Die Pythagoreer nannten die Wahrnehmung der geistigen Welt Sphärenmusik. Dem Besitzer des «geistigen Ohres» ist diese Sphärenmusik nicht bloß etwas Bildliches, Allegorisches, sondern eine ihm wohlbekannte geistige Wirklichkeit. Man muß nur, wenn man einen Begriff von dieser «geistigen Musik» erhalten will, alle Vorstellungen von sinnlicher Musik beseitigen, wie sie durch das «stoffliche Ohr» wahrgenommen wird. Es handelt sich hier eben um geistige Wahrnehmung, also um eine solche die stumm bleiben muß für das sinnliche Ohr. [1] Was Pythagoras die Sphärenmusik genannt hat, ist etwas, was der Geistesforscher wirklich erreichen kann. Er taucht unter in die Dinge und Wesen der geistigen Welt und hört, aber hört, indem er ausspricht. Ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen im Untertauchen in das Wesen der Dinge ist das, was man erlebt. Die wahre Inspiration ist es, die sich also ergibt. [2] Goethe, der schon in seiner Jugend in der Periode zwischen Leipzig und Straßburg eingeweiht wurde, kannte diese Sphärenharmonie. Er hat sie besungen am Anfang des Faust. [3]
Dasjenige, was hinter dem Physischen steht, aus dem heraus das Physische gemacht und geboren ist, das Chaos – alle haben es gekannt. Ob die Griechen es Chaos, ob die indische Philosophie von dem Akasha spricht, es ist immer dasselbe. Wer es im geistigen Sinne durchdringt, der vernimmt, wie es durchklungen ist von der Sphärenharmonie. [4] Niemand anders als der, welcher einen Einblick in die Welt des Devachan hat, weiß, was Sphärenmusik ist. Aus der geistigen Welt klingen uns die rhythmischen Melodien entgegen, welche die kosmischen Kräfte des Universums sind. Die kosmischen Kräfte sind rhythmisch gestaltet, und jenen Rhythmus hören wir, wenn wir das «devachanische Ohr» zu gebrauchen vermögen, und es tritt jene unaussprechliche Beseligung ein, die der Mystiker wahrzunehmen vermag. [5]
Diese Sphärenmusik ist auch jetzt immer noch da, nur daß sie das gewöhnliche Bewußtsein nicht hört. Sie ist wirklich, diese Sphärenmusik, die allen Menschen als astralische Wirkung von außen entgegenkommt. Der Mensch hört sie nur nicht. Würde er in bezug auf diese Sphärenmusik einen ebensolchen Wechsel haben wie beim Licht, das er zu gewissen Zeiten, beim Eintreten der Dunkelheit, nicht sieht, dann würde er sie zu gewissen Zeiten auch hören. Sie tönt aber Tag und Nacht, und daher kann er sie nur dann hören, wenn er eine gewisse okkulte Schulung, eine gewisse okkulte Entwickelung durchmacht. [6]
Die Seele lebt während der Nacht in diesen Sphärenklängen, und diese Sphärenklänge entzünden sich, indem der astralische Leib sich seiner selbst bewußt wird. In dem schaffenden Musiker haben wir keinen anderen Prozeß, als daß die Wahrnehmungen des nächtlichen Bewußtseins während des Tagesbewußtseins sich durchringen, Erinnerung werden, Erinnerungen an die astralischen Erlebnisse oder im besonderen der Verstandes- oder Gemütsseele. Alles, was die Menschheit als musikalische Kunst kennt, sind Ausdrücke, Abprägungen dessen, was unbewußt erlebt wird in den Sphärenharmonien, und musikalisch begabt sein, heißt nichts anderes, als einen astralischen Leib haben, der während des Tageszustandes empfänglich ist für das, was ihn die ganze Nacht durchschwirrt. [7]
Das Luftgebiet des Devachan wird gebildet durch alle Leidenschaften, Triebe, Gefühle und so weiter. Alles das haben Sie da oben als äußere Wahrnehmung, wie die atmosphärischen Erscheinungen hier auf der Erde. Alles das durchbraust die Atmosphäre des Devachan. Wenn Sie so weit vorgeschritten sind, daß Sie sich einen Einblick in diese Devachanwelt errungen haben, dann können diese hinwogenden Erscheinungen von Ihnen gesehen und gehört werden, und das also Gehörte ist die Sphärenharmonie. [8]
