Wahrnehmung

Denken Sie: Sie sehen eine rote Blume an. Dasjenige, was sie mit der roten Blume erleben, das veranlaßt Sie zunächst, in Ihnen einen Zerstörungsprozeß hervorzurufen. Das wissen Sie bloß nicht. Aber was da zerstört ist, das spiegelt sich in der Seele zurück und das bewirkt, daß Sie dann die rote Blume als Vorstellung, als Wahrnehmung haben. Sie müssen also zuerst in sich selber ein Abbild schaffen von der roten Blume dadurch, daß Sie die sprießenden, sprossenden Prozesse abbauen, und indem Sie diese abbauen, schaffen Sie das, was Sie dann sehen. [1]

Eigentlich gehören nicht nur Denken, Fühlen und Wollen zum Innenleben des Menschen, sondern es gehört auch schon das dazu, was er aus der bloßen Sinnesempfindung macht. Wir lassen ja Farben und Töne, Wärmeeindrücke und dergleichen nicht nur vor unserem Bewußtsein vorüberhuschen, sondern wir fassen diese Eindrücke auf, wir machen sie zu unseren Wahrnehmungen. Und die Tatsache, daß wir uns an diese Eindrücke erinnern können, daß wir sie behalten können, das bezeugt uns, daß das Empfindungsleben, das Wahrnehmungsleben, durch das wir uns mit der Außenwelt in Berührung bringen, auch schon zu unserem Innenleben gehört. [2]

Wenn der Mensch in der gegenwärtigen Epoche des kosmischen Werdens mit den Sinnen wahrnimmt, so ist dies Wahrnehmen ein augenblickliches Aufleuchten von Weltbildern im Bewußtsein. Das Aufleuchten kommt, wenn der Sinn auf die Außenwelt gerichtet ist; es durchhellt das Bewußtsein; es verschwindet, wenn der Sinn sich nicht mehr an die Außenwelt richtet. Was da in der Menschenseele aufleuchtet: es darf nicht Dauer haben. Denn brächte der Mensch es nicht rechtzeitig aus seinem Bewußtsein heraus; er verlöre sich an den Bewußtseins-Inhalt. Er wäre nicht mehr er selbst. Nur kurze Zeit, in den sogenannten Nachbildern, die Goethe so sehr interessierten, darf im Bewußtsein das «Leuchten» durch die Wahrnehmung leben. Es darf dieser Bewußtseins-Inhalt auch nicht zum Sein erstarren; er muß Bild bleiben. An etwas, das sich als Realität im Bewußtsein auslebte, würde sich der Mensch ebenso verlieren wie an das, was durch sich selbst Dauer hätte. Auch da könnte er nicht mehr er selbst sein. So ist das sinnenfällige Wahrnehmen der Außenwelt ein innerliches Malen der Menschenseele. Ein Malen ohne Malsubstanz. Ein Malen im Geistwerden und Geistvergehen. Wie der Regenbogen in der Natur ersteht und dahingeht, ohne eine Spur zu hinterlassen, so ersteht die Wahrnehmung und geht dahin, ohne daß sie Erinnerung durch ihr eigenes Wesen zurückläßt. Aber gleichzeitig mit jeder Wahrnehmung verläuft zwischen der Menschenseele und der Außenwelt ein anderer Vorgang. Ein solcher, der im mehr zurückliegenden Teile des Seelenlebens liegt. Da, wo die Wachstumskräfte, wo die Lebens-Impulse wirken. In diesem Teile des Seelenlebens prägt sich beim Wahrnehmen nicht nur ein vorübergehendes Bild, sondern ein dauerndes, reales Abbild ein. Das kann der Mensch ertragen, denn das hängt mit dem Sein des Menschen als Weltinhalt zusammen. Indem dies sich vollzieht, kann er ebensowenig sich verlieren, wie er sich verliert, da er ohne sein volles Bewußtsein wächst, sich ernährt. Wenn nun der Mensch seine Erinnerungen aus seinem Innern holt, dann ist das ein inneres Wahrnehmen dessen, was geblieben ist in dem zweiten Vorgang, der sich beim äußeren Wahrnehmen abspielt. Wieder malt die Seele, jetzt aber das im eigenen menschlichen Innern lebende Vergangene. Wieder darf im Bewußtsein bei diesem Malen kein dauerndes Reales, sondern nur ein erstehendes und vergehendes Bild sich formen. [3]

In den alten Zeiten konnte der Mensch, wenn er während eines kurzen Teils der 24 Stunden, der viel geringer war als heute, im Tagesbewußtsein lebte, die äußeren physischen Körper nur ganz dumpf, wie in einem Nebel eingehüllt, sehen. Daß man die physischen Dinge so sah wie heute, kam erst ganz langsam. Am Tage sah der Mensch damals die ersten Anklänge an die physischen Körper. Und wenn er in Schlaf kam, versank er nicht in Bewußtlosigkeit, sondern dann tauchten während des Schlafbewußtseins Bilder auf, Bilder in Farben und in Formen. Um den Menschen herum war dann eine Welt, gegen welche die lebendigste Traumwelt von heute nur ein schwacher nebelhafter Nachklang ist. Diese Bilder bedeuteten Seelisches und Geistiges in der Umgebung. [4]

Durch den Ätherleib kann der Mensch nicht so nach außen schauen, wie er heute nach außen schaut. Er kann nicht eine solche Anschauung, ein solches Weltbild gewinnen, wie es das heutige ist, sondern durch den Ätherleib kommt alles von innen. Der heutige Mensch bekommt nur noch ein schwaches, mattes Bild von der Art, wie die Anschauung durch den Ätherleib zustande kommt, wenn er sich erinnert, wie seine Träume sind. Nur waren das im höchsten Grade lebendige Träume und Visionen, was (beispielsweise noch) in der urindischen Zeit die Menschen voneinander wußten. [5]

Zitate:

[1]  GA 162, Seite 16   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[2]  GA 153, Seite 73f   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[3]  GA 26, Seite 213f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[4]  GA 103, Seite 51f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[5]  GA 133, Seite 122f   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 133:  Der irdische und der kosmische Mensch (1911/1912)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)