Uroffenbarung

Die einzelnen Religionen über die Erde hin sind die in die Dekadenz gekommenen Fragmente der Uroffenbarung. [1] Man braucht nur einmal den Blick auf Origenes zu werfen und man wird finden, wie schon durch Origenes versucht wird, alles, was zu seiner Zeit an philosophischer Vertiefung hat gewonnen werden können, hereinzutragen in das christliche Denken. Und so finden wir denn auch bei den älteren Kirchenvätern durchaus ein Bewußtsein davon, daß es einstmals in der Menschheit eine Uroffenbarung gegeben hat. [2] Da war ein unmittelbar seelisches Erleben durchaus mit dem Charakter eines leiblichen Erlebens vorhanden. Was in jener alten Epoche erlebt worden ist beim Einatmen, das war im wesentlichen eine Imagination; die Imagination des Menschen selber, die Imagination des Menschen als Gestalt wurde erlebt im Einatmen. Er erlebte das in Augenblicken, wo das alltägliche Bewußtsein etwas herabgestimmt war. Das war dazu notwendig. Wir würden heute sagen, in Zuständen, die sich dem Einschlafen oder Aufwachen nähern, da erlebte er mit dem Einziehen des Atmungsprozesses die Gestalt des Menschen; mit dem Anhalten des Atems erlebte er das Zusammengehen dieser Gestalt mit dem inneren Seelenhaften. Dann, im Ausatmen, erlebte er das Sich-Hingeben des Seelischen an die Außenwelt, den Zusammenklang des Menschen mit der Außenwelt. Was man das Joga-Atmen nennt, das ist eine Erbschaft aus (dieser) früheren Zeit. [3]

Die Uroffenbarung konnte stattfinden aus dem Grunde, weil in den alten Zeiten der Erdentwickelung der menschliche Kopf noch nicht so weit vorgeschritten war, wie er es in unserer Zeit ist, oder wie er es auch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha schon war. Es war noch lebendig. Der Kopf war noch erfüllt mit der Möglichkeit Träume zu haben, die nicht mit dem zusammenhingen, was allein Erdenerfahrung und das Erdenerlebnis gibt. Er war in der Lage, in sich wieder hervorzurufen, was der Mensch in alten Traumerlebnissen also bei einem herabgedämmerten Bewußtsein gegenüber dem unsrigen – zur alten Mondenzeit hatte. [4]

Eine alte Weisheit war über die Menschheit hin ergossen. Aus dieser Weisheit wurde vieles gesagt über die Wesen, die die Natur beherrschen, über die Kräfte, die die Natur beherrschen, aber sehr wenig von dem Menschen selbst. Der Mensch war ja noch nicht zu seinem irdischen Bewußtsein gekommen. [5] Aber man war in der Zeit des Mysteriums von Golgatha noch nicht durchgedrungen zur Selbsterfassung, zur Selbsterkenntnis des Menschen. Zwei Dinge waren da, als das Mysterium von Golgatha in die Erdentwickelung eingriff: Verglimmende altheidnische Weltenweisheit und Menschheitsbewußtsein in Form von Volksbewußtsein (des hebräischen Volkes). Da hinein wurde gestellt das Mysterium von Golgatha. Man konnte es nur begreifen mit dem, was da war. Der Rest der alten Weisheit zeigte sich in der gnostischen Auffassung des Ereignisses von Golgatha. Dabei zeigte sich allerdings folgendes. Der alten heidnischen Weisheit ging, weil sie eine verglimmende war, weil ihr Ursprung weit zurück lag, immer mehr und mehr die Fähigkeit verloren, von den Menschen begriffen zu werden. Die Menschen wurden viel zu bequem, die in gnostischer Form auftretende Weisheit über das Mysterium von Golgatha weiter fortzupflanzen. Nur ganz dünne Reste des alten heidnischen Weltbegreifens blieben zurück. Die letzten Reste der heidnischen Weisheit, deren Ursprung man nicht mehr erkannte, blieben zurück als Begriffe für dasjenige, was nun naturwissenschaftliche Erfahrung ist. Mit den letzten Resten alter heidnischer Weisheit begriffen Galilei, Giordano Bruno, Kopernikus dasjenige, was an neuen Welterfahrungen vorliegt. [6]

