische Wissenschaft als Gasball im Weltenraume beschreibt, das ist für die praktischen Zwecke ganz gut. Aber wer es als Wirklichkeit nimmt, der gibt sich der Maya, der Täuschung, dem großen Nichtsein hin. Was wahr ist, das ist, daß dort ein Sammelplatz für geistige Hierarchien ist, deren Taten sich ausdrücken in der Wärme und dem Licht, und die uns in Wärme und Licht zufließen von der Sonne. Was wir als Wärme und Licht wahrnehmen, das ist Schein. Aber so ist alles Schein. Da glaubt der Mensch, er habe ein Herz in der Brust. Aber das Herz ist nur ein Scheingebilde, nicht mehr. Das ist so ähnlich, wie wenn wir im Herbstnebel abends auf die Straßen gehen und sehen gewisse Ringe um die Laternen herum; aber diese Ringe sind auch nichts Wirkliches, sondern bewirkt durch ganz bestimmte Kräfte. So ist auch das menschliche Herz bewirkt durch ganz bestimmte Kräfte. Das können Sie sich etwa in folgender Weise vorstellen. Schnittkräfte Nehmen Sie an, der Kreis stelle dar das Himmelsgewölbe; dann strömt von der einen Seite in uns herein eine Art von Kräften, und von der andern Seite kommen andere Kräfte herein: diese Kräfte schneiden sich. In Wahrheit ist im Menschen da nichts vorhanden, wo er sein Herz glaubt, als Kräfte, die vom Himmel hereinströmen und sich schneiden. Denken Sie sich alles übrige hinaus, und nur Kräfte, die so zusammenkommen, wie es beim Regenbogen ist: und das Resultat ist das menschliche Herz. So ist es mit den übrigen Organen auch: es sind Schnittkräfte, die entstehen durch das Sichschneiden der betreffenden Weltenkräfte.

Wenn Sie von einer Stelle bis zu einer anderen gehen, und Sie sagen: In mir sind die Impulse, daß ich von hier bis dorthin gehe – dann sagen Sie etwas, was in dieser Weise der Maya angehört. Warum? Weil vom Makrokosmos Kräfte kommen, die sich hier unten schneiden und durch den Schnitt hervorrufen ein Scheingebilde (auch) in bezug auf die Richtung und die Kräfte des Gehens. Was hier unten aufeinander gefolgt ist, das ist (auch) nur ein Schnitt der kosmischen Kräfte. Und wenn wir das Wahre wissen wollen, so müssen wir fragen: Was geschieht im Makrokosmos? [1]

Der heutige Mensch in seiner Bewußtseinstäuschung glaubt, daß seine Seele an seinen Leib gebunden ist; der alte Mensch (im Altertum) glaubte, daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie an die äußere Natur gebunden seien, die er mit seinen Sinnen wahrnahm. Damals vermischte er göttliche Wesenheiten, die Wesen der dritten Hierarchie, mit Naturerscheinungen, und er sah sie durch Naturerscheinungen ausgedrückt. Er hatte ja keine Naturwissenschaft, wie wir heute, sondern er betrachtete die Naturerscheinungen als bewirkt von diesem oder jenem Dämon, mehr oder weniger geistig-göttlichen Wesenheiten, über die er sich einer Lebenstäuschung hingab. Der heutige Mensch versetzt seine Seele in Fleisch und Blut, der alte Mensch die Wesenheiten der dritten Hierarchie in die äußere Natur hinein. [2] Vor dem Mysterium von Golgatha war dasjenige, was als menschliche Täuschung bezeichnet werden kann, Lebenstäuschung; nach dem Mysterium von Golgatha ist es Bewußtseinstäuschung. Die Götter der alten Mythologien sind durchwegs Dämonen. Das beruhte darauf, daß die Lebenstäuschung da war, daß der Mensch gewissermaßen eine Art falsche Naturordnung als göttliche Ordnung denken mußte, wie er heute eine falsche Leibesordnung als Menschheitsordnung denken muß. [3]

