Begriffe

Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daß er Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung, zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Erfahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Begriffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, daß der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt. [1]

Indem wir uns logisch, das heißt, denkend-erkennend betätigen, haben wir in dieser Betätigung immer drei Glieder. Erstens haben wir immerfort dasjenige in unserem denkenden Erkennen drinnen, was wir Schlüsse nennen. Für das gewöhnliche Leben äußert sich ja das Denken in der Sprache. Wenn Sie das Gefüge der Sprache überblicken, werden Sie finden: indem Sie sprechen bilden Sie fortwährend Schlüsse. Diese Tätigkeit des Schließens ist die allerbewußteste im Menschen. Der Mensch würde sich durch die Sprache nicht äußern können, wenn er nicht fortwährend Schlüsse sprechen würde; er würde nicht das, was der andere zu ihm sagt, verstehen können, wenn er nicht fortwährend Schlüsse in sich aufnehmen könnte. Die Schullogik zergliedert gewöhnlich die Schlüsse; dadurch verfälscht sie sie schon, insofern die Schlüsse im gewöhnlichen Leben vorkommen. Die Schullogik bedenkt nicht, daß wir schon einen Schluß ziehen, wenn wir ein einzelnes Ding ins Auge fassen. Denken Sie sich, Sie gehen in eine Menagerie und sehen dort einen Löwen. Was tun Sie denn zuallererst, indem Sie den Löwen wahrnehmen? Sie werden zuallererst das, was Sie am Löwen sehen, sich zum Bewußtsein bringen. Sie haben im Leben gelernt, ehe Sie in die Menagerie gegangen sind, daß solche Wesen, die sich so äußern wie der Löwe, den Sie jetzt sehen, «Tiere» sind. Was Sie da aus dem Leben gelernt haben, bringen Sie schon mit in die Menagerie. Dann schauen Sie den Löwen an und finden: der Löwe tut eben auch das, was Sie bei den Tieren kennengelernt haben. Dies verbinden Sie mit dem, was Sie aus der Lebenserkenntnis mitgebracht haben, und bilden sich dann das Urteil: Der Löwe ist ein Tier. – Erst wenn Sie dieses Urteil sich gebildet haben, verstehen Sie den einzelnen Begriff «Löwen». Das erste, was Sie ausführen, ist ein Schluß; das zweite, was Sie ausführen, ist ein Urteil; und das letzte, wozu Sie im Leben kommen ist ein Begriff. Sie wissen natürlich nicht, daß Sie diese Betätigung fortwährend vollziehen; aber würden Sie sie nicht vollziehen, so würden Sie kein bewußtes Leben führen, das Sie geeignet macht, sich durch die Sprache mit anderen Menschenwesen zu verständigen. [2]

Ich kann nie einem Rotblinden eine Vorstellung der Qualität «Rot» verschaffen, auch wenn ich ihm dieselbe mit allen nur erdenklichen Mitteln begrifflich umschreibe. Die Sinneswahrnehmung hat somit ein Etwas, das nie in den Begriff eingeht; das wahrgenommen werden muß, wenn es überhaupt Gegenstand unserer Erkenntnis werden soll. Wir sind erst imstande, irgend ein Element in der Sinnenwelt zu verstehen, wenn wir einen Begriff davon haben. Was die sinnenfällige Wirklichkeit uns bietet, darauf können wir ja immer hinweisen; und jeder, der die Möglichkeit hat, gerade dieses in Rede stehende Element wahrzunehmen, weiß um was es sich handelt. Durch den Begriff sind wir imstande, etwas von der Sinnenwelt zu sagen, was nicht wahrgenommen werden kann. Wäre das Wesen der Sinneswahrnehmung in der sinnlichen Qualität erschöpft, dann könnte nicht in Form des Begriffes etwas völlig Neues hinzukommen. Die Sinneswahrnehmung ist also gar keine Totalität, sondern nur eine Seite einer solchen. Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt. Nun haben wir aber gefunden, daß uns der Begriff über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang der Dinge verweist. So entsteht als Endziel eine monistische Wissenschaft. [3]

Den Begriff des Kreises beispielsweise bekomme ich, wenn ich sagen kann: Der Kreis ist eine Linie, bei welcher alle Punkte gleich weit vom Mittelpunkt entfernt sind. Und jetzt habe ich eine Formel und das führt mich zum Begriff. Das innere Erarbeiten, das innere Konstruieren führt in Wirklichkeit zum Begriff. Erst derjenige hat ein Recht von Begriffen zu sprechen, der auf diese Weise Begriffe zu machen versteht, der nachzukonstruieren versteht, was draußen in der Welt vorhanden ist. Den Begriff eines Pferdes finden wir nicht dadurch, daß wir hundert Pferde anschauen, um das ihnen Gleiche herauszufinden, sondern das Wesen des Pferdes finden wir dadurch, daß wir es nachkonstruieren, und dann finden wir das Nachkonstruierte in jedem Pferde. Dieses Moment der Aktivität, wenn man Vorstellungen, Begriffe bildet, wird häufig vergessen. [4]

Jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit bezieht, muß notwendig einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil haben. Der Begriff «Steinsalzwürfel» hat doch den anschaulichen Bestandteil des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt. [5] Der Begriff faßt eine Reihe von Erfahrungsdingen oder Ereignissen in eine abstrakte Formel zusammen; die Idee scheidet das Notwendige an diesen Dingen und Ereignissen von dem Zufälligen ab und dringt auf diese Weise in das Wesen der Erscheinungen ein. Wer nicht bis zur Idee vordringt, dem geht auch der Begriff verloren; denn dieser erhält seinen Wert nur dadurch, daß er der Ideenwelt eingereiht und dadurch in die rechte Beleuchtung gerückt wird. [6] Wenn die Vernunft alle Begriffe flüssig macht und in Zusammenhang bringt, so entsteht zuletzt eine einzige Universalidee, die mit dem Urgrund des Wirklichen identisch ist. [7]

Es darf über diesem Trennen und Unterscheiden nur nicht vergessen werden, daß in der Wirklichkeit alles in lebendiger Einheit ist. Deswegen müssen auch die Begriffe einem lebendigen einheitlichen Weltbilde eingefügt werden, wenn aus ihnen eine Wissenschaft entstehen soll. [8] Es ist alles Begreifen eigentlich ein Beziehen des einen auf das andere. Begreifen können wir aber in der Welt nicht anders, als daß wir das eine auf das andere beziehen. [9]

Je mehr wir von einer Vorstellung im Augenblick zu haben glauben, je mehr wir glauben, von einer Vorstellung gleichsam die Befriedigung so zu unserer seelischen Wollust einsaugen zu können, desto mehr werden wir sehen, daß, wenn wir nur mit dieser Vorstellung eine Weile leben wollen, sie uns nicht mehr befriedigen kann, sondern daß sie sich in uns so entwickelt, daß sie uns langweilt, daß sie uns ihrer überdrüssig macht und dergleichen. Weil die geisteswissenschaftlichen Begriffe nicht bloß ein Abbild geben sollen, sondern weil sie eine lebendige Verbindung herstellen sollen zwischen der Menschenseele und der ganzen unendlichen Welt, und weil die Welt unendlich ist, so sind sie nie ganz auszuschöpfen, so sind sie unendlich. Sie sollen immer, in jedem einzelnen Falle eine Verbindung zwischen der Seele und der Welt herstellen. Aber wir müssen uns auch gewissermaßen die freie Empfänglichkeit für alles das bewahren, was aus der Welt an uns herantreten kann, und wir müssen uns vor allen Dingen im Denken daran gewöhnen, daß wir gewisse prinzipielle, grundlegende Begriffe, die der Menschheit heute selbstverständlich erscheinen, für die Zukunft gar nicht mehr gebrauchen können. [10] Klar umrissene Wahrheiten aber, dasjenige, was man in fertigen Begriffen ausspricht, bezieht sich immer auf ein Vergangenes. Dasjenige Wahre, was die Vergangenheit gewissermaßen abgesetzt hat, können wir in uns aufnehmen, es lebt dann in uns; und indem es in uns lebt, leben wir mit der Wahrheit. [11]

Wenn man ein wenig nur in die Zukunft blickt, gelten schon die Begriffe nicht mehr, die man in der Vergangenheit und Gegenwart angewendet hat. Das ist die Hauptsache, daß der Mensch nicht dasjenige, was er einmal in einen schönen Begriff gebracht hat, nun für eine ewige Weisheit hält. Man wird sich daran gewöhnen, die Begriffe flüssig zu machen, zu erkennen, daß Begriffe sich verändern, und das wird ein Fortschritt sein. Diese Möglichkeit, von starren, dogmatischen Begriffen überzugehen in flüssige, das ist es, was ausgebildet werden muß in denjenigen Menschen, die die Träger der Zukunft sein wollen. Denn so, wie die Zeiten sich ändern, müssen sich auch unsere Begriffe ändern, wenn wir diese Zeiten verstehen wollen. [12]

Dieses Beweglichmachen des Begriffes, Beweglichmachen der Vorstellung, so daß man dieselbe Vorstellung in der Seele abändert und mit ihr die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur, die ja auch in sich beweglich sind, mit einem in sich beweglichen Begriff, einer in sich beweglichen Idee verfolgen kann, das ist in gewisser Beziehung etwas Neues, und das ist dasjenige, was ich vor vielen Jahren genannt habe die zentrale Entdeckung Goethes. Es ist etwas wirklich Neues. Aber sie hat eine Fortsetzung erst gefunden in dem, was wir hier die Geisteswissenschaft nennen. [13]

Der Mensch bedenkt in den meisten Fällen nicht, daß Begriffe und Ideen, auch wenn sie noch so begründet sind, nur Werkzeuge sind, um die Wirklichkeit, wie sie individuell in jedem einzelnen Fall vor uns hintritt, zu beurteilen. Der Mensch glaubt heute, wenn er sich einen Begriff erobert hat, daß dieser Begriff unmittelbar in der Welt anwendbar sei. Auf dieser Eigenart des heutigen Denkens, die sich hineinverpflanzt in alles wissenschaftliche Streben, beruht das, was ich eben als herrschende Mißverständnisse (zum Beispiel die naturwissenschaftliche Seelenkunde) charakterisiert habe. Man bedenkt heute nicht, daß ein Begriff ganz richtig sein kann, daß er aber, obwohl er richtig ist, eine ganz falsche Anwendung erfahren kann. Und so kann man auch in den verschiedenen Wissenschaften streng beweisbare richtige Begriffe finden, so daß Widerlegungen derselben auf Schwierigkeiten stoßen würden. Allein die Frage muß immer aufgeworfen werden: Sind nun dem Leben gegenüber diese Begriffe auch anwendbar? Sind sie brauchbare Werkzeuge, um zum Verständnis des Lebens zu kommen? Es sieht mancher so wenig, wo die Grenzen seiner Begriffe liegen, wo er notwendig hat, durch die Tatsachen – seien es die physischen, seien es die geistigen Tatsachen – seine Begriffe zu erweitern. [14]

