Erkenntnis

Die gegebene Welt mit Begriffen und Ideen durchdringen, ist aber denkende Betrachtung der Dinge. Das Denken ist somit tatsächlich der Akt, wodurch die Erkenntnis vermittelt wird. Nur wenn das Denken von sich aus den Inhalt des Weltbildes ordnet, kann Erkenntnis zustande kommen. Das Denken selbst ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt im Momente des Erkennens hervorbringt. Soweit also der erkannte Inhalt aus dem Denken allein fließt, bietet er für das Erkennen keine Schwierigkeit. Hier brauchen wir bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben. Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens. In der Tat war auch die Logik nie etwas anderes als eine Beschreibung der Denkformen, nie eine beweisende Wissenschaft. Der Beweis tritt erst ein, wenn eine Synthesis des Gedachten mit anderweitigem Weltinhalte stattfindet. [1]

Wer alles begreiflich findet, der braucht natürlich nichts zu begreifen von den oder jenen tieferen Ursachen. Alles begreiflich finden in der Welt, heißt eigentlich nur, allem gegenüber oberflächlich sein. Denn für das gewöhnliche Bewußtsein sind in der Tat die meisten Dinge in Wirklichkeit unbegreiflich. Und verwundert stehenbleiben können, vor den Unbegreiflichkeiten selbst des alleralltäglichsten Daseins, das ist im Grunde genommen erst der Anfang für wirkliches Erkenntnisstreben. [2]

Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich der Außenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Die Dinge sind nur so lange äußere Dinge, so lange man sie bloß beobachtet. Wenn man über sie nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur. Nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden, aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Goethe betrachtet es daher als einen Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente und objektive Versuche in das Innere der Natur dringen will, denn der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will. (Denn) nur von sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen, (denn) er muß anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, zum Beispiel in den Stoß zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper stößt den anderen», ist bereits anthropomorphistisch. Denn man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges hinauskommen will, das Ergebnis auf ihn übertragen, das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. [3]

Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äußeren Erscheinungen deutet. [4]

In dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustande kommen soll. Und das ist doch gerade das, worauf es ankommt. Das ist gerade der Grund, warum mir die Dinge so rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfach vor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das Betrachten alles Weltgeschehens als das Denken. Wer das Erleben des Menschen so ansieht, dem ist auch klar, welchen Sinn innerhalb des ganzen Weltprozesses das menschliche Erkennen hat. Es ist nicht eine wesenlose Beigabe zu dem übrigen Weltgeschehen. Eine solche wäre es, wenn es eine bloße ideelle Wiederholung dessen darstellte, was äußerlich vorhanden ist. Im Erkennen vollzieht sich aber, was in der Außenwelt sich nirgends vollzieht: Das Weltgeschehen stellt sich selbst sein geistiges Wesen gegenüber. Ewig wäre dieses Weltgeschehen nur eine Halbheit, wenn es zu dieser Gegenüberstellung nicht käme. Damit gliedert sich das innere Erleben des Menschen dem objektiven Weltprozesse ein; dieser wäre ohne es unvollständig. Es ist ersichtlich, daß nur das Leben, das vom inneren Sinn beherrscht wird, den Menschen in solcher Weise über sich hinaushebt, sein im eigensten Sinne höchstes Geistesleben. Denn nur in diesem Leben enthüllt sich das Wesen der Dinge vor sich selbst. Anders liegt die Sache mit dem niederen Wahrnehmungsvermögen. Das Auge zum Beispiel, das das Sehen eines Gegenstandes vermittelt, ist der Schauplatz eines Vorganges, der irgend einem anderen äußeren Vorgange, gegenüber dem inneren Leben, völlig gleich ist.

Meine Organe sind Glieder der räumlichen Welt wie die anderen Dinge, und ihre Wahrnehmungen sind zeitliche Vorgänge wie andere. Auch ihr Wesen erscheint nur, wenn sie ins innere Erleben versenkt werden. Ich lebe also ein Doppelleben: das Leben eines Dinges unter anderen Dingen, das innerhalb seiner Körperlichkeit lebt und durch seine Organe das wahrnimmt, was außer dieser Körperlichkeit liegt; und über diesem Leben ein höheres, das kein solches Innen und Außen kennt, das überspannend über die Außenwelt und über sich selbst sich dehnt. Ich werde also sagen müssen: einmal bin ich Individuum, beschränktes Ich; das andere Mal bin ich allgemeines, universelles Ich. [5]

Wer bloß beobachtet, was ihm die Sinne darbieten, der gelangt zu keiner Erkenntnis. Der Geist, das Geistesauge, das die Erscheinungen bewertet, die eine als maßgebend, die andere als unwesentlich ansieht, ist der Quell des Erkennens. [6] Wer den Geistesblick hat, dem geht an der einzelnen richtig gewählten Erscheinung ein großes Gesetz auf (beispielsweise die Pendelgesetze an einer schwingenden Kirchenlampe für Galilei). [7] Das Besondere unterliegt in der Natur dem Allgemeinen, weil es von ihm beherrscht wird; im menschlichen Geiste muß sich das Allgemeine dem Besonderen fügen, weil jenes nur an diesem erkannt werden kann. Die Einheit macht alles identisch; die Unterschiede lösen alles in unendlich viele Atome auf. Die richtige Mitte zwischen beiden zu halten, ist eine Forderung für den Menschengeist. [8] Anm1 (und [9] )

Die Unterscheidung von Ursache und Wirkung geht innerhalb des Verstandes vor sich. In der Wirklichkeit geht die Ursache in die Wirkung über, ohne daß zwischen beiden eine reale Grenze liegt. Wer bei den isolierten Begriffen stehen bleibt, dem fallen Ursache und Wirkung auseinander. Wer in das Wesen der Erscheinungen dringt und die Ideen aus ihnen herausholt, für den verschwindet die Trennungslinie wieder. [10] Das Entstehen, Werden kann nicht von dem Verstande erfaßt, nicht in Begriffen dargestellt werden. Es ist Gegenstand der Vernunft. Der Verstand setzt an die Stelle des Werdenden eine Folge von isolierten, schon dagewesenen Einzeldingen. [11]

Zitate:

[1]  GA 3, Seite 59   (Ausgabe 1958, 88 Seiten)
[2]  GA 236, Seite 82   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)
[3]  GA 1, Seite 332uf   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[4]  GA 1, Seite 338   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[5]  GA 7, Seite 29f   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[6]  GA 1e, Seite 367.Anm6   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[7]  GA 1e, Seite 368.Anm18   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[8]  GA 1e, Seite 369   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[9]  GA 1e, Seite 369.Anm4   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[10]  GA 1e, Seite 372.Anm9   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[11]  GA 1e, Seite 374.Anm1   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 1e:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band V (1897)
GA 3:  Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer «Philosophie der Freiheit» (1892)
GA 7:  Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901)
GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)