Sokrates

Sokrates ist der wiederverkörperte alte Silen, der wiederverkörperte Lehrer des Dionysos. [1] Das Frühere (in der Entwickelung) muß immer in das Spätere hinübergenommen werden, und ebenso muß in dem Früheren das Spätere vorausgenommen werden. Buddha hatte die Aufgabe, die Kultur der Empfindungsseele aus der vorhergehenden Epoche, aus der dritten, in die vierte hinein zu bewahren. Sokrates steht ebenso in der Verstandes- oder Gemütsseelenzeit darinnen. Er appelliert an die einzelne Individualität des Menschen, an das, was erst in unserem 5. Kulturzeitalter recht herauskommen kann. Er hat hereinzunehmen in einer noch abstrakten Form die Bewußtseinsseelenzeit in die Zeit der Verstandesseele. Sokrates nimmt herein, was für ihn Zukunft ist, was das Charakteristikon der Bewußtseinsseelenzeit ausmacht. Daher erscheint es in seiner Zeit wie ein Nüchternes, wie ein bloß Verstandesmäßiges, wie ein Trockenes. [2] Sokrates tritt an den Menschen heran mit der Voraussetzung: in ihm ist das Gedankenleben; es braucht nur geweckt zu werden. Deshalb richtet er seine Fragen so ein, daß der Gefragte zum Erwecken seines Gedankenlebens veranlaßt wird. Darinnen liegt das Wesentliche der sokratischen Methode. [3] Sokrates hatte telepathische Kräfte, die er auf seine Schüler übergehen ließ, während er sie belehrte. Solche Dinge werden angedeutet in Platos Schriften. Solches kann in unserer Zeit nicht mehr wirken. Heute würde es selbstverständlich eine verwerfliche Untugend sein, was damals durchaus berechtigt war. [4] Sowohl Plato wie Xenophon stellen Sokrates so dar, daß man den Eindruck hat: in ihm spricht überall seine persönliche Meinung; aber die Persönlidikeit trägt das Bewußtsein in sich: Wer seine persönliehe Meinung aus den rechten Gründen der Seele herausspricht, der spricht etwas aus, was mehr ist als Menschenmeinung, was ein Ausdruck ist der Absichten der Weltordnung durch das menschliche Denken. – Sokrates wird von denen, die ihn zu kennen glauben, so aufgenommen, daß er ein Beweis dafür ist: in der Menschenseele kommt denkend die Wahrheit zustande. [5] Die Furcht vor dem Verrat der Mysterien führte das tragische Ende so mancher Großen herbei. Einem solchen Urteile fiel auch Sokrates zum Opfer, obgleich mit Unrecht. [6] (Weiteres siehe: Plato).

Zitate:

[1]  GA 129, Seite 157   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[2]  GA 139, Seite 88   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 18, Seite 70   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[4]  GA 106, Seite 60   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[5]  GA 18, Seite 66f   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[6]  GA 92, Seite 105   (Ausgabe 1999, 198 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie. in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 92:  Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Griechische und germanische Mythologie. Über Richard Wagners Musikdramen (1904-1907)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)