Esoterik

Esoterik besteht ja nicht in der Erwerbung von gewissen Kenntnissen, die anderen vorenthalten werden, sondern in fortschreitender innerer Arbeit an den Seelenkräften, an dem Geisteskeim, der auf dem Grunde der Seele der Erweckung harrt. Auf diesem Wege gelangt der Mensch vom Wissen von der Welt des Scheins zur Erkenntnis seiner selbst zunächst als Schein des Geistes in dem Reich des Scheines und weiter zum bewußten Erleben als Wesen unter Wesen im Lichte des Seins. Immer deutlicher sieht er, wo die Maya, «das große Nicht-Sein» aufhört und die Geistwirklichkeit beginnt. Je mehr er durch den Sinnesschein durchschaut, desto tiefer durchschaut er die wahren Ursachen der Schwierigkeiten des Lebens, des einzelnen sowie der Menschheit. Er findet seine Unzulänglichkeit, sein Versagen und die Geister die sich der Entwicklung hemmend entgegenstellen. Das bloße Wissen, wie es der Verstand vermittelt, kann keinen Halt geben, es verweht im Lebenssturm. Halt verleiht erst die erlebte Gewißheit, als Geistwesen von den helfenden Hierarchien aufgenommen und hineingenommen zu sein in ihr weisheitsvolles Wirken. Indem der Mensch in rechter Weise sich selbst findet, wird er aber ein anderer, verbindet sich bewußt mit anderen Wesen als denen, die ihn vorher leiteten, ohne daß er es merkte. Er schreitet dann nicht nur sicher durch das Leben, er zertritt auch nichts dabei. Den durch die Esoterik Gewandelten erkennt man daran, daß alles um ihn blüht und erkraftet. [1]

Diejenigen Regeln, die in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gegeben sind, entstammen uralten Traditionen, und aus dem Grunde, weil es heute notwendig ist gegenüber den Dingen, die von allen Seiten an die Menschen herandringen, weil es notwendig ist gegenüber diesen Anweisungen, einmal ein Bild von der Wahrheit zu geben, deshalb haben die Meister der Weisheit die Erlaubnis gegeben zur Veröffentlichung solcher Regeln. Es gibt nur die Möglichkeit, einzelnes weniges zu veröffentlichen; das übrige mußte ausgeschlossen bleiben. Was Sie in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» finden, hat zum Unterschied von vielem anderen die Eigenschaft, unschädlich zu sein. Nur solche Dinge sind mitgeteilt worden, welche – auch wenn sie nicht mit Geduld und Standhaftigkeit durchgeführt werden – dem Menschen keinen Schaden bringen. Auch wenn sie nicht mit Standhaftigkeit durchgeführt sind, können sie nicht schaden. Niemand kann Schaden durch sie erleiden. [2]

Im Laufe der Jahre ist in unseren esoterischen Betrachtungen und eigentlich auch in allem demjenigen, was außerhalb mitgeteilt wurde, alles gesagt worden, was für eine fortschreitende esoterische Entwicklung notwendig ist. Es hängt nur von einem jeden von uns ab, ob er die nötige Geduld, die nötige Aufmerksamkeit und die nötige Ausdauer hat, um zu dem Ziel, dem Aufstieg in die geistige Welt zu gelangen. Was wir insbesondere brauchen für unsere esoterische Entwicklung, das ist Geduld; Geduld, immer wieder unsere Seele ganz leer zu machen, damit wir so die intensiveren Erlebnisse, die sich auf dem tiefen Grunde unserer Seele abspielen, auffangen können. Wenn wir nur genügend achtgeben, werden wir bemerken, wie unser Seelenleben sich allmählich wandelt. Wir werden zum Beispiel bemerken, daß wir nicht länger mehr einfach in Begriffen denken, sondern daß es so wird, daß wir tatsächlich dasjenige sind, was wir denken. An Stelle des «Erkennens» kommt das «Erleben». [3]

Dasjenige, was der äußeren Welt oder einem äußeren Buche anvertraut wird, kann nur ein schwacher Abglanz einer eigentlichen esoterischen Unterweisung sein. In dem Augenblicke, wo irgendeine Lehre überhaupt durch ein Buch, oder öffentlich, mitgeteilt wird, ist sie nicht mehr esoterisch; da ist sie exoterisch geworden, denn die eigentümliche Schattierung durch das Gemüt, die Schattierung durch die feineren Seelenkräfte, der ganze spirituelle Hauch, welcher durchströmen muß, durchwärmen muß dasjenige, was die Esoterik in sich schließt, das alles muß heraus­geschwunden sein aus dem bloß durch ein Buch Mitgeteilten.