Alle Begriffe, die wir heute haben, einschließlich der Begriffe von Evolution, der Begriffe von Vererbung und so weiter, alle Begriffe, alle Vorstellungen, die wir haben, sie stammen aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert. Neue Begriffe haben wir uns nicht erworben. Man fühlt heute als Geisteswissenschafter, wie schwer es ist, Worte wenn auch nur in einem Elementaren zu bilden, wenn man nicht mehr ausreicht mit dem, was die Worte gemäß den Begriffen eigentlich ausdrücken, die bis zum 15. Jahrhundert ausgebildet worden sind. Wir zehren an den Schatten der alten Begriffe und haben allerdings im naturwissenschaftlichen Zeitalter in einer wunderbaren Weise hineingelangen können in die äußere Natur dadurch, daß wir festgehalten haben an den Schatten der früheren Begriffe. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, daß nach dem 15. Jahrhundert Begriffe entstanden sind. Wir leben in einer Schattenwelt von Begriffen, nicht in einer Welt der Begriffsrealität. [15]

Das, was noch in der Blütezeit der griechischen Philosophie Philosophie genannt worden ist – diese innerlich in der Seele erlebte geistige Substanz –, ist nicht in dem physischen Menschenleib erlebt worden, sondern in einer menschlichen Organisation, die als ein ätherischer Mensch den physischen Menschenleib durchsetzt. So wie wir niemals im Zweifel darüber sein können, daß das wirklich ist, was wir als Atmungsvorgang haben, weil wir uns unseres physischen Leibes bewußt sind, so konnte der Grieche niemals im Zweifel darüber sein, daß das, was er als Philosophie erlebte, als Weisheit, die er liebte, daß das in der Wirklichkeit wurzelte, denn er war sich seines ätherischen Leibes bewußt. Er war sich bewußt, daß das, was philosophiert, in seinem ätherischen Leibe vor sich geht. [16] Die Zeit vor 1400 ist das Zeitalter, in dem sich ausgebildet hat die Begriffsrealität, der Begriff, das Verstandesmäßige als ein realer Faktor im Inneren. Wir haben das schon seit dem 15. Jahrhundert überwunden. Wir haben das Ich-Bewußtsein an seine Stelle gesetzt. Das Ich-Bewußtsein war noch im Hintergrunde bei den Griechen, es hatte für sie etwas Schattenhaftes. [17] Neue Begriffe sind seit dem 15. Jahrhundert überhaupt nicht gebildet worden; es sind nur die alten Begriffe angewendet worden in neuer Art auf die Vorgänge. [18] (Siehe auch: Denken; Kategorien).

