Cusanus Nikolaus

Es begegnet uns in dieser Morgendämmerung der neueren Zeit (um 1450) beim Rückblick eine Persönlichkeit, an der wir gewissermaßen alles sehen können, was Übergang ist aus einer früheren Denkweise in eine spätere, es begegnet uns in dieser Morgendämmerung in der aber doch vieles lebt von Erinnerungen an dasjenige, was vorangegangen ist. Nikolaus Cusanus, der auf der einen Seite der große Kirchenmann war, der auf der anderen Seite einer der größten Denker aller Zeiten war. Und es begegnet uns in diesem Kardinal Nikolaus Cusanus, der als der Sohn eines Schiffers und Winzers im westlichen Deutschland 1401 geboren ist, der 1464 als ein (von der weltlichen Macht) verfolgter Kirchenmann gestorben ist, es begegnet uns in ihm eine Persönlichkeit, die wahrscheinlich sich selbst außerordentlich gut verständlich war, die aber in einer gewissen Beziehung dem nachherigen Beobachter für das Verständnis außerordentliche Schwierigkeiten macht. Der spätere Kardinal Nikolaus Cusanus ist also als der Sohn eines Winzers und Schiffers (in Kues an der Mosel) in der Rheingegend im westlichen Deutschland geboren. Er erhielt seine erste Erziehung in jener Gemeinschaft, die den Namen erhalten hat «Die Brüder vom gemeinsamen Leben». Da nimmt er seine ersten Jugendeindrücke auf. Diese Jugendeindrücke sind sonderbarer Art. Gewiß lebte wohl schon in dem Knaben Nikolaus etwas von einem menschlichen Ehrgeiz, der aber gemildert war durch eine außerordentlich geniale Begabung im Überschauen desjenigen, was in der Wirklichkeit des sozialen Lebens, also der sozialen Gegenwart des Nikolaus Cusanus notwendig war. Die(se) Brüder vom gemeinsamen Leben waren in einer gewissen Weise mystische Revolutionäre. Sie wollten alles dasjenige, was sie als ihr Ideal ansahen, eigentlich nur erreichen durch die Verinnerlichung eines friedvollen und in menschlicher Brüderlichkeit vollbrachten Lebens. Sie wollten nicht eine auf Gewalt begründete Herrschaft, wie sie die äußere Kirche hatte und damals wahrlich in keiner sympathischen Gestalt verwirklichte. Sie wollten aber auch nicht weltfremd werden wie die Angehörigen des Mönchtums. Sie wollten sich nicht von der Welt zurückziehen, sie wollten sich nur in einem der wirklichen Arbeit gewidmeten Leben jeweilig zurückziehen in die Tiefen ihrer Seelen, um neben der äußeren Lebenswirklichkeit, die sie als volle Lebenspraxis anerkannten, Tiefe und Innerlichkeit eines religiös-geistigen Empfindens finden zu können. Und in Deventer in Holland wurde Nikolaus Cusanus innerhalb dieser Gemeinschaft erzogen. Und so fügte bald der innere Drang, der in Nikolaus von Kues veranlagt war, zu der Innigkeit des Bruderlebens das Bestreben, in einem größeren Maße, in die Welt hinaustreten zu können. Das wurde ihm zunächst dadurch, daß er die Rechtswissenschaft studierte. Allein gerade die Zeit, in der er lebte, war ja eine solche, in der ein Chaotisches im sozialen Leben sich in alle Kreise hinein erstreckte.

Und so wurde er bald der Rechtspraxis überdrüssig und ließ sich als Priester der katholischen Kirche einkleiden. Er war dasjenige, was er jeweilig geworden war, ganz. Und so war er auch jetzt ganz Priester der damaligen Papstkirche. Er wirkte so auf den verschiedenen geistlichen Stellen, die ihm anvertraut wurden, er wirkte aber insbesondere so auf dem Konzil zu Basel. Da stellte er sich an die Spitze der Minorität, jener Minorität, welche eigentlich zuletzt das Bestreben hatte, die absolute Macht des päpstlichen Stuhles aufrechtzuerhalten. Nikolaus blieb fest in seiner Verteidigung des absoluten Papsttums. Man kann sich, wenn man genügend Einsicht hat, wohl vorstellen, welche Empfindungen Nikolaus Cusanus dazu drängten, man kann sich vorstellen, wie er sich sagte: Dasjenige, was heute aus einer Mehrheit herauskommen kann, das kann doch nur gewissermaßen eine etwas sublimierte Art des allgemeinen Chaos werden, das wir schon haben. Dasjenige, was er wollte, war eine feste Hand, um Organisation und Ordnung herbeizuführen. Er wollte allerdings die Taten dieser festen Hand durchdrungen haben von Einsicht, aber er wollte doch diese feste Hand. Und diese Forderung machte er auch geltend, als er später, nach Mitteleuropa geschickt, für die Befestigung der Papstkirche eintrat. So ward er eigentlich, man möchte sagen, mit Selbstverständlichkeit dazu bestimmt, ein Kardinal der damaligen Papstkirche zu werden. [1]

