Furcht

Die ahrimanischen Wesenheiten gaben Gefühlen, die ohne sie ganz anders gewirkt hätten, die Eigenschaften der Furcht. [1] In dem Furcht- und Angstgefühl ist es so, daß wir uns gleichsam schützen wollen gegen etwas, von dem wir glauben, daß es auf uns einwirkt: wir zucken mit unserem Ich zurück, da wird der Mensch bleich, das Blut zieht sich zurück zum Zentrum, nach innen. [2]

Ein Sich-Hinbewegen zum Erleben solcher Erlebnisse, wie sie bewußt beim Hüter der Schwelle gemacht werden können, wie sie aber instinktiv mehr oder weniger von den Menschen nach und nach im Zeitalter der Bewußtseinsseele gemacht werden müssen – ein Hingedrängtwerden zu den Erfahrungen beim Hüter der Schwelle in einer bestimmten, wenn auch äußerlichen Form, das ist es, was wie ein Impuls, wie ein Instinkt, wie ein Trieb in den modernen Menschen wirkt, und was sie fliehen. Sie fürchten sich, dahin zu kommen, wohin sie eigentlich kommen sollten. Der Mensch strebt danach, zu erkennen, was er ist als Mensch, welche Kraft er hat, was seine Würde ist als Mensch. Der Mensch strebt danach, sich als Menschen selber anzuschauen, endlich zu einem Bilde des Menschen zu kommen, wenn man in der Sinneswelt stehenbleiben will, denn der Mensch erschöpft sich nicht in der Sinneswelt, der Mensch ist nicht bloß ein sinnliches Wesen. In den Zeitaltern der instinktiven Entwickelung, wo man nicht nach einem Bilde des Menschen oder nach der Menschenwürde oder nach der Menschenkraft fragt, da kann man vorbeigehen an der Tatsache, daß, wenn man den Menschen erkennen will, man aus der Sinneswelt hinausgehen und in die geistige Welt hineingehen muß, daß man mit der übersinnlichen Welt wenigstens in irgendeiner Form intellektuell in unserem Zeitalter des Bewußtseins, Bekanntschaft machen muß. Da wirkt aber dann unbewußt dasselbe, was bewußt der zu Initiierende zu überwinden hat. Unbewußt wirkt zunächst noch in unseren Zeitgenossen diese Furcht vor dem Unbekannten, das betrachtet werden muß. Furcht, Mutlosigkeit, Feigheit, das ist es, wovon die moderne Menschheit beherrscht ist. [3]

Gerade auf dem Wege, der sich in dem Zeitalter entwickelt, in dem die Bewußtseinsseele voll erwachen soll, sind am wirksamsten die Abbaukräfte. Die Abbaukräfte, die Todeskräfte, die lähmenden Kräfte – der Mensch wendet gern sein Antlitz von ihnen ab; dadurch aber macht er sich blind und lernt nicht mitarbeiten an der Evolution, weil er die Abbaukräfte flieht. Das zweite, mit dem der Mensch sich bekanntmachen muß und was er wiederum flieht, das ist, daß der Mensch unbedingt dahin kommen muß, sich gewissermaßen einen neuen Schwerpunkt seines Wesens zu suchen. Der Mensch muß sich gewissermaßen an den Abgrund stellen, muß unter sich die Leere, den Abgrund fühlen, weil er in sich den Mittelpunkt seines Wesens finden muß. Davor scheut der Mensch zurück, davor hat er Furcht. – Und das dritte ist: Der Mensch muß in voller Gewalt kennenlernen, wenn er sich gegen die Zukunft hin entwickelt, den Impuls der Selbstsucht, des Egoismus. Anders, als daß man über den Abgrund der Selbstliebe hinüberkommt, läßt sich nicht eintreten in das Zeitalter, das notwendig eine soziale Struktur hervorbringen muß, als durch Liebe, die nicht Selbstliebe ist, die Liebe für den andern Menschen, Interesse am anderen Menschen ist. Das empfinden die Menschen wie etwas Brennendes, wie etwas, was sie verzehrt. [4]

Zitate:

[1]  GA 13, Seite 256   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[2]  GA 128, Seite 117   (Ausgabe 1978, 186 Seiten)
[3]  GA 186, Seite 207   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[4]  GA 186, Seite 208ff   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 128:  Eine okkulte Physiologie (1911)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)