Kategorien

Sie können sich das Gefüge, das Netz von Begriffen, das der Mensch hat – von den mathematischen Größen und Zahlenbegriffen angefangen bis zu den komplizierten Begriffen, mit denen Goethe in seiner «Metamorphose» einen Anfang gemacht hat, die aber in unserer abendländischen Kultur noch ganz in den Anfängen ruhen –, Sie können sich dieses ganze Begriffsnetz wie eine Tafel vorstellen, die die Grenze bildet zwischen der sinnlichen Welt auf der einen und der geistigen Welt auf der anderen Seite. [1]

Wir müssen uns darüber klar werden, daß unsere Seele imstande sein muß, auch dann das Begriffsnetz zu gewinnen, wenn sie nicht in der Lage ist, es aus der unmittelbaren Anschauung der Welt vor sich zu haben. Niemals würde die Seele zu Begriffen kommen, wenn sie bloß in die äußere Wahrnehmung hinaus den Blick richten und daraus Vorstellungen bilden würde. Die Methoden, auch wenn sie die wissenschaftlichsten Methoden sind, die man anwendet, um durch äußere Erfahrung sich Vorstellungen zu bilden über die Welt, diese Methoden alle können nicht dazu dienen, um in der Menschenseele das Begriffsnetz innerlich selber zu konstruieren. Daß sich die Seele von einem Begriff zum anderen bewegt, macht notwendig, daß wir eine Methode voraussetzen, die nichts zu tun hat mit der äußeren sinnlichen Beobachtung und nichts mit der hellseherischen Beobachtung. Dieses Bewegen in reinen Begriffen, nennt man nun im Sinne des großen Philosophen Hegel die «dialektische Methode», wobei der Mensch nur in Begriffen lebt und sich fähig macht, einen Begriff aus dem anderen hervorgehen, gleichsam hervorwachsen zu lassen. Diese dialektische Methode führt die Seele von Begriff zu Begriff. Wir werden sehen, daß wir irgendwo ansetzen müssen bei diesen sich selbst fortbewegenden Begriffen, dann aber werden wir weiter von Begriff zu Begriff geführt. Was müßte denn dabei herauskommen? Wenn so die Seele irgendwo anfängt, einen Begriff herauszusetzen, und dann Begriff aus Begriff hervorwachsen läßt, dann würde sie die Summe aller im Weltall sowohl nach unten an die sinnliche Welt als auch nach oben an die übersinnliche Welt angepaßten Begriffe auf diese Weise sich bilden.

Alle solche Begriffe, die durch Sich-selbst-Bewegen, durch Selbsthervorgehen eines Begriffes aus einem anderen gebildet werden und uns darstellen dabei, was sowohl der sinnlichen Welt angepaßt ist wie auch der übersinnlichen Welt, alle solche Begriffe nennt man im weitesten Umfange des Wortes «Kategorien». Kategorien sind also diejenigen Begriffe, welche durch die dialektische Methode, also durch Hervorwachsen eines Begriffes aus dem anderen, gewonnen werden. So ist also im Grunde genommen das ganze Begriffsnetz zusammengesetzt aus Kategorien. [2]

Man ist freilich gewöhnt worden, den Begriff «Kategorien» für die Hauptbegriffe anzuwenden, für die Knotenpunkte, für die wichtigsten, die Stammbegriffe, namentlich weil die formale Logik immer angeknüpft hat an Aristoteles. Im strengen Sinne kann man aber die Worte «Begriff» und «Kategorie» wechselweise gebrauchen, so daß wir die Summe aller unserer Begriffe – wenn wir richtige Begriffskonstruktionen vor uns haben, das heißt, wenn die Begriffe innerlich konstruiert und fortgebildet sind durch Selbstbewegung, wenn die Begriffe aus sich selbst herausgewachsen sind – die «Kategorienlehre» nennen können. Und das, was Hegel im ersten Teil seiner Philosophie die «Wissenschaft der Logik» nennt – Logik, von Logos herkommend, was ja auch Begriff heißt –, ist eigentlich eine Kategorienlehre. Wenn wir nur einzelne Begriffe bilden, so haben wir nicht alle Kategorien, wenn wir aber innerlich das Begriffsnetz spinnen, jeden Begriff an die richtige Stelle setzen im Gesamtorganismus der Begriffe, dann haben wir alle Kategorien. – Nun hat ja Hegel selber schon gesagt: Wenn man so den ganzen Umfang des Begriffsnetzes feststelle, so habe man darin den Inhalt der Welt, wie er im Gedanken der göttlichen Wesenheit vor der Erschaffung der Welt ist. – Da wir die Begriffe in der Welt darinnen finden, müssen sie ursprünglich hineingelegt worden sein. Wenn wir den Begriffen nachgehen, so finden wir darin die Gedanken der Gottheit. [3]