Die Logik ist die Lehre von Begriff, Urteil und Schluß. Zuerst müssen wir darauf ein wenig kommen, wie sich Begriff zu Urteil und zu Schluß verhält. Der Mensch kommt zunächst auf dem physischen Plan zu seinen Erkenntnissen durch die Wahrnehmung. Das erste ist die Empfindung, aber die Empfindung als solche würde zum Beispiel ein Eindruck sein, ein einzelner Farbeneindruck. Es erscheinen uns aber die Gegenstände nicht als solche einzelne, sondern als kombinierte Eindrücke, so daß wir immer nicht bloß einzelne Empfindungen vor uns haben, sondern kombinierte, und das sind die Wahrnehmungen. Das Nachbild davon nennen wir die Vorstellung. Es ist ungeheuer wichtig, daß man unterscheidet zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Wir müssen also unterscheiden zwischen Wahrnehmung, bei der wir ein Objekt vor uns haben, und der Vorstellung, bei der dies nicht der Fall ist. In der Vorstellungswelt unterscheiden wir wiederum zwischen Vorstellung im engeren Sinn und Begriff. Den Begriff des Begriffes können Sie sich machen am mathematischen Begriff. Denken Sie sich, Sie zeichnen sich einen Kreis auf. Das ist kein Kreis im mathematischen Sinn. Sie können sich, wenn Sie das Aufgezeichnete anschauen, die Vorstellung von einem Kreis bilden, den Begriff aber nicht. Da müssen Sie sich einen Punkt denken und darum herum viele Punkte, die alle gleich weit von dem einen, dem Mittelpunkt, entfernt sind. Dann haben Sie den Begriff: Kreis. [19] Sie haben also, wenn Sie von Begriff und Vorstellung reden, den Unterschied zu machen, daß die Vorstellung gewonnen wird an äußeren Gegenständen, daß der Begriff aber durch innerliche Geisteskonstruktion entsteht. Sie können aber heute lesen, daß der Begriff nur dadurch entstehe, daß wir abstrahieren von diesem oder jenem, was in der Außenwelt uns entgegentritt. Man glaubt in der Außenwelt treten uns nur weiße, schwarze, braune, gelbe Pferde entgegen und daraus soll man den Begriff des Pferdes bilden. Wie, das schildert die Logik so: Man läßt, was verschieden ist weg; zunächst die weiße, schwarze und so weiter Farbe, dann, was sonst verschieden ist und wiederum verschieden ist und schließlich bleibt etwas Verschwommenes; das nennt man den Begriff «Pferd». Man hat abstrahiert. So, meint man, bilden sich Begriffe. Diejenigen, welche die Sache so schildern, vergessen, daß die eigentliche Natur des Begriffes für die heutige Menschheit nur am mathematischen Begriff wirklich erfaßt werden kann, weil dieser zunächst das zeigt, was innerlich konstruiert ist und dann in der Außenwelt wiederum gefunden wird. Der Begriff des Kreises kann nicht so gebildet werden, daß man verschiedene Kreise grüne, blaue, große, kleine, durchläuft und dann alles das wegläßt, was nicht gemeinsam ist, und sich dann ein Abstraktum bildet. Der Begriff wird von innen heraus gebildet. Man muß sich die Gedankenkonstruktion bilden. Die Menschen sind nur heute nicht so weit, daß sie sich so den Begriff des Pferdes bilden können. Goethe hat sich bemüht, solche innerliche Konstruktionen auch für höhere Gebiete des Naturdaseins zu bilden. Das ist bedeutungsvoll, daß er aufzusteigen sucht von der Vorstellung zum Begriff. Wer etwas versteht von der Sache, weiß, daß man auch zum Begriff des Pferdes nicht dadurch kommt, daß man die Verschiedenheit wegläßt und das Übrigbleibende behält. So wird der Begriff nicht gebildet, sondern durch innerliche Konstruktion, wie der Begriff des Kreises, nur nicht so einfach. (Beispielsweise) ein Wolf, der sein ganzes Leben lang Lämmer frißt, wird (dennoch) kein Lamm. Wenn man den Begriff des Wolfes so hat, so hat man, was Aristoteles die Form des Wolfes nennt. Auf die Materie des Wolfes kommt es nicht an. Wenn er auch lauter Lämmer frißt, wird er doch kein Lamm. Wenn man bloß auf die Materie sieht, müßte man wohl sagen, daß, wenn er lauter Lämmer verzehrt, er eigentlich ein Lamm werden müßte. Er wird kein Lamm, weil es auf das ankommt, wie er die Materie organisiert, und das ist dasjenige, was in ihm als die «Form» lebt und was man im reinen Begriff konstruieren kann. [20]

Der Begriff ist also nichts anderes als ein Gedankenbild, er hat seine Genesis, seinen Ursprung im Gedanken. Eine äußere Illustration ist nur eine Krücke, ein Hilfsmittel, um den Begriff anschaulich zu machen. Nicht durch äußere Wahrnehmung wird der Begriff gewonnen, er lebt zunächst nur in der reinen Innerlichkeit.

Unsere heutige Geisteskultur ist in ihrem Denken eigentlich – außer in der Mathematik – noch nicht über das bloße Vorstellen hinausgekommen. Die Menschen glauben meistens, der Begriff stamme aus der Vorstellung und sei nur blasser, weniger inhaltsvoll als diese. Man kommt nicht zu einem Begriff des Dreiecks, wenn man alle Arten von Dreiecken nimmt, das Gemeinsame nimmt und das Trennende wegläßt. Zu einem Begriff des Dreiecks kommt man nur, wenn man sich innerlich konstruiert die Figur dreier sich schneidender Linien. Mit diesem innerlich konstruierten Begriff treten wir an das äußere Dreieck heran und finden es dann mit dem innerlich konstruierten Bilde harmonisierend. Nur in bezug auf mathematische Dinge können die Menschen unserer heutigen Kultur sich aufschwingen zum Begriff. Zum Beispiel beweist man durch innerliche Konstruktion, daß die Winkelsumme im Dreieck gleich 180 Grad ist. Wenn aber einmal jemand anfängt, Begriffe auch anderer Dinge innerlich zu konstruieren, so erkennt ein großer Teil unserer Philosophen das gar nicht an. Goethe hat die Begriffe «Urpflanze», «Urtier» durch inneres Konstruieren geschaffen. Aber wie wenige erkennen das heute an. Die meisten Menschen wissen heute kaum mehr, worum es sich handelt, wenn man von begrifflichem Denken spricht. [21]

Wenn nun die Menschen wirklich im strengen logischen Sinne denken, so tun sie etwas anderes als äußerlich wahrnehmen und das Wahrgenommene sich wieder vergegenwärtigen; dies ist nur eine Vorstellung. Beim logischen Denken aber muß jeder Gedanke innerlich konstruiert sein, er muß ähnlich geschaffen sein, wie ich es oben am Beispiel des Kreises erklärt habe. Mit diesem inneren Gedankenbilde geht der Mensch dann erst an die äußere Wirklichkeit heran und findet Harmonie zwischen dem Bilde und der äußeren Wirklichkeit. Immer haben die Menschen so innerlich konstruiert, die wirklich logisch dachten. So hat Kepler, als er seine Gesetze aufstellte, diese innerlich konstruiert, und er fand sie dann in Harmonie mit der äußeren Wirklichkeit. [22]