Nicht die Welt als solche, die auf unsere Sinne einwirkt, die wir erfassen mit unserem Verstande, ist eine Maya; diese Welt ist in dem innersten Wesen wahrhaftige Wirklichkeit. Aber die Art, wie sie der Mensch anschaut, wie sie dem Menschen erscheint, das macht die Welt zur Maya, das macht sie zur großen Täuschung. Und wenn wir durch unsere innere Seelenarbeit dahin kommen, zu dem, was uns die Sinne zeigen, zu dem, was uns unser Verstand sagt, die eigentlich tieferen Grundlagen zu finden, dann werden wir bald einsehen, inwiefern die äußere Welt als eine Täuschung aufgefaßt werden kann. Denn dann erscheint sie uns in ihrem wahren Lichte, erscheint sie uns in der Wahrheit, wenn wir sie überall zu ergänzen, zu durchdringen wissen mit dem, was uns gegenüber der ersten Betrachtung, die wir der Welt zuwenden, verborgen sein muß. [4]

Das Zusammensein mit Menschen (im Heranwachsen) ist der Grund, warum wir in naiver Weise nicht die geistige Welt, die hinter Pflanzen und Mineralien ist, wahrnehmen. Die Menschen stellen sich vor diese Welt. Denken Sie: um den Preis, die hierarchische Götterwelt nicht wahrzunehmen, erobern wir uns dasjenige, was uns durch unser Zusammenleben mit anderen Menschen auf der physischen Erde wird. [5] Die alten Götter sind hingeschwunden hinter die Oberfläche der äußeren Sinnesdinge. Die Welt ist leer geworden von den Göttern, und weil sie als götterleere Welt erscheint, ist sie Maya, ist sie eine große Illusion. Nicht von Anfang an hat man davon gesprochen, daß die Welt diese große Illusion sei, sondern weil die Welt götterleer geworden ist. [6]

Wir haben also geistige Wesenheiten sozusagen, die hinter dem Rot und Blau, hinter dem Ton, hinter dem äußeren Geruch und so weiter sind, die draußen in der Welt leben, die uns umgeben, und die wie durch einen Schleier verhüllt werden durch das, was wir sehen und hören und durch den Verstand begreifen. Wir haben aber auch solche Wesenheiten, die hinter dem liegen, was wir Seelen- und Gemütsleben nennen. Da ist nun die Frage berechtigt: wie verhalten sich diese zwei geistigen Reiche zueinander? [7]

Woher kommt die Fähigkeit, daß wir irgend etwas Äußerliches wahrnehmen, irgend etwas schauen oder sehen, daß der Mensch zum Schauen angeregt wird? Von dem, was physisch oder geistig in der Sonne vorhanden ist. Fragen Sie aber: Woher kommen die Gründe des inneren Erlebens, die Gründe des Denkens, die Gründe des Fühlens, die Gründe zum Beispiel für das Gewissen und so weiter? Dann müssen Sie dankbar hinaufblicken zum Mond und sich sagen: Dank den Wesenheiten, die hinweggenommen haben seine Substanzen aus der Erdensubstanz. Die Mondensubstanzen in der Erde hätten die innere Regsamkeit des Seelenlebens verhindert. [8]

Die Wesenheiten, die hinter unseren seelischen Erscheinungen stehen, einem Reiche angehören, das übergeordnet ist dem geistigen Reiche, welches hinter der äußeren Maya steht. Eine zweifache Maya haben wir: die äußere Maya der Sinnenwelt und die innere Maya des Seelenlebens. Hinter der ersten Maya stehen diejenigen geistigen Wesenheiten, die ihren Mittelpunkt in der Sonne haben, hinter der Maya unseres Innenlebens stehen die anderen, die einem mächtigeren, einem umfassenderen Reich angehören. [9]