Einen Ausgangspunkt (für das Begriffsnetz) muß man freilich haben, man muß bei irgend etwas anfangen. Das muß natürlich nur der einfachste Begriff sein, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat, das ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint. Wenn wir den Begriff des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er alles umfaßt, umfaßt er zugleich das Nichts. Dieses steckt darinnen im Sein, es sproßt heraus aus dem Sein. Wenn wir uns eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen, werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine Vorstellung zu machen. Es wird viel davon abhängen, daß gerade der Begriff des Nichts in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die Theosophie daran, daß der Begriff des Nichts unklar gefaßt wird. Deshalb ist die Theosophie zu einer Art Emanationslehre geworden. Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt, zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind, ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt. Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltgeschehen, und Sie können dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff des Nirvana besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist. [4]

Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch, daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man Sein und Nichtsein miteinander verbindet, entsteht das Werden.DasWerden ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen schon in sich enthält. Werden ist ein fortwährender Übergang von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende entsteht. Von dem Begriff des Werdens ausgehend kommen Sie dann zu dem Begriff Dasein. Es ist das, was als das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des Werdens in das Dasein, ein abgeschlossenes Werden.

Wir haben hier schon vier aufeinanderfolgende Kategorien ausgebildet, die Kategorien Sein, Nichts, Werden und Dasein. Nun können wir weitergehen und können aus dem Begriff Dasein alle möglichen Begriffe heraussprießen lassen, und wir würden ein reichgegliedertes Begriffssystem aus dem Begriff Dasein nach der einen Linie erhalten.

Wir können aber auch in anderer Weise vorgehen. Das Sein läßt Begriffe nach zwei Seiten aus sich herauswachsen. Es ist etwas sehr Fruchtbares. Es ist der reine Gedanke des Seins schon gegeben, bevor das Sein aus dem Gedanken hinausgeschossen ist in die Realität. In dem Augenblick, wo das Sein in sich selbst wird, in sich selbst Inhalt wird, in dem Augenblick müssen wir das, was wir dann erfassen, als das Wesen bezeichnen. Das Wesen ist das in sich aufgehaltene Sein, das sich selbst durchdringende Sein. Sie bekommen am leichtesten einen Begriff vom Wesen einer Sache, wenn Sie nachdenken, was wesentlich und was unwesentlich an der Sache ist. Das Wesen ist das im Inneren arbeitende Sein, das überhaupt durch Arbeit sich erhärtende Sein.

Aus dem Begriff Wesen gewinnen Sie den Begriff der Erscheinung, das Sich-nach-außen-hin-Manifestieren, das Gegenteil des Wesens, das Gegenteil dessen, was das Wesen in sich hat. Wesen und Erscheinung sind zwei kontradiktorische Begriffe, die sich ähnlich zueinander verhalten, wie die Begriffe Sein und Nichts. [5]

Es ist in gewisser Beziehung ein Widerspruch zwischen innerem Wesen und äußerer Erscheinung. Wenn aber inneres Wesen überfließt in Erscheinung, so daß die Erscheinung selbst das Wesen enthält, so sprechen wir von Wirklichkeit.Keindialektisch geschulter Mensch wird vom Begriff der Wirklichkeit anders sprechen, als daß er sagt: In dem Begriff der Wirklichkeit lebt Erscheinung, die durchdrungen ist vom Wesen.