Indem wir den Begriff des Begriffs vor uns hinstellen, bringen wir uns fort von allem Willkürlichen des Vorstellens. Dazu müssen wir einmal ins Auge fassen den reinen Vorstellungsverlauf und den reinen Begriffsverlauf. Ich brauche nicht zu sagen, daß der Mensch bei einer Vorstellung von einem Dreieck immer nur dieses oder jenes Dreieck sich vorzustellen vermag. Wir müssen jetzt Rücksicht nehmen auf die Art der Verbindung bloßer Vorstellungen und die Art der Verbindung reiner Begriffe.Was regelt denn unser Vorstellungsleben? Wenn wir die Vorstellung einer Rose haben, so kann ganz von selbst die Vorstellung einer Person auftreten, die uns die Rose geschenkt hat. Daran schließt sich vielleicht die Vorstellung von einem blauen Kleide, das die betreffende Person trug und so weiter. Solche Zusammenhänge nennt man: Assoziation der Vorstellungen. Diese ist aber nur die eine Art, wie die Menschen Vorstellungen miteinander verknüpfen. Sie tritt am reinsten da auf, wo der Mensch sich dem Vorstellungsleben ganz und gar überläßt. Aber auch noch nach anderen Gesetzen ist ein Aneinanderreihen von Vorstellungen möglich. Das kommt daher, daß der Mensch nach seinem inneren Elemente, seinem Seelengefüge, diese oder jene äußere Vorstellung mit einer anderen verbinde(t), nicht sich nur äußerlich den Vorstellungen überläßt. Der Mensch läßt hier die Kraft wirken, die aus seinem Inneren aufsteigt. Man nennt das: es arbeitet in ihm die Apperzeption. – Apperzeption und Assoziation sind die Kräfte, die die bloßen Vorstellungen aneinandergliedern durch äußerliche oder durch subjektive innere Beweggründe. Beide, Apperzeption und Assoziation wirken im bloßen Vorstellungsleben. [23]

Ganz anders ist es im Begriffsleben. Es gibt ein inneres Zusammengehören der Begriffe, und wir finden die Gesetzmäßigkeit hierfür in der formalen Logik. [24] Wenn wir durch ihren Inhalt zwei Begriffe aneinanderfügen, so bilden wir ein Urteil. Wir verbinden den Begriff des Pferdes und den des Laufens, wenn wir sagen: Das Pferd läuft. Die Verbindung von Begriffen kann aber auch noch auf kompliziertere Weise geschehen. Wir können Urteil an Urteil fügen und kommen so zu einem «Schluß». [25]

Es gibt innere Gesetze des Denkens wie die Gesetze der Mathematik; man könnte sagen eine Arithmetik des Denkens. Jetzt können Sie sich das Idealbild des richtigen Denkens vorstellen: Alle Begriffe müssen nach den Gesetzen der formalen Logik gebildet werden. Die formale Logik aber hat gewisse Grenzen. So gibt es unzählige Trugschlüsse, die formal ganz richtig sind. Die Sache liegt darin, daß die Logik auf alles anwendbar ist, nur nicht auf sich selber. In dem Augenblicke, wo auf das Subjekt selber zurückgegriffen wird, löst sich die formale Logik auf. Es ist das ein Spiegelbild für etwas anderes: Wenn wir übergehen von den drei Leibern des Menschen zum Ich, werden alle Dinge anders. Das Ich ist der Schauplatz der Logik, die aber nur auf anderes angewendet werden darf, nicht auf sich selbst. Es kann nie irgendeine Erfahrung durch die Logik gemacht, sondern durch die Logik kann nur Ordnung in die Erfahrung gebracht werden. [26]

Ein logisch richtiger Begriff braucht noch nicht wirklichkeitsgemäß zu sein. Darauf beruht so unendlich viel Jammervolles in unserem Geistesleben, daß die Leute glauben, wenn sie irgend etwas logisch denken können, so sei das auch schon wirklichkeitsgemäß. Aber wirklichkeitsgemäßes Denken ist etwas anderes, als bloß richtiges Denken. Es bestehen (so) die meisten der heutigen Wissenschaften aus Gedanken über Unwirklichkeiten. [27]