Eines ist allerdings möglich: es kann derjenige, dessen schlummernde Fähigkeiten leicht erweckt werden können, und der den Willen und die Neigung hat, nicht nur zwischen den Zeilen eines Buches zu lesen, sondern an den Worten gleichsam zu saugen, der kann das, was als Esoterik einem exoterischen Buche zugrunde liegt, aus diesem Buche heraussaugen. Man kann unter Umständen bis zu einem hohen Grad in die esoterischen Lehren hineinkommen, ohne daß man unmittelbaren persönlichen Unterricht erhält. Aber das ändert nichts daran, daß ein gewaltiger Unterschied ist zwischen allem Esoterischen und Exoterischen. Die christlichen Gnostiker der ersten Jahrhunderte erzählen, wie in den Worten des Origenes, des Clemens von Alexandria, wenn sie zu ihren intimen Schülern sprachen, das unmittelbare Seelenfeuer, die unmittelbare spirituelle Kraft wirkte, und wie diese Worte dann ein ganz anderes Leben hatten, als wenn sie vor einer großen Gemeinde gesprochen wurden. Diejenigen, die den intimen Unterricht dieser großen christlichen Lehrer genossen haben, wissen davon zu erzählen, wie ihre ganze Seele verwandelt worden ist. [4]

Eine esoterische Lehre kann überhaupt nicht öffentlich verkündigt werden. [5] (Denn) nicht darauf kommt es an, was verkündigt wird, sondern darauf, wie es verkündigt wird: daß es verkündigt wird als unmittelbares Leben. Im wahren Theosophen leben nicht Worte und nicht Begriffe, in ihm lebt der Geist. Und der Geist hat nicht Worte und nicht Begriffe, der hat unmittelbares Leben. [6] Darin besteht eben das esoterische Leben zu einem großen Teile, daß der Schüler lernt, die subtilen Vorgänge in sich selbst und in seiner Umgebung richtig zu deuten. [7] Es ist heute die Zeit vorüber, die in alten Zeiten bezüglich der Geistesforschung da war, wo man so sehr zurückgehalten hat dasjenige, was Seelenentwickelung bewirkt hat. Es war in alter Zeit streng verboten, das Verborgene mitzuteilen. (Auch heute:) wer bloß als Schüler diese Dinge bekommen hat von einem andern Lehrer, der wird unter allen Umständen nicht gut tun, die Dinge weiterzugeben! Es ist heute nur ratsam, dasjenige weiterzugeben, worauf man selber gekommen ist, was man selber erforscht hat. Das aber kann und muß der übrigen Menschheit dienen. [8]

Niemanden teilte man in den alten Zeiten, in denen das Wissen durch Mysterien mitgeteilt worden ist, irgend etwas mit, was in Betracht kam an Wissen, der nicht durch entsprechende moralische Zucht strengster Art gegangen war; vor allen Dingen der Erziehung zum moralischen Mut. In diesen alten Zeiten war die Überzeugung, daß man das Wissen in seiner Wirkung nur angewendet haben wollte von Leuten, die durch die strengste moralische Zucht gegangen waren. Die anderen sollten nur instinktiv handeln, unter der Anleitung derjenigen, welche durch moralische Zucht gegangen sind. Die neuere Zeit taugt nicht dazu, einen solchen Grundsatz ohne weiteres anzuwenden. Heute gilt Öffentlichkeit. An die Stelle dieses alten Grundsatzes, nur den Menschen mit moralischer Zucht zum Wissen kommen zu lassen, muß der treten, daß das Wissen selber, das mitgeteilt wird, eine gewisse Kraft in sich habe, nämlich die Kraft, durch sich selber das Gute hervorzubringen. Die Welt braucht schon eine Weisheit, welche, indem sie Weisheit ist, zugleich das Gute bewirkt. Denn die materialistische Wissenschaft ist gleichgültig gegenüber Gut und Böse. Sie braucht das, was sie in die Materie hineinformt, ebensogut zum Bösen wie zum Guten; sie dient dem Bösen ganz gleich wie dem Guten. [9]

Es ist immer ein gewaltiges Mißverständnis, wenn man die bloße Mystik zur Esoterik umdeutet. Das Esoterische ist immer ein Erkennen von Tatsachen, die sich in der geistigen Welt als solche abspielen, die hinter dem Schleier der Sinnlichkeit stehen. Und hinter dem Schleier der Sinnlichkeit steht die Ausgleichung zwischen der Götterwelt und der ahrimanischen Welt, wie sie sich abspielt durch den Kreuzestod des ChristusJesus. Nur in einer Welt – so konnte Paulus empfinden –, in welcher ergriffen wird die menschliche Wesenheit von den ahrimanischen Mächten, kann der Irrtum eintreten, der zum Kreuzestod hat führen können. Und jetzt, als er das begriffen hatte, erkannte er eben erst die Wahrheit des esoterischen Christentums. [10]

Für denjenigen, der eine christliche Einweihung oder eine rosenkreuzerische Einweihung erlangt – übrigens auch für den, der überhaupt die Einweihung erlangt –, stellt sich eine ganz besondere Erscheinung heraus. Für ihn erlangen die Dinge, die da vorgehen, eine doppelte Bedeutung: die eine, welche sich außen abspielt in der physischen Welt, die andere, durch welche die Dinge, die sich in der physischen Welt abspielen, Fingerzeige sind für große, umfassende geistige Geschehnisse. [11]