Die oberen Regionen des Devachan zeichnen sich dadurch aus, daß alle Töne dort klarer, leuchtender, volltönender sind. Man vernimmt dort in einer grandiosen Harmonie die Stimme aller Wesen, und das ist nun dasjenige, was Pythagoras die Sphärenmusik nennt. Es ist das innere Sprechen, das lebendige Wort des Weltalls. Jedes Wesen nimmt nun für den hellhörig gewordenen Hellseher eine besondere Klangfarbe an, gewissermaßen eine tönende Aura. Alsdann nennt jedes Wesen dem Okkultisten seinen Namen. In der Genesis nimmt Jahve den Adam bei der Hand, und Adam benennt alle Wesen mit Namen. Auf der Erde ist das Individuum verloren unter der Menge der anderen Wesen. Dort hat jedes seine eigene Klangfarbe, und trotzdem taucht der Mensch zugleich in alle Wesen unter, wird eins mit seiner Umgebung. Auf dieser Stufe (der Geistesschulung) wird der Schüler ein Schwan genannt. Wir finden in den Mythen Erinnerungen an diesen Grad des Schwans, ganz besonders im Mittelalter durch die Sagen vom Gral, die den Widerhall von Erfahrungen in der devachanischen Welt sind. [9]
Gelangt man dazu, durch entsprechende Meditation die Gedächtnis-vorstellungen gewissermaßen zu durchstoßen, wegzutun was uns vom Ätherleib und vom physischen Leib nach innen trennt, und sieht man dann hinunter in den Ätherleib und in den physischen Leib, so daß man wahrnimmt, was da unter der Schwelle des Bewußtseins liegt, dann vernimmt man im ätherischen Leibe und ebenso im physischen Leibe ein Tönen. Und dieses Tönen, das ist der Nachklang der Weltensphärenmusik, die der Mensch aufgenommen hat im Leben zwischen Tod und neuer Geburt, während seines Herabstieges aus der göttlich-geistigen Welt in die physische Welt, zur Einkörperung in das, was ihm in der physischen Vererbung von Eltern und Voreltern gegeben wird. Es tönen nach im ätherischen Leibe und im physischen Leibe die Klänge der Sphärenmusik, und zwar im Ätherleib, insofern sie vokalisch sind, und im physischen Leibe, insofern sie konsonantisch sind. Nun vergegenwärtigen Sie sich einmal den Repräsentanten des Fixsternhimmels, den Tierkreis. Der Mensch ist diesen Einwirkungen ausgesetzt, indem er aus dem geistig-seelischen Leben in das irdische Leben herabsteigt. Wenn man diese Einwirkungen ihrem eigentlichen Wesen nach bezeichnen will, so sind sie weltenmusikalisch, sind Konsonanten, und das Konsonantieren im physischen Leibe ist der Nachklang des Klingens der einzelnen Gebilde des Tierkreises. Durch die Bewegung der Planeten geschieht dasjenige, was innerhalb dieser Weltensphärenmusik das Vokalisieren ist. Das prägt sich dem ätherischen Leibe ein. [10] Es ist ja nichts damit gesagt, wenn man sagt, der Mensch besteht aus physischem Leib und ätherischem Leib. Man würde sagen müssen: Der Mensch besteht aus dem Echo des Fixsternhimmels, aus dem Echo der Planetenbe-wegungen, dem Erleben des Abdruckes dieser Planetenbewegungen als Denken, Fühlen und Wollen (als Astralleib) und dem Wahrnehmen des Echos des Tierkreises (dem Ich). [11]
Als die Zeit kam (in der Erdentwickelung), wo die Sonne sich wieder aus der Erde herausschälte, bildeten die feinsten Materien und Wesenheiten diesen selbständigen Weltenkörper, so daß (dann) unsere Erde die Sonne umkreiste. Mit dem Heraustreten der feinsten Materien war eine Verdichtung der zurückbleibenden Materie verbunden. Die Erde kommt in einen wässerigen Zustand. In dem Maße, wie das Wasser auftritt, wirkt aus dem Kosmos und aus der Erde heraus die Sphärenmusik, die Weltentöne. Die Entwickelung der Erde steht nun unter dem Einfluß der Weltenmusik. Die Materien heben sich als einzelne Stoffe aus der undifferenzierten, großen Materie heraus. So entstand organische Materie, das Protoplasma. Diese Stoffe, eiweißartige, leimige Substanz, werden hineingeschoben in die früheren Kraftlinien der Menschenanlage. [12]