Um nun ein Bild zu bekommen von der Natur des Begriffes und des Begriffssystemes, (also) des Organismus unserer Begriffe, stellen wir uns einmal vor, welches Verhältnis diese Begriffswelt einnimmt auf der einen Seite zu der um uns ausgebreiteten Welt des sinnlich Wahrgenommenen, und auf der anderen Seite zu der Wirklichkeit, die durch übersinnliche Beobachtung uns in der Anthroposophie zukommt. Sie können sich das Gefüge, das Netz von Begriffen, das der Mensch hat – von den mathematischen Größen und Zahlenbegriffen angefangen bis zu den komplizierten Begriffen, mit denen Goethe in seiner «Metamorphose» einen Anfang gemacht hat, die aber in unserer abendländischen Kultur noch ganz in den Anfängen ruhen –, Sie können sich dieses ganze Begriffsnetz wie eine Tafel vorstellen, die die Grenze bildet zwischen der sinnlichen Welt auf der einen und der geistigen Welt auf der anderen Seite. So also können wir uns gerade durch das Begriffsnetz begrenzt denken: auf der einen Seite die Sphäre der übersinnlichen und auf der anderen Seite die Sphäre der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn der Mensch als sinnlicher Beobachter der Dinge sein Auge oder seine anderen Wahrnehmungsorgane bloß richten würde auf die äußere Umwelt, so würde er bloß Vorstellungen erleben. Wenn der Mensch so an die sinnliche Wirklichkeit herantritt, wird er finden, daß diese sinnliche Wirklichkeit übereinstimmt mit dem, was er sich als Begriff konstruiert hat. Er fängt an zu verstehen, was sich ihm in der Wahrnehmung darbietet im Vergleich zu dem, was er sich selbst als Begriff gebildet hat. Begriffe werden also nicht durch Wahrnehmung gewonnen. Das ist ein Vorurteil, das heute sehr verbreitet ist. Begriffe werden gewonnen durch innerliche Konstruktion. Der Begriff ist sozusagen dasjenige, wozu der Mensch kommt, gerade wenn er absieht von aller äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Und nun kann er zusammenwirken lassen, was er innerlich konstruiert hat, mit dem, was sich ihm äußerlich als sinnliche Wirklichkeit darstellt. [28] Damit hätten wir fixiert die Stellung des Begriffsnetzes zu der äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Jetzt müssen wir uns auch fragen: Wie ist die Stellung unseres Begriffsnetzes zu der übersinnlichen Wirklichkeit? – Zunächst ist es nicht anders als zu der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn jemand sich die übersinnliche Wirklichkeit eröffnet und nun mit seinen Begriffen an diese Wirklichkeit herantritt, so wird er ebenso dieses Begriffsnetz zusammenfallend finden mit der übersinnlichen Wirklichkeit. Am Begriffsnetz treffen sich sinnliche und übersinnliche Wirklichkeit. Woher kommt (aber) dieses Begriffsnetz selber?

Wir können es uns am besten dadurch klarmachen, wenn wir uns das Bild eines Schattens, der an die Wand geworfen wird, vorstellen. Wenn die Hand nicht da wäre, so würde auch (ihr) Schattenbild nicht entstehen. Das Schattenbild ist seinem Urbilde ähnlich, aber es hat eine besondere Eigentümlichkeit, es ist eigentlich nichts! Denn gerade weil die Hand das Licht abhält, dadurch, daß an die Stelle des Lichtes das Nicht-Licht tritt, dadurch entsteht das Schattenbild. Genau ebenso entstehen unsere Begriffe in Wirklichkeit. Wir meinen nur, daß wir sie aus uns herausspinnen. Sie entstehen dadurch, daß hinter unserer denkenden Seele die übersinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft. Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele. Und weil unsere Begriffe den Urbildern der übersinnlichen Welt ähnlich sind – wie das Schattenbild der Hand seinem Urbilde ähnlich ist –, darum sind die Begriffe etwas, was im Menschen eine Ahnung hervorrufen kann von den übersinnlichen Wirklichkeiten. Daß der Mensch meint das Begriffsnetz aus sich herauszuspinnen, kommt daher, weil er zunächst keine Anschauung hat von dieser übersinnlichen Welt. Aber sie ist da und wirkt, sie wirft ihre Schattenbilder. Wo sie auftrifft auf die Wahrnehmung des Sinnlichen, da entstehen diese Schattenbilder, und die Begriffe sind nichts anderes als diese Schattenbilder. Wir haben also in den Begriffen keine übersinnliche Wirklichkeit, ebensowenig, wie wir im Schattenbilde der Hand die Hand selbst haben, aber wir haben (eben) sozusagen Schattenbilder davon. Damit haben wir das Begriffsnetz sozusagen als die Grenze zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit definiert, dabei aber erkannt, daß die Begriffe nicht aus der sinnlichen, sondern aus der übersinnlichen Welt in die Seele einströmen. Der Seher, der in die übersinnliche Wirklichkeit hinaufsteigen kann, kann leichter zu einer vollständigen Begriffswelt kommen, weil er die Kräfte kennenlernt, die hereinströmen und die Begriffe hervorrufen. [29] Der Mensch kommt zu dem Begriffsnetz dadurch, daß er die Begriffe förmlich auf sich herunterströmen läßt. Für den Seher ist es so, daß er zu den Urbildern (im Devachan) hinaufschauen kann, da wo die Realität ist. [30]

Wir müssen uns darüber klar werden, daß unsere Seele imstande sein muß, auch dann das Begriffsnetz zu gewinnen, wenn sie nicht in der Lage ist, es aus der unmittelbaren Anschauung der Welt vor sich zu haben. Die Methoden, auch wenn sie die wissenschaftlichsten Methoden sind, die man anwendet, um durch äußere Erfahrung sich Vorstellungen zu bilden über die Welt, diese Methoden alle können nicht dazu dienen, um in der Menschenseele das Begriffsnetz innerlich selber zu konstruieren. Es muß also eine Methode geben, die auf der einen Seite unabhängig ist von der äußeren Beobachtung und auf der anderen Seite auch unabhängig ist von der hellseherischen Beobachtung, denn die Menschenseele soll ja, wie wir voraussetzen, schon Begriffe sich bilden können, bevor sie zum Hellsehen aufsteigt. Sie bewegt sich also (denkerisch) von einem Begriff zum anderen, sie bleibt im Felde der Begriffe. Daß das stattfinden kann, macht notwendig, daß wir eine Methode voraussetzen, die nichts zu tun hat mit der äußeren sinnlichen Beobachtung und die nichts zu tun hat mit der hellseherischen Beobachtung, die nur zur Verifizierung dienen soll. Dieses Bewegen in reinen Begriffen nennt man nun im Sinne des großen Philosophen Hegel die «dialektische Methode», wobei der Mensch nur in Begriffen lebt und sich fähig macht, einen Begriff aus dem anderen hervorgehen, gleichsam hervorwachsen zu lassen. Alle solche Begriffe, die durch Sich-selbst-Bewegen, durch Selbsthervorgehen eines Begriffes aus einem anderen gebildet werden und uns darstellen dabei, was sowohl der sinnlichen Welt angepaßt ist wie auch der übersinnlichen Welt, alle solche Begriffe nennt man Kategorien. So ist also im Grunde genommen das ganze Begriffsnetz zusammengesetzt aus Kategorien. [31]

