Kirche

Die östliche griechisch-katholische Kirche ist mehr eine geistige Angelegenheit geblieben. Die römische Kirche ist eigentlich im Grunde genommen ganz und gar eine bürgerliche und Rechtsinstitution. Sie hat sich auch immer als eine solche behauptet. Sie hat umgegossen, was bloß geistig sein sollte, in Rechtsinstitutionen. Sie hat aber auch sogar in die katholische Weltanschauung juristische Begriffe hereingetragen. Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch die Beichte und solche Dinge, die ganz und gar aus dem Rechtsgedanken heraus entspringen, Sie finden sie auf Schritt und Tritt in der späteren katholischen Dogmatik, die nicht ursprünglich christlich, sondern römisch-dogmatisch ist, die durchdrungen ist durch das römische(Rechts)-Denken.

Und das, was da durchgegangen ist durch das römische Denken, den stärksten, den abstraktesten Ausdruck findet es eigentlich doch im Protestantismus, der ganz und gar auf einem juristischen Begriff beruht: auf der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben. [1] Die Kirche kann, wenn sie sich selber richtig versteht, nur die eine Absicht haben, sich unnötig zu machen auf dem physischen Plane, indem das ganze Leben zum Ausdruck des Übersinnlichen gemacht wird. [2]

Heute gilt der Glaube an die Präexistenz des Menschen für die Kirche als Ketzerei. Die verahrimanisierte Kirche setzt das Leben des Menschen nur über den Tod hinaus fort und läßt es dann nur ein Ergebnis sein dessen, was der Mensch auf der Erde hier ist. Da haben Sie das als ein Glaubensbekenntnis: Was der Mensch hier in dem physischen Leib erlebt, das trägt er mit durch den Tod. Seine Seele schaut immer wiederum auf das zurück. – Es ist eigentlich das ganze folgende Leben nur die Fortsetzung desjenigen, was hier zwischen seiner Geburt und dem Tode da war. Es ist (also) genau dasselbe, was die ahrimanischen Geister wollen. [3] Die Kirchen, die sich wehren gegen die neuen Wege zur Übersinnlichkeit, die sind in Wahrheit heute schon die Veranlasser, daß immer materialistischere und materialistischere Impulse in die Menschheit hereinkommen. [4] Die Kirchenbekenntnisse haben es geradezu zu ihrer Mission gemacht, den Menschen wichtigste Wahrheiten über sich selbst vorzuenthalten. Sie haben damit ihr Mittel gefunden, die Menschen einzuhüllen in Dumpfheit, in Illusion. Den geistigen Erkenntnissen widerstreben aber am meisten die dogmatischen Kirchen-bekenntnisse, namentlich jene, die sich im Abendlande allmählich herausgebildet haben. Die Kirche als solche kann eigentlich nicht feindlich sein den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen; das ist ganz unmöglich, denn die Kirche als solche sollte es eigentlich nur zu tun haben mit dem Fühlen des Menschen, mit den Zeremonien, mit dem Kultus, aber nicht mit dem Gedankenleben. Der gebildete Orientale begreift die abendländischen Kirchenbekenntnisse überhaupt nicht, denn der gebildete Orientale weiß genau: er ist gebunden an den äußeren Kultus; denjenigen Zeremonien sich hinzugeben, denen man sich in seinem Bekenntnisse hingibt, das obliegt ihm. Denken kann er, was er will. Im orientalischen Bekenntnisse weiß man noch etwas von Gedankenfreiheit. Diese Gedankenfreiheit ist den Europäern ganz und gar verlorengegangen. Sie sind erzogen in Gedankenknechtung. [5]

Mit dem Dreifachen, das in der Sonne in alten Zeiten gesehen worden ist, brachten diejenigen Menschen, welche in der Zeit des Mysteriums von Golgatha dachten – ausgerüstet mit dem Wissen dieses Mysteriums von Golgatha, ausgerüstet mit dem Wissen der alten Mysterien –, mit diesem dreifachen Sonnenmysterium (siehe: Sonnengeheimnis) brachten diese Weisen das Christus-Mysterium zusammen, das Mysterium von Golgatha selber. Mit der Sonnenverehrung war verbunden für diejenigen, die etwas wußten, die Christus-Verehrung. Mit der Sonnenweisheit war wiederum für diejenigen, die etwas wußten, verbunden die Christus-Weisheit. Mit dem Eintritt Roms in die Geschichte tritt das in die Menschheitsevolution ein, was man das prosaische Element nennen kann. Die Griechen zum Beispiel bewahrten in ihrer ganzen Weltanschauung noch die Möglichkeit, hinter der Sonne eben die zwei anderen Sonnen, die seelische und die geistige Sonne zu sehen. Und nur dadurch, daß nun nicht rein in griechische Weisheit und in griechisches Empfinden das Mysterium von Golgatha getaucht worden ist, sondern in römische Weisheit und in römisches Empfinden, dadurch ist es gekommen, daß man gebrochen hat mit dem Wissen von dem Zusammenhang des Christus mit der geistigen Sonne. Damit haben sich ja namentlich die christlichen Kirchenväter und die christlichen Kirchenlehrer zu befassen gehabt, dieses Mysterium von der Sonne zu verhüllen, dieses Mysterium von der Sonne für die Menschheit vergessen zu machen, es nicht herauskommen zu lassen. Es sollte gewissermaßen ein Schleier gebreitet werden durch die fortgehende Entwickelung des Christentums, wie man das nennt, über die tiefe, die bedeutsame, die umfassende Weisheit von dem Zusammenhange des Christus mit dem Sonnenmysterium. Die Einrichtung, welche die Kirche durch den Romanismus erfahren hat, die ist insbesondere geeignet gewesen, die Menschen so wenig wie möglich von dem Christus-Geheimnis wissen zu lassen. [6]

