Scholastik

(Der Begriff) Scholastik kommt aus dem Griechischen «scole», bedeutet also «Aufmerkung», was irrtümlich übersetzt wurde in «scuola», Schule. Das scholastische System ist das vollkommenste logische Gewebe. Der Thomismus fällt zusammen mit der Zeit, in der der menschliche Verstand, wie wir ihn kennen, sich bildete. Der stärkste Impuls zu dieser Bildung kam vom Arabismus, der eine wirkliche intellektuelle Wissenschaft war, während dagegen die alten Weisen wußten, wodurch es kam, daß sie direkt schauen konnten. Für die Verarbeitung der neuen Philosophie war Aristoteles gut zu gebrauchen, da er schon die Verstandesarbeit der Mysterienweisheit vorgezogen hatte. Letztere verschwand dann vollkommen mit dem Arabismus, der nur eine reine Verstandesspekulation war; die bringt einen höchstens zum Pantheismus der Begriffe, kommt aber nicht weiter als bis zu diesem Gedanken eines einheitlichen Ganzen. Thomas von Aquino nun nahm die intellektuelle Wissenschaft auf, die ihm zugänglich war, ließ aber unverändert das Offenbarungswissen und bediente sich der Dialektik, um es zu begreifen. [1]

Die atlantische Katastrophe war die stärkste physische Umänderung, das war die stärkste Einwirkung vom Makrokosmos auf die Erde. Dafür war damals der Einfluß von dieser Seite her auf den Geist des Menschen am geringsten. Also da, wo die Geister der Form, die Exusiai (die biblischen Elohim) mächtig revoltierend hereinwirkten auf das Physische, da haben sie nicht so viel Zeit gehabt, auch noch auf den Geist der Menschen zu wirken. Nun wird es Ihnen nicht schwer werden, sich vorzustellen, daß es einen anderen Zeitpunkt geben kann, wo das Gegenteil der Fall ist: wo diejenigen, die eine solche Sache wissen können, in umgekehrter Art den geringsten Einfluß auf das Physische, dafür aber gerade von den Geistern der Form den größten Einfluß auf den menschlichen Geist verspüren. Dieser Zeitpunkt, wo das eingetreten ist, was also naturgemäß die Menschen weniger bemerken (als eine Erdkatastrophe), das ist das Jahr 1250. Und dieses Jahr 1250 ist in der Tat ein außerordentliches, historisch wichtiges Jahr. Das fiel in einen Zeitraum hinein, den man etwa so charakterisieren kann: Die Geister fühlten sich sozusagen gedrängt, auf das genaueste die Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, wie man zu den über den anderen Hierarchien (Angeloi, Archangeloi, Archai) stehenden höheren göttlichen Wesenheiten hinaufblickt, wie man zu diesen Wesenheiten, die man zunächst als Einheit, erst durch Jahve, dann durch Christus empfindet, ein Verhältnis zu gewinnen sucht und alles menschliche Wissen dazu anwendet, um die Mysterien von dem ChristusJesus zu enthüllen. Das war ein Zeitpunkt, der insbesondere geeignet war, der Menschheit die Mysterien zu überbringen, die sich unmittelbar im Zusammenhang des Geistigen mit dem Naturwirken ausprägen. Daher sehen wir, daß dieses Jahr der Ausgangspunkt ist für große präzise Verarbeitungen dessen, was früher nur geglaubt, nur geahnt wurde: der Ausgangspunkt der heute viel zu wenig gewürdigten Scholastik. Dann aber war es auch der Ausgangspunkt jener Offenbarung, die in Geistern wie zum Beispiel Agrippa von Nettesheim zum Ausdruck kam, und die am tiefsten in der ganzen Rosenkreuzerei sich ausprägte. Ja, hinter dem, was ich jetzt gesagt habe, verbergen sich zum Beispiel auch diejenigen Kräfte, die in den schon bestehenden und abflutenden Kreuzzügen wirksam sind. Die ganze europäische Geschichte, namentlich das, was sich abspielt zwischen Orient und Okkzident, ist nur dadurch ermöglicht, daß Kräfte so dahinterstehen, wie ich sie jetzt beschrieben habe. [2]