Man ist freilich gewöhnt worden, den Begriff «Kategorien» für die Hauptbegriffe anzuwenden, für die Knotenpunkte, für die wichtigsten, die Stammbegriffe, namentlich weil die formale Logik immer angeknüpft hat an Aristoteles. Im strengen Sinne kann man aber die Worte «Begriff» und «Kategorie» wechselweise gebrauchen, so daß wir die Summe aller unserer Begriffe – wenn wir richtige Begriffskonstruktionen vor uns haben, das heißt, wenn die Begriffe innerlich konstruiert und fortgebildet sind durch Selbstbewegung, wenn die Begriffe aus sich selbst herausgewachsen sind – die «Kategorienlehre» nennen können. Und das, was Hegel im ersten Teil seiner Philosophie die «Wissenschaft der Logik» nennt – Logik, von Logos herkommend, was ja auch Begriff heißt –, ist eigentlich eine Kategorienlehre. Wenn wir nur einzelne Begriffe bilden, so haben wir nicht alle Kategorien, wenn wir aber innerlich das Begriffsnetz spinnen, jeden Begriff an die richtige Stelle setzen im Gesamtorganismus der Begriffe, dann haben wir alle Kategorien. – Nun hat ja Hegel selber schon gesagt: Wenn man so den ganzen Umfang des Begriffsnetzes feststelle, so habe man darin den Inhalt der Welt, wie er im Gedanken der göttlichen Wesenheit vor der Erschaffung der Welt ist. – Da wir die Begriffe in der Welt darinnen finden, müssen sie ursprünglich hineingelegt worden sein. Wenn wir den Begriffen nachgehen, so finden wir darin die Gedanken der Gottheit. [32]

Einen Ausgangspunkt (für das Begriffsnetz) muß man freilich haben, man muß bei irgend etwas anfangen. Das muß natürlich nur der einfachste Begriff sein, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat, das ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint. Wenn wir den Begriff des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er alles umfaßt, umfaßt er zugleich das Nichts. Dieses steckt darinnen im Sein, es sproßt heraus aus dem Sein. Wenn wir uns eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen, werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine Vorstellung zu machen. Es wird viel davon abhängen, daß gerade der Begriff des Nichts in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die Theosophie daran, daß der Begriff des Nichts unklar gefaßt wird. Deshalb ist die Theosophie zu einer Art Emanationslehre geworden. Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt, zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind, ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt. Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltgeschehen, und Sie können dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff des Nirvana besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist. [33]

Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch, daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man Sein und Nichtsein miteinander verbindet, entsteht das Werden.DasWerden ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen schon in sich enthält. Werden ist ein fortwährender Übergang von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende entsteht. Von dem Begriff des Werdens ausgehend kommen Sie dann zu dem Begriff Dasein. Es ist das, was als das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des Werdens in das Dasein, ein abgeschlossenes Werden.

Wir haben hier schon vier aufeinanderfolgende Kategorien ausgebildet, die Kategorien Sein, Nichts, Werden und Dasein. Nun können wir weitergehen und können aus dem Begriff Dasein alle möglichen Begriffe heraussprießen lassen, und wir würden ein reichgegliedertes Begriffssystem aus dem Begriff Dasein nach der einen Linie erhalten. Wir können aber auch in anderer Weise vorgehen. Das Sein läßt Begriffe nach zwei Seiten aus sich herauswachsen. Es ist etwas sehr Fruchtbares. Es ist der reine Gedanke des Seins schon gegeben, bevor das Sein aus dem Gedanken hinausgeschossen ist in die Realität. In dem Augenblick, wo das Sein in sich selbst wird, in sich selbst Inhalt wird, in dem Augenblick müssen wir das, was wir dann erfassen, als das Wesen bezeichnen. Das Wesen ist das in sich aufgehaltene Sein, das sich selbst durchdringende Sein. Sie bekommen am leichtesten einen Begriff vom Wesen einer Sache, wenn Sie nachdenken, was wesentlich und was unwesentlich an der Sache ist. Das Wesen ist das im Inneren arbeitende Sein, das überhaupt durch Arbeit sich erhärtende Sein.