Da predigt Nikolaus Cusanus in der flammendsten Weise gegen die herandrängende Türkengefahr und stachelt die Gemüter auf, gegen diese Türkengefahr sich zu richten, Europas Zivilisation zu retten. Dann setzt er sich an den Schreibtisch hin und schreibt nieder eine Abhandlung darüber, wie im Grunde genommen Christen und Juden und Heiden und Mohammedaner alle, wenn man sie nur richtig versteht, erzogen werden können zu friedevollem Zusammenwirken, zu der Verehrung und Erkenntnis des einen, allmenschlichen Gottes, wie im Grunde genommen im Christen, Juden, Mohammedaner und Heiden ein Gemeinsames lebt, das nur herausgefunden zu werden braucht, um Friede unter allen Menschen zu stiften. Das sind solche Dinge, die es schwierig machen, eine Persönlichkeit wie Nikolaus Cusanus zu verstehen.

Allein was in der Seele des Nikolaus Cusanus vorging, man kann es am besten beobachten, wenn man die Stimmung dieser Persönlichkeit studiert, in der sie war, als er zurückkehrte von einer Mission, die er im Auftrage des Papsttums in Konstantinopel auszuführen hatte, wo er zu wirken hatte für die Versöhnung der abendländischen und morgenländischen Kirche. Auf der Rückfahrt, als er auf dem Schiffe ist, im Anblicke des gestirnten Himmels, geht ihm auf der Grundgedanke, man könnte auch sagen, das Grundgefühl jener Schrift, die er dann 1440 veröffentlichte unter dem Titel: «De docta ignorantia» – Von der gelehrten Unwissenheit. – Welche Stimmung lebt sich in dieser «docta ignorantia» aus? Nun, der Kardinal Nikolaus Cusanus hat natürlich längst aufgenommen in seiner Seele alles dasjenige, was durch das Mittelalter hindurch an Geist-Erkenntnis getrieben worden ist. Der Kardinal Nikolaus Cusanus war wohl bewandert in alledem, was der wiedererstandene Platonismus und auch der wiedererstandene Aristotelismus im Mittelalter erarbeitet hatten. Der Kardinal Nikolaus Cusanus war natürlich tief bekannt mit alldem, wie zum Beispiel Thomas Aquinas gesprochen hat über geistige Welten eben so, wie wenn es den Menschenbegriffen das Natürlichste wäre, von der Sinnes-Erkenntnis zur Geist-Erkenntnis aufzusteigen. Der Kardinal Nikolaus Cusanus verband mit alldem, was mittelalterliche Theologie war, eine gründliche Kenntnis desjenigen, was in der damaligen Zeit an mathematischen Erkenntnissen den Menschen zugänglich war. Nikolaus war ein außerordentlich guter Mathematiker, so daß sich das Gefüge seiner Seele zusammensetzte auf der einen Seite aus dem Bestreben, durch die theologischen Grundbegriffe sich zu erheben zu jener Geistwelt, die als göttliche sich dem Menschen offenbart; auf der anderen Seite lebte in dieser Seele alles dasjenige, was an innerer Denkdisziplin, an innerer Denkstrenge und auch an innerer Denksicherheit dem Menschen wird, wenn er sich in das mathematische Gebiet vertieft. [2]