Dieses mit den alten Mysterien zusammenhängende Christusgeheimnis zu verhüllen, zu entstellen, das war gewissermaßen die Aufgabe der Kirche in den verflossenen Jahrhunderten. Und versuchen Sie einmal, den Werdegang der Menschheit in diesen verflossenen Jahrhunderten wirklich zu studieren, versuchen Sie sich klarzumachen, wie es denjenigen einzelnen Menschen gegangen ist, welche den Christus Jesus wirklich suchen wollten, die wirklich den Weg finden wollten zu dem Christus Jesus: es war immer ein Märtyrerweg. Er mußte immer gesucht werden, der Christus Jesus, gegen die Konventionen, wie er ja auch heute selbstverständlich gegen dasjenige, was von den Konventionen geblieben ist (oder sich auch wieder neu bildet), gesucht werden muß. [7] Aber ganz fruchtbare Vorstellungen darüber sind ja doch nur zu gewinnen, wenn man den Blick auf der einen Seite hinwerfen kann auf eine Gestalt, welche, ich möchte sagen, die exoterische Seite der abendländischen Kulturentwickelung inauguriert hat, wie Konstantinus (der Große), und dann auf der anderen Seite auf die Gestalt Julians des Apostaten, der versucht hat, in einer damals unmöglichen Weise den Kampf gegen diese exoterische Seite der abendländischen Entwickelung aufzunehmen. Das Eigentümliche ist nur dieses: Wenn heute jemand nur mit ein wenig Kenntnis, ich will gar nicht einmal sagen mit ein wenig Kenntnis okkulter Tatsachen, sondern sogar mit ein wenig Kenntnis desjenigen Okkulten, das in gewissen älteren Schriften noch enthalten ist, – wenn jemand mit diesen Kenntnissen an die christliche Dogmatik herantritt, dann kommen ganz merkwürdige Dinge heraus, daß man sich sagen kann, – zahlreiche Schriftsteller, die sich von dem eben genannten Gesichtspunkte aus mit der Sache beschäftigt haben, kamen zu dem Schluß: Ja , in der Dogmatik und in dem Kultus steckt eigentlich so ungeheuer viel altes Heidentum, ist so ungeheuer viel Wiederauffrischung alten Heidentums vorhanden, daß man den Versuch machen kann, wie zum Beispiel der französische Schriftsteller David Paul Drach, der ein gründlicher Kenner des alten Hebräismus war, zu zeigen, wie alles in der Dogmatik und in dem Kultus der katholischen Kirche nur heraufgebrachtes altes Heidentum ist. – Und dann haben Schriftsteller versucht zu zeigen, daß es gewissen Leuten gerade darauf angekommen ist, diese Tatsache zu verbergen, die Welt nichts wissen zu lassen, daß da altes Heidentum sich hineinverpflanzt hat in die Dogmatik, in das Kultuswesen. Es wäre nun eine merkwürdige Tatsache, wenn etwa gerade das Heidentum fortleben würde auf eine sehr unterbewußte Art, und die Frage könnte entstehen: Welche Dienste hätte denn dann das Fortleben des Heidentums dem Fortleben des Imperium Romanum geleistet? Ja, wenn manche neueren Schriftsteller recht hätten damit (was sie haben), daß zum Beispiel das katholische Meßopfer im wesentlichen ein altes heidnisches (mithräisches) Opfer ist, und Julianus der Apostat alle seine Mühe darauf verwendet hat, die alten heidnischen Gebräuche nicht untergehen zu lassen, sondern sie fortzupflanzen, so hätte er in einer gewissen Weise doch etwas erreicht. [8] (Weiteres siehe: Julianus; Kontantin der Große).

Zitate:

[1]  GA 192, Seite 334   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[2]  GA 182, Seite 141   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[3]  GA 203, Seite 261   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[4]  GA 190, Seite 48   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)
[5]  GA 191, Seite 186   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[6]  GA 183, Seite 60ff   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[7]  GA 183, Seite 68   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[8]  GA 175, Seite 311f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)

Quellen:

GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)