Ebenso wie mit der Entstehung der Luft das Licht entstanden ist, so entstand jetzt mit der Verdichtung der Luft zum Wasser ein Gegenbild. Wie sich nämlich die Luft zum Licht verhält, so verhält sich das Wasser zum Schall, zum Ton. Natürlich kann der Ton durch die Luft gehen und versetzt die Luft in Schwingungen; dadurch ist er hörbar. Aber entstanden, aufgetreten auf der Erde ist der Ton – als ein Ton für sich – neben der Wasserbildung. Und genau ebenso wie die Luft durchströmt worden ist von der Lichtwirkung, so wird jetzt das ganze Wasser ganz und gar durchvibriert von Tonstrahlen. Es ist jetzt unsere Erde gerade am meisten durchsetzt in denjenigen Teilen, wo sie wässerig geworden ist, von Sphärenharmonien, von Tönen, die so aus dem Weltenraum in allen möglichen Tonharmonien in unsere Erde hineinströmen. Und so sind die Stoffe im Lebendigen angeordnet im Sinne der Weltenmusik. Längs jener Linien, die ich Ihnen beschrieben habe als Wärmelinien, läuft das nach dem Weltenton zu Eiweiß koagulierte Wasser und geht allmählich in Blutbildung über. In den Nervenlinien setzt sich das koagulierte Wasser als die Eiweißbildung ein. Und zuerst bildete sich das Eiweiß so wie eine Art Hülle, wie eine knorpelige Leimsubstanz möchte man sagen, damit ein Schutz da ist gegen außen. Das alles bildete sich wirklich nach dem Tanz der Stoffe in Gemäßheit der Sphärenmusik. Dies alles war da, bevor es eine einzige Zelle gab. [13]
Der Mensch hat zunächst keine Organe, um auch in das hinaufblicken zu können, was jenseits jener Kräfte des Lichtes – die wir auch die Geister der Form, die Exusiai nennen liegt, keine Organe, um in das hineinblicken zu können, was in das Licht hineinverwoben ist. Alles, was auf der Erde Zersetzungen und Zusammensetzungen bedingt, alles was als chemische Kräfte auf derselben wirkt, ist hier noch in das Licht hineinverwoben, und das ist im wesentlichen das Terrain, auf dem die Geister der Bewegung, die Dynamis tätig sind. Wenn der Mensch etwas wahrzunehmen lernt von dem, was er sonst nur als Maya in der Wirkung der chemischen Zusammensetzungen und Auflösungen sieht, dann hört er diese Geister der Bewegung, dann nimmt er die Sphärenmusik wahr. [14]
Was wir Chemismus nennen, ist hineinprojiziert in die physische Welt aus der Welt des Devachan, der Sphärenharmonie. So daß in der Verbindung zweier Stoffe nach ihren Atomgewichten wir die Abschattung haben zweier Töne der Sphärenharmonie. Die Zahlenverhältnisse der Chemie sind wirklich die Ausdrücke für die Zahlenverhältnisse der Sphärenharmonie. Diese ist stumm geworden durch die Verdichtung der Materie. Würde man die Stoffe tatsächlich bis zur ätherischen Verdünnung bringen und die Atomzahlen als innerlich formendes Prinzip wahrnehmen können, so würde man die Sphärenharmonie hören. [15] Jeder Stoff ist der Ausdruck eines gewissen Tones. [16]
Durch alles das, was in der Natur vor sich geht, geht ja eine geheimnisvolle Musik: die irdische Projektion der Sphärenmusik. In jeder Pflanze, in jedem Tier ist eigentlich ein Ton der Sphärenmusik inkorporiert. Das ist auch noch mit Bezug auf den menschlichen Leib der Fall, lebt aber nicht mehr in dem, was menschliche Sprache ist, das heißt nicht in den Seelenäußerungen, wohl aber im Leibe in seinen Formen und so weiter. Alles das nimmt das Kind unbewußt auf, und das macht, daß Kinder in einem so hohen Grade musikalisch sind. [17] Und wenn der Mensch sich wieder hineinleben wird in die geistige Welt, dann wird ihm diese Sphärenharmonie entgegenklingen. Man nennt sie im Okkulten die Posaunentöne der Engel. [18] .
