Theokratien

Wahr ist es, daß in den Zeiten der alten orientalischen Zivilisation gewisse auserlesene Individuen eine Art Verbindung suchten mit der geistigen Welt, eine Verbindung, die auf Dingen beruhte, für die wir heute allerdings nicht im geringsten mehr eine Neigung haben können. Sie beruhte auf gewissen Maßregeln, die sogar in sehr materieller Art mit dem menschlichen Körper vorgenommen wurden, gewissen Tränken, die gebraut, gewissen Stoffen, die genossen wurden. Man betrachtete es als ein Geheimnis, daß durch den Genuß dieser Tränke und Stoffe die gewöhnliche Art der Sinnestätigkeit des Menschen ausgeschaltet und der Mensch zurückgeführt werde in alte Zeiten. In Urzeiten der Erdentwickelung selber wollten sich jene Priestergelehrten dadurch zurückversetzen, daß sie ihren Stoffwechsel in eine Beziehung brachten zu gewissen Essenzen stofflicher Natur der Außenwelt. [1]

Was in dieser Weise heute als ein Weltgedächtnis von den Menschen erworben werden kann, das wird durchaus, ohne daß man das Physische bearbeitet, auf geistig-seelische Art durch geistig-seelische Übungen errungen. Das war in jenen älteren orientalischen Zeiten nicht der Fall. Da setzten sich die Menschen mit der geistigen Welt dadurch in Beziehung, daß sie ihre unbewußten Instinkte durch das Verbinden ihres Stoffwechsels mit Essenzen dieser oder jener Art aufstachelten. Sie wußten gewissermaßen, was aus ihrem Instinktleben heraus in einer Art traumhafter Vergeistigung entwickelt werden konnte aus jeder Pflanze, aus der Natur; sie wußten, wenn diese oder jene Pflanze genossen wird, so wird ihr Organismus so beeindruckt, daß sie sich in ein gewisses geistiges Geschehen versetzen können. Das war eigentlich die ursprüngliche Form, in der sich die führenden Priester der orientalischen Theokratien, die aber zu gleicher Zeit die volle Macht auch über die sozialen und politischen Gestaltungen hatten, mit der geistigen Welt in Verbindung setzten. Man darf sagen: Was dann später Glaube wurde, Aberglaube wurde, daß an dieses oder jenes Naturwesen dieser oder jener «Geist» sich kette, das ist schon ein dekadentes Kulturprodukt. In Wahrheit wollte ursprünglich gesagt werden: Wenn man diese Naturwesen auf sich in gewisser Weise wirken läßt, so wird man zu einer bestimmten Art von Geistwesen geführt, von denen man diese oder jene – auch sozialen Impulse empfangen könne. Und das Orakelwesen, das Sterndeutewesen, alles Astrologische war im Grunde genommen schon ein Produkt des Niederganges älterer Anschauungen. [2]

Vom Grund und Boden strahlte das Essentielle des Geistes so aus, daß der Mensch sagte: Was mir der Grund und Boden gibt, das Brot, das ist eine Gabe Gottes. Es wuchs die Theokratie nicht nur vom Himmel auf die Erde herunter, es wuchs die Theokratie mit jedem Weizenhalm aus dem Boden heraus. [3]

Zitate:

[1]  GA 83, Seite 203f   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)
[2]  GA 83, Seite 204   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)
[3]  GA 305, Seite 216   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)

Quellen:

GA 83:  Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie (1922)
GA 305:  Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben (1922)