Also auf ein Ur-Wissen werden wir da zurückgeführt. Wenn der Unbefangene nun die Jahrhunderte durch das Römertum, Griechentum, Ägyptertum zurückgeht, so kommt er zurück zu einer Menschheit, die einmal ein Wissen gehabt hat, das ausgebreitet war über die Welt auf eine Weise, wie es der gegenwärtige Mensch nicht erringen kann. Aber trotz all dieser Theorien von dem Affenmenschen muß der Unbefangene, wie gesagt, aus wirklichen Urkunden selbst heute annehmen, daß da ursprünglich ein Wissen war, welches der Mensch eben mit seiner gegenwärtigen Gescheitheit nicht erreichen kann, das unendlich tief ist und das sich über die geistigen Welten in einem hervorragenden Maße so erstreckt, daß in diesem Wissen enthalten ist nicht nur ein Bewußtsein davon, daß man hinaufsteigen kann in geistige Welten, sondern daß man in diesen geistigen Welten andere Wesen findet, die nicht im Fleisch verkörpert sind, Wesen, die wir heute zusammenfassen, wenn wir von den höheren Hierarchien der Angeloi, Archangeloi und so weiter sprechen. Wir finden sogar in diesen uralten Religionsschriften, daß die Leute von diesen höheren Geistwesen wie von Wesen sprechen, mit denen sie verkehrt haben. Wie gesagt, das läßt sich aus den Schriften selber nachweisen. Was liegt dieser Tatsache zugrunde? Nun kann man ja von einem gewissen Gesichtspunkte einer Initiiertenstufe unmittelbar hinter dieses Geheimnis, das hiermit angedeutet ist, kommen. Aber man kann schon, ich möchte sagen, von einem gewissen niedrigeren Initiations-Standpunkte, von dem ganz gewöhnlichen leicht zu erreichenden Initiations-Standpunkte, durch einen Analogieschluß zu dem kommen, was eigentlich diesem Geheimnis zugrunde liegt. [7]

Wir wissen ja, daß um uns herum sich in der Welt nicht bloß dasjenige ausbreitet, wovon die heutige Sinnes-Wissenschaft spricht, sondern daß dieser Natur, von der wir heute sprechen, zugrunde liegt die sogenannte elementarische Welt, zugrunde liegt die Welt, für die wir nur Bezeichnungen haben, wenn wir auf die alte Mythologie zurückgehen, in den verschiedenen Elementarwesen, die zugrunde liegen dem mineralischen Reich als Gnomen, dem wässerigen, pflanzlichen Reich als Undinen, dem luftförmig belebten Reiche als Sylphen, und dem ganzen Irdischen als Salamanderwesen. Diese Wesen haben ihre gute Aufgabe in der Welt. Sie haben zu tun in der Art, von der man allerdings meint in der äußeren materialistischen Wissenschaft: es macht sich alles von selbst. Aber es macht sich nicht von selbst! Derjenige, dessen Augen geöffnet sind für diese elementarische Welt, der sieht, wie diese elementarischen Wesen im Grunde genommen wirklich im Verlaufe des Jahres eine Art Jahreskursus durchzunehmen haben: wie in anderer Weise gewirkt wird von den geistigen Welten herunter auf diese Wesen im Frühling, im Sommer, im Herbst, im Winter, das heißt wie sie hier auf der Erde um uns herum ein elementarisches Reich ausbreiten, das in der angedeuteten Weise dem Naturreich zugrunde liegt, und wie sich herunterströmend ergießt, man kann nicht sagen ein Unterricht, aber etwas, was an Kräften sich ergießt, damit diese Wesen im Frühling die Macht bekommen, aus der Erde die Pflanzendecke herauszuformen. Es tragen herunter die Kräfte der Geister der Form, der Exusiai gewisse Geistwesenheiten, die sie diesen elementarischen Wesenheiten mitteilen, so daß eine neue Formenwelt im Frühling heraussprießt. Indem es dem Sommer zugeht, bekommen sie gleichsam einen späteren Kursus, so daß sie dasjenige wieder bewirken können, was gegen den Sommer zu sich vollzieht. Und so vollzieht sich im Jahreslauf eine Wechselwirkung zwischen den Geistern der höheren Hierarchien und den elementarischen Wesenheiten, die weben und leben in der Natur, die uns umgibt. Das heißt, wir haben es fortwährend zu tun mit einem Auf- und Abschweben, mit einem Auf- und Abströmen von Geistwesenheiten der höheren Hierarchien, deren Zöglinge, deren Schüler die Wesenheiten sind, welche die belebenden Kräfte wieder abzugeben haben für alles dasjenige, was im Jahreslauf sprießt und sproßt. [8] So aber wie heute Sylphen und Gnomen und Undinen und Salamander ihre Einflüsse erhalten von diesen Wesen der höheren Hierarchien, die auf- und niedersteigen, je nach dem Jahreslauf, so bekam der Mensch, als er noch nicht so dicht mit seinem physischen Leibe verwachsen war, in alten Zeiten den Unterricht von den auf- und abschwebenden Geistern der höheren Hierarchien. Und all die Sagen und Mythen, die geblieben sind und die uns sagen, daß in alten Zeiten der Mensch den Unterricht solcher Wesen genossen hat, die selber herunterstiegen aus der geistigen Welt, diese Mythen beruhen durchaus auf Wahrheit.