Wir können nun noch weitergehen und zu noch reicheren Begriffen aufsteigen. Da kommen wir dazu, zu sagen: Wesen ist das Sein, das in sich selber ist, das in sich selber zu sich gekommen ist, das sich manifestiert hat. –Wenn nun dieses Sein nicht nur sich selber manifestiert, sondern dieses Sein außerdem noch seine Linien hinzieht zu der Umgebung, sozusagen im Innern nicht nur sich selber ausdrückt, sondern noch etwas anderes auszudrücken versucht, dann bekommen wir auf dialektischem Wege den Begriff des Begriffs selber. So daß wir aufsteigen vom Sein durch das Wesen zum Begriff.

Wenn wir den Begriff in uns walten lassen, so haben wir etwas in ihm, was nach außen weist und das andere, die Außenwelt umspannt. Wenn wir nun weiteres aus dem Begriff hervorgehen lassen, so bekommen wir folgendes: Wir haben jetzt gesehen, wie formallogisch in der Schlußfigur der Begriff waltet. Da bleibt der Begriff in sich selber. Jetzt aber kann er aus sich herausgehen, und wir sprechen dann von einem Begriff, der uns die Natur der Dinge wiedergibt. Wir kommen zur Objektivität. Im Gegensatz zu den subjektiven Begriffen, die der Denktechnik unterliegen, haben wir nun objektive Begriffe. Wie Erscheinung zu Wesen, so verhält sich Objektivität zu Begriff. Nur dann hat man den Begriff Objektivität wirklich erfaßt, wenn man ihn in dieser Weise aus dem Begriff hervorgehend denkt. [6]

Und nun, wenn wir Begriff mit Objektivität verbinden, kommen wir zu dem, was ein uns innerlicher Begriff ist, was aber zugleich seine eigene Realität in sich enthält, was zugleich subjektiver Begriff ist und als solcher objektiv ist. Das ist die Idee.Sowie sich die Wirklichkeit zur Erscheinung verhält, so verhält sich die Idee zur Objektivität. Da haben Sie ein kleines Beispiel, wie wir in der Dialektik Begriffe aus dem Urstammbegriff «Sein» herauswachsen lassen können. Wir hätten so noch viele andere Begriffe aus dem Sein herausbilden können.

So sehen wir, wie sich durch die Bewegung der Begriffe diese durchsichtige, diamantklare, kristallene, geistige Begriffswelt ergibt, und daß der Mensch mit dieser an genauen Begriffen geschulten Erkenntnisfähigkeit ausgerüstet erst wieder an die sinnliche Welt herantreten soll. Dann zeigt es sich, wie die in der Dialektik gewonnenen Begriffe sich decken auf der einen Seite mit der sinnlichen und auf der anderen Seite mit der übersinnlichen Wirklichkeit, und wie der Mensch kommt zu der Konkordanz zwischen Begriff und Wirklichkeit, in welcher das wahre Erkennen erst besteht. [7]

Innerhalb der eigentlichen Kategorientafel kommen die Subjektivität und die Objektivität gar nicht vor. Das bildet an sich eine Art von Beweis über das Wesen des kategorialen Denkens: Wenn man die Kategorien in der Weise nimmt, wie sie nun nicht aus irgendeinem Beweis hervorgehen, sondern einfach, ich möchte sagen, aus der Logik heraus gelöst werden, so müssen sie, indem man sie aufstellt, anwendbar sein auf dasjenige, was über «subjektiv» und «objektiv» erhaben ist. Es muß das, worauf diese Kategorien zunächst anwendbar sind, ein Übersubjektives und -objektives sein. [8]

Zitate:

[1]  GA 108, Seite 238   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[2]  GA 108, Seite 244f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[3]  GA 108, Seite 246   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[4]  GA 108, Seite 247ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[5]  GA 108, Seite 250ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[6]  GA 108, Seite 252f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[7]  GA 108, Seite 254   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[8]  GA 76, Seite 53   (Ausgabe 1977, 264 Seiten)

Quellen:

GA 76:  Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften (1921)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)