Wäre die Menschheitsentwickelung bis zur Mitte der atlantischen Zeit ohne den Einfluß von Luzifer gegangen, dann hätte der Mensch bis dahin ein in hohem Grade hellseherisches Bilderbewußtsein entwickelt. In seiner Seele wäre etwas gewesen, was durch seine Kraft ihm die Außenwelt in inneren Bildern geoffenbart hätte; nicht durch sein Auge hätte er da die äußeren Gegenstände wahrgenommen. Durch den luziferischen Einfluß hat nun der Mensch die physische Welt früher gesehen, aber nicht richtig, sondern wie durch einen Schleier sieht er die Außenwelt. Vorgesehen war von den göttlich-geistigen Wesenheiten für ihn die Entwickelung so, daß an Stelle der bei dumpfem hellseherischem Bewußtsein im Bilde wahrgenommenen Innenwelt die Außenwelt wahrgenommen hätte, aber so, daß hinter jedem Sinnlichen ein Geistiges sich befindet. Den realen Geist hinter der physischen Welt hätte er gesehen. (So) mit einem Schlage wäre, ohne Luzifer, dem Menschen zu einer gewissen Zeit die Außenwelt erschienen; er wäre erwacht. Die Innenwelt wäre plötzlich verschwunden gewesen, aber das Bewußtsein vom Geiste, aus dem sie stammt, wäre geblieben. Weil nun die luziferischen Wesenheiten den Menschen zu früh auf die Erde heruntergezogen haben, ist die Außenwelt dem Menschen so geworden, daß ihm die Welt des Geistes dahinter zugedeckt ist, und er das Physische undurchsichtig sieht, sonst würde er durch die Außenwelt hindurch den geistigen Urgrund der Welt sehen. Weil der Mensch zu früh in die Materie hinunterkam, wurde diese Materie für ihn zu dicht. Er konnte sie nicht mehr durchdringen. Aber andere, zurückgebliebene geistige Wesenheiten, konnten sich von der Mitte der atlantischen Zeit an in diese Materie mischen, so daß sie wie von Rauch durchzogen wurde, getrübt wurde, und der Mensch das Geistige nicht mehr schauen konnte. Ahriman ist der Geist, der die Materie wie einen Schleier über das Geistige breitet und das Erkennen der geistigen Welt unmöglich macht. Und diese beiden Geister (also Luzifer und Ahriman) halten den Menschen in seiner Entwickelung zur Spiritualität zurück. [10] Im Inneren des Menschen führt Luzifer zur Illusion und Ahriman mischt sich in die äußeren Wahrnehmungen und führt dort zur Maya. [11]

Der Anblick eines Steinkolosses, auf dem Wasserozeane sind und der von Luft umgeben ist, das ist nicht die Erde, und was uns umgibt als Milchstrasse und Sonnen, das ist nicht das Weltenall. Das Weltenall sind unten ahrimanische, oben luziferische Wesenheiten, die durch den äußeren Sinnenschein erscheinen, und Wesenheiten der normalen Hierarchien, zu denen sich der Mensch aufschwingt, wenn er durch beide Sinnenscheine hindurch auf die Wahrheit kommt; denn die eigentlichen Wesenheiten erscheinen nicht im äußeren Sinnenschein, sie offenbaren sich nur durch diesen äußeren Sinnenschein hindurch. Bin ich in der Lage, mir zu deuten, was mir auf der Erde unten erscheint als Ausfluß von geistigen Wesenheiten, dann nehme ich dasjenige wahr, was in Cherubimen, Seraphimen, Thronen lebt. Bin ich aber nicht imstande, mir dasjenige, was auf der Erde lebt, geistig vorzustellen, gebe ich mich der Illusion dessen hin, was von der Erde mir sinnlich erscheint, dann bleibe ich Geologe, dann verahrimanisiert mein Wesen. Und blicke ich hinauf zu den Sternenwelten und bilde mir nur Vorstellungen über dasjenige, was ich sinnlich schaue, dann verluziferisiere ich. Bin ich imstande, durch das, was mir im äußeren Schein erscheint, das Geistige zu deuten, bin ich imstande mir zu sagen: Ja, mir erscheinen Sterne, mir erscheint eine Milchstraße, mir erscheinen Sonnen, sie künden mir an Kyriotetes, Dynamis, Exusiai, dann finde ich das Äquilibrium. Es handelt sich nicht darum, daß wir von kosmischen Wesenheiten reden als etwas Besserem, als die irdischen Wesenheiten sind, sondern es handelt sich darum, daß wir überall durch den Sinnenschein durchdringen zu der wahrhaften Wesenhaftigkeit, mit der wir als Menschen eigentlich zusammenhängen. Der Sinnenschein als solcher trügt uns nicht. Wenn wir den Sinnenschein in der richtigen Weise uns deuten, dann sind die geistigen Wesenheiten da, dann haben wir sie. Der Sinnenschein als solcher ist nicht trügerisch, nur unsere Anschauung vom Sinnenschein kann trügerisch sein – durch unsere zu starke Verwandtschaft mit dem Irdischen zwischen Geburt und Tod auf der einen Seite, durch unsere zu starke Verwandtschaft auf der anderen Seite mit dem Außerirdischen, während wir es durchschreiten zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. [12]