Aus dem Begriff Wesen gewinnen Sie den Begriff der Erscheinung, das Sich-nach-außen-hin-Manifestieren, das Gegenteil des Wesens, das Gegenteil dessen, was das Wesen in sich hat. Wesen und Erscheinung sind zwei kontradiktorische Begriffe, die sich ähnlich zueinander verhalten, wie die Begriffe Sein und Nichts. [34]

Es ist in gewisser Beziehung ein Widerspruch zwischen innerem Wesen und äußerer Erscheinung. Wenn aber inneres Wesen überfließt in Erscheinung, so daß die Erscheinung selbst das Wesen enthält, so sprechen wir von Wirklichkeit.Keindialektisch geschulter Mensch wird vom Begriff der Wirklichkeit anders sprechen, als daß er sagt: In dem Begriff der Wirklichkeit lebt Erscheinung, die durchdrungen ist vom Wesen.

Wir können nun noch weitergehen und zu noch reicheren Begriffen aufsteigen. Da kommen wir dazu, zu sagen: Wesen ist das Sein, das in sich selber ist, das in sich selber zu sich gekommen ist, das sich manifestiert hat. –Wenn nun dieses Sein nicht nur sich selber manifestiert, sondern dieses Sein außerdem noch seine Linien hinzieht zu der Umgebung, sozusagen im Innern nicht nur sich selber ausdrückt, sondern noch etwas anderes auszudrücken versucht, dann bekommen wir auf dialektischem Wege den Begriff des Begriffs selber. So daß wir aufsteigen vom Sein durch das Wesen zum Begriff.

Wenn wir den Begriff in uns walten lassen, so haben wir etwas in ihm, was nach außen weist und das andere, die Außenwelt umspannt. Wenn wir nun weiteres aus dem Begriff hervorgehen lassen, so bekommen wir folgendes: Wir haben jetzt gesehen, wie formallogisch in der Schlußfigur der Begriff waltet. Da bleibt der Begriff in sich selber. Jetzt aber kann er aus sich herausgehen, und wir sprechen dann von einem Begriff, der uns die Natur der Dinge wiedergibt. Wir kommen zur Objektivität. Im Gegensatz zu den subjektiven Begriffen, die der Denktechnik unterliegen, haben wir nun objektive Begriffe. Wie Erscheinung zu Wesen, so verhält sich Objektivität zu Begriff. Nur dann hat man den Begriff Objektivität wirklich erfaßt, wenn man ihn in dieser Weise aus dem Begriff hervorgehend denkt. [35]

Und nun, wenn wir Begriff mit Objektivität verbinden, kommen wir zu dem, was ein uns innerlicher Begriff ist, was aber zugleich seine eigene Realität in sich enthält, was zugleich subjektiver Begriff ist und als solcher objektiv ist. Das ist die Idee.Sowie sich die Wirklichkeit zur Erscheinung verhält, so verhält sich die Idee zur Objektivität. Da haben Sie ein kleines Beispiel, wie wir in der Dialektik Begriffe aus dem Urstammbegriff «Sein» herauswachsen lassen können. Wir hätten so noch viele andere Begriffe aus dem Sein herausbilden können.

So sehen wir, wie sich durch die Bewegung der Begriffe diese durchsichtige, diamantklare, kristallene, geistige Begriffswelt ergibt, und daß der Mensch mit dieser an genauen Begriffen geschulten Erkenntnisfähigkeit ausgerüstet erst wieder an die sinnliche Welt herantreten soll. Dann zeigt es sich, wie die in der Dialektik gewonnenen Begriffe sich decken auf der einen Seite mit der sinnlichen und auf der anderen Seite mit der übersinnlichen Wirklichkeit, und wie der Mensch kommt zu der Konkordanz zwischen Begriff und Wirklichkeit, in welcher das wahre Erkennen erst besteht. [36]

Zitate:

[1]  GA 4, Seite 57f   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[2]  GA 293, Seite 134f   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[3]  GA 1, Seite 280ff   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[4]  GA 164, Seite 127   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[5]  GA 1, Seite 326   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[6]  GA 1e, Seite 379 Anm1   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[7]  GA 1e, Seite 379 Anm5   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[8]  GA 1e, Seite 364 Anm17   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[9]  GA 293, Seite 105   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[10]  GA 176, Seite 181f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[11]  GA 176, Seite 183   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[12]  GA 99, Seite 142f   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[13]  GA 176, Seite 26   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[14]  GA 66, Seite 114ff   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[15]  GA 325, Seite 135   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[16]  GA 215, Seite 17   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[17]  GA 325, Seite 136   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[18]  GA 167, Seite 63   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[19]  GA 108, Seite 226ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[20]  GA 108, Seite 228f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[21]  GA 108, Seite 200ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[22]  GA 108, Seite 200   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[23]  GA 108, Seite 202f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[24]  GA 108, Seite 204   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[25]  GA 108, Seite 204   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[26]  GA 108, Seite 206f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[27]  GA 169, Seite 50   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)
[28]  GA 108, Seite 238f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[29]  GA 108, Seite 240f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[30]  GA 108, Seite 242   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[31]  GA 108, Seite 244f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[32]  GA 108, Seite 246   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[33]  GA 108, Seite 247ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[34]  GA 108, Seite 250ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[35]  GA 108, Seite 252f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[36]  GA 108, Seite 254   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 1e:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band V (1897)
GA 4:  Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894)
GA 66:  Geist und Stoff, Leben und Tod (1917)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 167:  Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste (1916)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)