Das Allergrundsätzlichste der spirituellen Weisheit (ist): daß oftmals die äußeren Ereignisse geradezu in paradoxer Weise der inneren Wahrheit der Vorgänge widersprechen. (Daher) kommt es gar nicht darauf an, ob da oder dort in der Welt die äußeren Ereignisse der inneren Wahrheit der Vorgänge widersprechen; (sondern) darauf kommt es an, daß man auch einsehe, welches die inneren Vorgänge, die eigentlichen geistigen Wirklichkeiten sind. [12]

Geisteswissenschaft bedeutet nicht bloß die Aneignung eines Wissens, Geisteswissenschaft bedeutet eine Erziehung im eminentesten Maße, eine Selbsterziehung unserer Seele. Wir machen uns zu etwas anderem, die Interessen werden andere, die Aufmerksamkeiten, die der Mensch für das oder jenes entwickelt nach einigen Jahren, wenn er in die Geisteswissenschaft eingedrungen ist, sie werden anders. Was ihn früher interessiert hat, interessiert ihn nicht mehr; was ihn früher nicht interessiert hat, beginnt ihn im höchsten Maße zu interessieren. Man darf nicht bloß sagen: Derjenige erst erhält ein Verhältnis zur geistigen Welt, welcher eine esoterische Entwickelung durchgemacht hat. Diese Esoterik beginnt nicht erst mit einer okkulten Entwickelung. (Denn) in dem Augenblicke, wo wir uns mit irgendeiner geisteswissenschaftlichen Vereinigung verbinden und mit unserem ganzen Herzen dabei sind und fühlen, was in den Lehren der Geisteswissenschaft liegt, da beginnt schon die Esoterik, da beginnt schon unsere Seele sich umzuwandeln. [13]

Von ganz anderen Seelenzuständen (siehe: Atavismus) wissen allerdings gewisse Bruderschaften der neueren Zeit, allein sie halten diese Dinge unter Schloß und Riegel. Es ist auch von einem gewissen Grade an etwas Gefährliches, von diesen Dingen zu reden. Aber bis zu einem gewissen Grade soll nicht nur, sondern muß heute über diese Dinge gesprochen werden, weil die Kenntnis alter Bewußtseinszustände der Menschheit eben orientierend ist für dasjenige, was sich als Neues entwickeln soll. Haben wir in uns die Gedanken von dem, was einmal da war, so kann uns das dienen, um die notwendigen, allerdings ganz andersartigen neueren Entwickelungszustände zu fördern (denn das Zukünftige ist immer eine Metamorphose des Vergangenen). [14]

Bei gewissen okkulten oder okkultismusähnlichen Vereinigungen mystischen oder maurerischen Charakters des Westens sehen wir überall, wie eine gewisse Abneigung besteht, aus den unmittelbaren, gegenwärtigen Eigenschaften der Menschen heraus in die geistigen Welten aufzusteigen, und viel mehr die Neigung, die normalen Eigenschaften der Menschheit der Gegenwart dazu zu verwenden, sie mehr in den Dienst der sinnenfälligen Utilität, der Nützlichkeit zu stellen. Dagegen tritt das Bestreben auf, das Geistige, das man nicht unmittelbar suchen will, auf andere Weise zu befriedigen. Das heißt, man kommt dazu, das Geistige da aufzugreifen, wo es noch vorhanden ist in alter atavistischer Form, es da hervorzuholen.

Immer reger wird der Trieb werden, zu dem, was man auf medialem Wege (siehe: Mediumismus) für die Nützlichkeit erringt, durch allerlei okkulte Verbrüderungen auch das andere hinzugesellen, was man uralte Weisheit nennt, die einstmals atavistisch in die Menschheit eingezogen ist, oder was gewisse, auf früherer Entwickelungsstufe zurückgebliebene Völker sich bewahrt haben aus früheren Zeiten. [15]

Zitate:

[1]  Stra, Seite 177   (Ausgabe 1947, 0 Seiten)
[2]  GA 53, Seite 198   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[3]  GA 266/3, Seite 60   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[4]  GA 52, Seite 407f   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[5]  GA 52, Seite 414   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[6]  GA 52, Seite 420   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[7]  GA 266/1, Seite 295   (Ausgabe 1995, 622 Seiten)
[8]  GA 178, Seite 39   (Ausgabe 1980, 248 Seiten)
[9]  GA 171, Seite 86f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[10]  GA 211, Seite 119f   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[11]  GA 103, Seite 184   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[12]  GA 185, Seite 185   (Ausgabe 1982, 254 Seiten)
[13]  GA 136, Seite 19   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[14]  GA 180, Seite 154f   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[15]  GA 171, Seite 267   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)

Quellen:

GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 136:  Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen (1912)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 178:  Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (1917)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 185:  Geschichtliche Symptomatologie (1918)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 266/1:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I (1904-1909)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)
Stra:  Alexander Strakosch: Lebenswege mit Rudolf Steiner (1947)