Man wird in der Zukunft dieses Weltgefühl hinzuentwickeln müssen: der Laboratoriumstisch wird zum Altar werden müssen. Der Naturdienst, den man entwickelt, selbst im chemischen Experiment, wird sich bewußt sein müssen, daß das große Weltengesetz über den Laboratoriumstisch läuft, wenn man irgendeinen Stoff mit einem anderen löst, um den Niederschlag zu bekommen oder dergleichen. In dem ganzen Universum wird man sich drinnen fühlen müssen, dann wird man anders zu Werke gehen, und dann wird noch ganz anderes gefunden werden, als was die Leute heute gefunden haben, was groß ist, aber nicht die rechte Frucht wird tragen können, weil es ohne Ehrfurcht gefunden wird, ohne das Gefühl, das sich durchdringt mit der Harmonie des Universums. Wieviel Leute haben abstrahiert das, was man Sphärenmusik bei Pythagoras genannt hat! Hier haben Sie ein Gefühl von der Sphärenmusik im Erleben des Rhythmus, der durch das Weltenall geht. Nichts Abstraktes hat man sich darunter vorzustellen, sondern etwas, was in das lebendige Gefühl hineingeht. [19]
[1] | GA 9, Seite 123 | (Ausgabe 1961, 214 Seiten) |
[2] | GA 153, Seite 22 | (Ausgabe 1978, 190 Seiten) |
[3] | GA 94, Seite 47 | (Ausgabe 1979, 312 Seiten) |
[4] | GA 284, Seite 87 | (Ausgabe 1993, 208 Seiten) |
[5] | GA 53, Seite 164 | (Ausgabe 1981, 508 Seiten) |
[6] | GA 121, Seite 93 | (Ausgabe 1982, 214 Seiten) |
[7] | GA 102, Seite 223 | (Ausgabe 1974, 238 Seiten) |
[8] | GA 100, Seite 53 | (Ausgabe 1981, 276 Seiten) |
[9] | GA 94, Seite 83f | (Ausgabe 1979, 312 Seiten) |
[10] | GA 209, Seite 111f | (Ausgabe 1982, 200 Seiten) |
[11] | GA 209, Seite 115 | (Ausgabe 1982, 200 Seiten) |
[12] | GA 98, Seite 215 | (Ausgabe 1983, 272 Seiten) |
[13] | GA 102, Seite 89f | (Ausgabe 1974, 238 Seiten) |
[14] | GA 121, Seite 93 | (Ausgabe 1982, 214 Seiten) |
[15] | GA 130, Seite 102 | (Ausgabe 1962, 354 Seiten) |
[16] | GA 272, Seite 180 | (Ausgabe 1981, 336 Seiten) |
[17] | GA 302a, Seite 29 | (Ausgabe 1983, 160 Seiten) |
[18] | GA 101, Seite 187 | (Ausgabe 1987, 288 Seiten) |
[19] | GA 182, Seite 67f | (Ausgabe 1976, 190 Seiten) |
GA 9: | Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904) |
GA 53: | Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905) |
GA 94: | Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906) |
GA 98: | Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908) |
GA 100: | Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907) |
GA 101: | Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907) |
GA 102: | Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen (1908) |
GA 121: | Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910) |
GA 130: | Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912) |
GA 153: | Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914) |
GA 182: | Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918) |
GA 209: | Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. Das Fest der Erscheinung Christi (1921) |
GA 272: | Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band I: Faust, der strebende Mensch (1910-1915) |
GA 284: | Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907) |
GA 302a: | Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis (1920-1923) |