Die äußere Welt der Sinne erscheint in der Maya, denn die Menschen sehen nicht, daß überall, wo sie von den äußeren Dingen und Wesenheiten zum Genuß erregt werden, Ahriman hervorguckt und den Genuß in der Seele hervorruft. So begleitet einen der Ahriman, wenn man eine gewisse Entwickelung durchgemacht hat in seinem astralischen Leib und Selbst, auf Schritt und Tritt. Wenn man anfängt ihn zu schauen, dann kann man sich vor ihm schützen, dann sieht man, daß er aus den Verlockungen des Genusses und aus den Eindrücken der Furcht hervorlugt. Wegen der Unreife der Menschen mußte dieser Ahriman verborgen werden, das heißt es wurde über sein Wesen ein Schleier gebreitet die Außenwelt wurde dem Menschen in Maya getaucht, indem ihm vorgegaukelt wird, daß statt dem Ahriman, der überall hervorlugt, Materie draußen sei in der Welt. Überall an der Stelle, wo der Mensch Materie hinträumt, da ist in Wahrheit Ahriman. [13]

(Auch) das gehört zum Maya-Sein, zu der Täuschung, daß die Dinge vorübergehen; in Wirklichkeit sind sie dauernd, in Wirklichkeit bestehen sie. Und schon, wenn man richtig das Dasein versteht, findet man hinter dem eigentlich Vergangenen das Dauernde. [14] (Siehe: Region der Dauer). Es ist immer ein gewaltiges Mißverständnis, wenn man die bloße Mystik zur Esoterik umdeutet. Das Esoterische ist immer ein Erkennen von Tatsachen, die sich in der geistigen Welt als solche abspielen, die hinter dem Schleier des Sinnlichen stehen. Und hinter dem Schleier der Sinnlichkeit steht die Ausgleichung zwischen der Götterwelt und der ahrimanischen Welt, wie sie sich abspielt durch den Kreuzestod des ChristusJesus. [15]

Zitate:

[1]  GA 124, Seite 86f   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[2]  GA 184, Seite 36f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[3]  GA 184, Seite 40   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[4]  GA 161, Seite 65f   (Ausgabe 1980, 292 Seiten)
[5]  GA 186, Seite 304   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[6]  GA 209, Seite 138   (Ausgabe 1982, 200 Seiten)
[7]  GA 113, Seite 59   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[8]  GA 113, Seite 63   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[9]  GA 113, Seite 66f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[10]  GA 109, Seite 239f   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[11]  GA 110, Seite 112   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[12]  GA 203, Seite 141f   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[13]  GA 145, Seite 160f   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[14]  GA 162, Seite 252   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[15]  GA 211, Seite 119   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)

Quellen:

GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 161:  Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (1915)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)
GA 209:  Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. Das Fest der Erscheinung Christi (1921)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)