Nirvana

Sehen Sie, wenn Sie nach dem Orient blicken, mit dem ja durchaus die Quellen unseres religiösen Lebens in historischer Beziehung zusammenhängen, haben Sie, sagen wir, das indische religiöse Leben. Woraus nährt sich denn dieses indische religiöse Leben? Es nährt sich aus der Naturwahrnehmung, aber die Naturwahrnehmung war für die Inder eben ganz etwas anderes, als sie es für den modernen Menschen ist. Diese Naturwahrnehmung war für den Inder durchaus so, daß man sagen kann: Er nahm, indem er die Natur beobachtete, geistig wahr, aber er nahm nur solches geistig wahr, das unterhalb der eigentlichen Wesenheit des Menschen lag. Er nahm geistig wahr die mineralische Welt, die pflanzliche Welt, die tierische Welt, er war sich sogar einer göttlich-geistigen Grundlage dieser Welt bewußt; aber wollte er zu dem Menschlichen selbst kommen, dann enthüllte sich ihm das nicht in seiner Welt. Da, indem er das eigentliche Wesen des Menschen heraufbringen wollte in die Welt, die er hatte, da ergab sich ihm nichts: Nirwana, Eintritt ins Nichts gegenüber dem, was (in bezug auf den Menschen] wahrgenommen werden konnte. Daher diese Inbrunst (des indischen religiösen Lebens], das durchaus noch in dem Zeitalter lag, wo Theologie, Religion und Wissenschaft eins waren, für das Nirvana. [1]

Denken Sie sich einen Menschen, der zunächst durch Karma bestimmt wird; durch Handlungen, Gedanken, Gefühle aus der Vergangenheit. Man denke sich ihn dann so weit vorgeschritten, daß er alles Karma ausgelöscht hat, also dem Nichts gegenübersteht. Wenn er dann noch handelt, sagt man im Okkultismus: Er handelt aus dem Nirvana heraus. Aus dem Nirvana heraus erfolgten zum Beispiel die Handlungen eines Buddha, eines Christus, wenigstens zum Teil. Der gewöhnliche Mensch nähert sich dem nur dann, wenn er künstlerisch, religiös oder weltgeschichtlich inspiriert wird.

Das intuitive Schaffen kommt aus dem «Nichts». Wer dazu kommen will, muß völlig frei von Karma werden. Er kann dann seine Impulse nicht mehr aus dem nehmen, woraus der Mensch sie gewöhnlich nimmt. Die Stimmung, die ihn dann überkommt, ist die der Gottseligkeit, die als Zustand auch Nirvana genannt wird. [2] Wenn der morgenländische Okkultist sich solche Dinge zurechtlegt, so sagt er: Unser ganzes Leben ist so, als wenn wir ringsum von Grenzen umgeben wären durch Handeln, Sprechen, Denken. Wenn wir uns das alles wegdenken, bleibt für den gewöhnlichen Menschen kaum mehr etwas übrig. Daß er dann noch etwas hat, ist das Ergebnis der Esoterik, wenn er über alles das hinausgegangen ist. Was dann noch bleibt, das ist das Erlebnis des Nirvana. [3]

Das Böse ist nichts anderes, als das nach außen geworfene, im Inneren des Menschen notwendige Chaos. Und in diesem Chaos, in dem, was im Menschen sein muß, aber auch in ihm bleiben muß als ein Herd des Bösen, in dem muß das menschliche Ich, die menschliche Egoität erhärtet werden. Diese menschliche Egoität kann nicht jenseits der menschlichen Sinnessphäre in der Außenwelt leben. Daher verschwindet das Ich-Bewußtsein im Schlafe, und wenn es auftritt in den Träumen, so erscheint es sich oftmals fremd oder geschwächt. Das Ich, das da in dem Herd des Bösen im Inneren eigentlich erhärtet wird, das kann da nicht hinein jenseits der Sphäre der Sinneserscheinungen. Daher die Anschauung des altorientalischen Weisen, daß man nur durch Hingabe, durch Liebe, durch Aufgabe des Ich da eindringen kann, und daß, wenn man ganz eindringt, man nicht mehr lebt in einer Welt des Vana, des Webens in dem Gewohnten, sondern in der Welt, wo dieses gewohnte Dasein verweht ist, Nirvana ist. Diese Auffassung des Nirvana, des höchstgesteigerten Hingebens des Ich, wie es im Schlafe vorhanden ist, war so in vollbewußter Erkenntnis vorhanden für die Schüler der altorientalischen Zivilisation. [4]

Das (heutige) «Aufgehen in Nirvana», das ja schon eine «heilige Lehre des Orients» geworden ist, ist weit entfernt von der alten Auslegung des Nirvana, das eigentlich ein Anstreben des Äquilibrium aus dem alten Hellsehen heraus war. Was sich der dekadente Orientale heute noch immer unter dem Nirvana vorstellt, ist die verluziferisierte Welt. [5]

Zitate:

[1]  GA 343, Seite 27   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[2]  GA 93a, Seite 123f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[3]  GA 93a, Seite 127   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[4]  GA 207, Seite 27   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[5]  GA 203, Seite 140   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)

Quellen:

GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)
GA 207:  Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)