Nikolaus hat wohl oftmals in seiner Seele diesen Ausblick getan und in Gedanken den Weg gemacht, wie der Gedanke sich zuerst erstreckt über dasjenige, was uns in dem Reiche der Natur umgibt, wie der Gedanke dann sich erheben will von diesem Reiche der Natur zur Göttlichkeit der Gedanken, wie er da immer dünner und dünner wird und endlich vollständig in Nichts zerflattert und nun weiß: Jenseits dieses Nichts, in das er als Gedanke zerflattert ist, liegt nun erst die Gottheit. Und nur wenn der Mensch in inniger Liebe, die er abseits von gedanklichem Leben entwickelt, den Weg, den dieser Gedanke im Blicke durchmacht, noch ein wenig weiter machen kann, wenn die Liebe einen Vorsprung gewinnt über den Gedanken, dann kann diese Liebe sich hineinerstrecken in dasjenige Gebiet, wohin das Gedankenwissen nicht reicht. Und so wurde es Nikolaus Cusanus eine Herzensangelegenheit, hinzuweisen auf das eigentlich göttliche Gebiet als auf dasjenige, vor dem der menschliche Gedanke erlahmt, vor dem das menschliche Wissen in Nichts zerflattert: docta ignorantia – gelehrte Unwissenheit. Und wenn die Gelehrsamkeit, wenn das Wissen, so sagte sich Nikolaus Cusanus, im edelsten Sinne die Gestalt annimmt, daß es sich selber aufgibt in dem Momente, wo es den Geist erreichen will, dann wird dieses Wissen das Beste, dann wird es docta ignorantia. Und aus dieser Stimmung heraus veröffentlichte Nikolaus Cusanus 1440 eben seine «Docta ignorantia». [3] Also er erkannte: Höher als alles Wissen und Erkennen ist das Nichterkennen. Aber dieses Nichtwissen ist ein Überwissen und dieses Nichterkennen ist ein Übererkennen. [4]

Eine so hohe Persönlichkeit wie Nikolaus Cusanus wirkte schon im gewöhnlichen Leben aus der Arupa-Sphäre (oberes oder formloses Devachan) heraus. Zwar handelt jeder Mensch aus der Arupa-Sphäre heraus, aber nur wenige wissen etwas davon. Je höher sich ein Mensch in der Zeit zwischen zwei Erdenleben in die Arupa-Sphäre erhoben hat, desto mehr kommt das Göttliche bei ihm zum Durchbruch. Cusanus hat ein Werk geschrieben über das Nicht-Wissen aus dem höheren Wissen heraus: «De docta ignorantia», Ignorantia heißt Nicht-Wissen, und Nicht-Wissen ist hier gleichbedeutend mit höherem Anschauen. In seinen Büchern hat er das folgende ausgesprochen: Es gibt einen Wahrheitskern in allen Religionen, wir brauchen nur tief genug in dieselben hineinzuschauen. – Er hat auch schon ausgesprochen, daß die Erde sich um die Sonne bewegt. Er hat das aus einer Intuition heraus gesagt. Kopernikus hatte diese Erkenntnis erst im 16. Jahrhundert, Cusanus bereits im 15.. Jahrhundert. Eine solche Inkarnation wie die des Cusanus ist im Zusammenhang zu betrachten mit seiner späteren Verkörperung. Cusanus weist schon hin einerseits auf die zukünftige Theosophie und andererseits auf die zukünftige moderne Naturwissenschaft. Das hatte Einfluß auf seine folgende Inkarnation. Nikolaus Cusanus war es, der (teilweise, als Astralleib) in Kopernikus wiedererschienen ist. [5]

Cusanus kann uns heute ein Vorbild sein. Er hat ausgesprochen, daß in allen Religionen ein Kern liegt, daß sie verschiedene Aspekte einer Urreligion sind, daß sie sich versöhnen sollen, daß sie vertieft werden sollen. Wahrheit soll man in ihnen suchen, nicht aber sich anmaßen, gleich die Urwahrheit selbst greifen zu können. Cusanus war ein tonangebender Geist des 15. Jahrhunderts, welcher schon damals eigentlich Theosoph war. Er war Kardinal. [6]