Und in denjenigen Zeiten, die vorangehen dem 8. vorchristlichen Jahr-hundert, sind die letzten Reste dieser Uroffenbarung zu der Menschheit heruntergeflossen. Geradezu können wir das Jahr 747 angeben, in dem gewissermaßen der Mensch durch die weitere Entwickelung seiner physischen Natur ausgeschlossen worden ist von der unmittelbaren Teilnahme an solchem Unterricht. Alles dasjenige, was alte Wissenschaft war, ist auf diese Weise durch den unmittelbaren Unterricht der geistigen Wesenheiten in die Menschen hineingeflossen. Und die uralten Wissenschaften, die überliefert sind und die heute nicht mehr verstanden werden, sind auf diese Weise den Menschen zugekommen. Durch diese Uroffenbarung hat er erfahren den Zusammenhang, in dem er selbst als Mensch steht mit den geistigen Welten. Denn der Mensch ist ein Mikrokosmos, und in ihm spielen alle die Kräfte und Vorgänge im Kleinen sich ab, die sonst sich in der großen Welt abspielen. Das Letzte, was der Mensch auf diese Weise gelernt hat, was von außen ihm zugeflossen ist, das ist Geometrie und Arithmetik. Und derjenige, der heute noch Geometrie und Arithmetik im wahren Sinne des Wortes auf sich wirken läßt, wird noch etwas verspüren davon, daß darin etwas anderes an ihn herankommt als anderes Wissen. Anderes Wissen sammelt man so aus der Erfahrung zusammen. Aber Geometrie und Arithmetik ist etwas, worinnen man spürt, daß es wahr ist abgesehen von der äußeren Erfahrung, abgesehen von aller Sinneserfahrung. Im weiteren Umfange aber liegt dem, was da als Geometrie und Arithmetik gedacht wird, zugrunde alles dasjenige, was in den Formen der Baukunst zum Ausdruck kommt. Schon in den Zeiten der Ägypter wurde angeschlossen an noch Älteres, an ein Urwissen, darin geoffenbart wurde die Geometrie und Arithmetik. In den griechisch-lateinischen Zeiten wurde dann dasjenige, was altes Wissen war, in den Mysterien den Menschen so vermittelt, daß man ihnen sagte: Wenn du dich recht in dich vertiefst, dann bringst du das aus dir heraus, was in früheren Zeiten, in denen du auf der Erde gelebt hast, von den Geistern der höheren Hierarchien geoffenbart worden war. – In den ägyptischen Mysterien brauchte man das nicht zu tun, da kamen die hohen Wesen noch selber herab. In der griechisch-lateinischen Zeit versammelte der Meister seine Schüler, indem er ihnen sagte: Ihr wart da in früheren Inkarnationen, da gingt ihr durch eine Menschenentwickelung hindurch, woran teilnahmen die Geister der höheren Hierarchien. Das hat sich in euren Seelen festgesetzt – holt es herauf! – So ließ der Meister der griechischen, der römischen Mysterien noch dasjenige heraufholen, was auf diese Weise in der Menschenseele war. Denn alles ist in der Menschenseele zu finden, weil in der Uroffenbarung alles durch die Geister in die Menschen heruntergeströmt ist. Was wir heute aus uns herausbringen, das haben wir ja schon einmal durchlaufen im Unterricht von den höheren Hierarchien aus. Dann kam das Jahr 1413 – und da kann sich der Mensch nicht mehr dessen bewußt werden, denn da beginnt das materialistische Zeitalter. – Von da ab deckt die dichte Vereinigung der Seele mit dem physischen Leibe dieses, was da in unseren Seelen ist, zu. [9] Und über das 14. Jahrhundert hinaus fühlten sensitive Geister noch, daß gewissermaßen der Geist noch herein spielt. [10]

Die nächste Aufgabe, die nun da war, die war diese nunmehr zu appellieren an diejenigen Kräfte, welche an die Stelle der alten Auffassungskraft des Geistigen treten mußten. Und da kam es, daß es gewöhnlich zwei Wege waren. Der eine Weg war einfach der der Fortpflanzung durch Tradition. Man war zufrieden, man pflanzte das, was die Alten gesehen haben, was die Alten geoffenbart haben, durch Tradition fort. Dadurch entstanden viele geheime Gesellschaften. Aber es gab auch Leute, die bemühten sich, mit der neuen Seelenkraft, die heraufgekommen war, zu rechnen. Sie versuchten, dasjenige, was früher in ganz anderer Form, in Form des Bildes, in Form der unmittelbaren Anschauung da war, zu übersetzen in die Form der Verstandeskraft, die an den physischen Leib gebunden ist. Einer derjenigen, der sich nun bemühte, heraufzubekommen in das richtige Zeitverhältnis das ehemalige Bauprinzip, das uns natürlich in ganz anderer Weise in Bildern und Symbolen obliegt, das ist der große Amos Comenius. [11] (Siehe auch: Comenius, Amos).

Zitate:

[1]  GA 175, Seite 121   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[2]  GA 206, Seite 186   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[3]  GA 206, Seite 188ff   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[4]  GA 196, Seite 39f   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[5]  GA 196, Seite 40   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[6]  GA 196, Seite 41f   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[7]  GA 167, Seite 108ff   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[8]  GA 167, Seite 110f   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[9]  GA 167, Seite 112ff   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[10]  GA 167, Seite 119   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[11]  GA 167, Seite 124   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)

Quellen:

GA 167:  Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste (1916)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)