In dem Nikolaus von Kues steckte in einem seiner Wesensglieder eine sehr hohe alte Individualität. Dadurch war es möglich, daß sein Astralleib aufbewahrt wurde und hinübergeleitet wurde so, daß er eingewoben werden konnte dem Nikolaus Kopernikus. Daher konnte in Kopernikus gleichsam auferstehen, was Nikolaus von Kues in sich hatte. [7] Ein Stück des ägyptischen Hermes war in diesem Astralleib enthalten, ein wichtiges Stück. [8] In ihm lebte der astralische Leib Christi (Jesu) und dieser ging später über auf Kopernikus. [9]

Doch hat Nikolaus von Kues schon klar ausgesprochen, daß sich die Erde um die Sonne bewegt. Noch bedeutsamer scheint zu sein, daß der Kusaner nicht nur ein tiefer, führender Denker, sondern ein klarer Denker war. Er ist ein Denker, der die Scholastik ganz in sich aufgenommen hatte. Tiefe des Gemüts, Feuer der Seele, paarte sich bei ihm mit einem ganz durchsichtigen, scharfen Begriffsvermögen. Alles, was der Verstand begreifen kann, was die Vernunft überschauen kann, das gab dem Kusaner nur den Unterbau für dasjenige, was er der Welt zu sagen hatte. Auf einer Reise bekam er eine Erleuchtung, bei welcher er fühlte, daß es noch etwas ganz anderes gibt als das Verstandeswissen. Von da an sprach er nur dem den höchsten Wert zu, was höher als das Wissen ist. [10]

Bei ihm war noch verbunden tiefstes spirituelles Anschauen mit dem äußeren Naturwissen, namentlich wo dieses sich in mathematische Formen kleidet. Und weil er eine Einsicht davon hatte, wie schwer das zu erreichen ist in einer Zeit, die immer mehr und mehr nach der äußeren Gelehrsamkeit sich hinbewegt, nannte er sein Werk: «Gelehrte Unwissenheit», «docta ignorantia». Diese « Gelehrte Unwissenheit» ist eine Übergelehrsamkeit. [11]

Die Vedantaweisheit bezeichnet die Weltenweisheit als Chit, aber die Beseligung, wo der Mystiker untertaucht in die Dinge, wo die Seele ganz mit den Dingen verschmilzt, bezeichnet die Vedantalehre als Ananda. Chit ist Weltenweisheit, Ananda die Weisheit, die unmittelbar mit dem Äonenlicht verschmilzt, die eins sich fühlt mit dem die Welt durchleuchtenden All-Licht. Diese Stimmung bezeichnet der Kusaner als «Docta ignorantia». Das Wahrnehmen der ganzen Welt bezeichneten die Pythagoreer als Sphärenharmonie. Das ist das Widerklingen des Wesens der Dinge in der eigenen Seele des Menschen. Da fühlt er sich vereinigt mit der Gotteskraft. Das ist das Hören der Sphärenharmonie, des schaffenden Weltgesetzes; das ist das Verwobensein mit dem Sein der Dinge, das ist das, wo die Dinge selbst reden, und die Dinge sprechen durch die Sprache seiner Seele aus ihm selbst heraus. Dann hat er erreicht, wovon der Kusaner sagt, daß keine Worte fähig sind, dies auszudrücken. Diese erhabene Existenz ist das Sat der Inder. Die pythagoreische Schule unterscheidet drei Stufen: 1. die äußere Wahrnehmung – Chit; 2. das Pleroma – Ananda; 3. die Sphärenharmonie – Sat. Dies sind (auch) die drei Stufen der Erkenntnis bei dem Nicolaus Cusanus: 1. das Wissen; 2. das Überwissen oder die Beseligung; 3. die Vergottung. So nennt er sie in der «Docta ignorantia». Cusanus hat seine Weisheit aus der pythagoreischen Schule geschöpft. [12]

Zitate:

[1]  GA 326, Seite 11ff   (Ausgabe 1977, 196 Seiten)
[2]  GA 326, Seite 14ff   (Ausgabe 1977, 196 Seiten)
[3]  GA 326, Seite 16f   (Ausgabe 1977, 196 Seiten)
[4]  GA 93, Seite 193   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[5]  GA 88, Seite 183   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)
[6]  GA 52, Seite 57   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[7]  GA 109, Seite 53   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[8]  GA 109, Seite 290   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[9]  GA 109, Seite 288   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[10]  GA 51, Seite 211f   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[11]  GA 126, Seite 102   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[12]  GA 51, Seite 214f   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 326:  Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung (1922/1923)