Diese Scholastik, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ihre Blüte hatte, hat ein Ungeheures vollbracht, sie hat ein streng geschultes Denken wenigstens bei einem Stande hervorzurufen vermocht. Das ist der große Unterschied zu dem, was später gekommen ist. Es waren harte Prüfungen zu bestehen, niemand konnte ohne harte Proben absolut logischer Schulung des Denkens weiterkommen; an dem geistigen Leben konnte nur der teilnehmen, der wirklich logisch denken konnte. Das wird heute nicht geachtet. Aber tatsächlich war es dies logische folgerichtige Denken, das, als die maurisch-arabische Kultur nach Europa kam, es bewirkte, daß diese Wissenschaft geschultes Denken vorfand. Die Denkformen, mit denen die Wissenschaft heute arbeitet, sie sind dort gefunden, es sind die wenigsten Ideenformen, die nicht von dort stammen. [3] Man kann schimpfen wie man will von diesem oder jenem Parteistandpunkte über die Scholastik – all dieses Schimpfen ist in der Regel wenig von einer wirklichen Sachkenntnis erfüllt. Denn wer Sinn hat für die Art und Weise wie sich, ganz abgesehen jetzt von dem sachlichen Inhalt, der Scharfsinn der Gedanken abspielt bei irgend etwas, was wissenschaftlich oder sonst erklärt wird, wer Sinn dafür hat zu erkennen, wie Zusammenhänge zusammengedacht werden, die zusammengedacht werden müssen, wenn das Leben Sinn bekommen soll – wer für alles das und für maches andere Sinn hat, für den geht es schon auf, daß so präzis, so innerlich logisch gewissenhaft niemals gedacht worden ist als in der Zeit der Hochscholastik. Gerade das ist das Wesentliche, daß da das reine Denken mit mathematischer Sicherheit von Idee zu Idee, von Urteil zu Urteil, von Schlußfolgerung zu Schlußfolgerung so verläuft, daß über den kleinsten Schritt und über das kleinste Schrittchen diese Denker sich immer Rechenschaft geben. Man muß nur bedenken, in welchem Milieu sich dieses Denken abspielte. Das war nicht ein Denken, das sich etwa so abspielt wie jetzt sich das Denken abspielt in der geräuschvollen Welt. Das war ein Denken, das sich abspielte in der stillen Klosterzelle oder sonst fern von dem Weltengetriebe. Das war ein Denken, das ganz aufging in dem Gedankenleben, und das war ein Denken, das auch noch durch andere Umstände die reine Denktechnik ausbilden konnte. Es ist heute tatsächlich schwer, diese reine Denktätigkeit auszubilden, denn kaum wird es irgendwie versucht, solche Denktätigkeit vor die Offentlichkeit hinzustellen, die nichts anderes möchte als durch ihren Inhalt bedingt Gedanken an Gedanken reihen, dann kommen die unsachlichen Leute, die unlogischen Leute, greifen alles mögliche auf, werfen ihre brutalen Parteimeinungen entgegen. Und da man schon einmal ein Mensch unter Menschen ist, muß man sich auseinandersetzen mit diesen Dingen, die eigentlich nichts anderes sind als hineingeworfene Brutalitäten, die gar nichts zu tun haben oftmals mit demjenigen, um was es sich eigentlich handelt. Da ist sehr bald jene innere Ruhe verloren, der sich Denker des 12. und 13. Jahrhunderts hingeben konnten, die nicht auf den Widerspruch der Unvorbereiteten in ihrem sozialen Leben so außerordentlich viel zu geben brauchten. [4]

Die Scholastik ist im höchsten Maße ein Ergebnis des menschlichen Scharfsinnes. Die logische Fähigkeit feierte in ihr die höchsten Triumphe. Wer darnach strebt, Begriffe in den schärfsten, reinlichsten Konturen auszuarbeiten, der sollte zu den Scholastikern in die Lehre gehen. Sie bieten die hohe Schule für die Technik des Denkens. Sie haben eine unvergleichliche Gewandtheit, sich im Felde des reinen Gedankens zu bewegen. Was sie auf diesem Felde zu leisten imstande waren, das wird leicht unterschätzt. Denn für die meisten Gebiete des Wissens ist es den Menschen nur schwer zugänglich. Die meisten erheben sich zu ihm nur deutlich auf dem Gebiete der Zähl- und Rechenkunst, und beim Nachdenken über den Zusammenhang geometrischer Gebilde. Wir können zählen, indem wir im Gedanken eine Einheit zu einer Zahl fügen, ohne daß wir uns sinnliche Vorstellungen zu Hilfe rufen. Wir rechnen auch, ohne solche Vorstellungen, nur im reinen Elemente des Denkens. Für die geometrischen Gebilde wissen wir, daß sie sich mit keiner sinnlichen Vorstellung vollkommen decken. Es gibt in der Wirklichkeit der Sinne keinen Kreis, dennoch beschäftigt sich unser Denken mit diesem. Für die Dinge und Vorgänge, welche komplizierter sind als Zahlen- und Raumgebilde, ist es schwieriger, die ideellen Gegenstücke zu finden. [5]

Die Entwickelung der Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten hat zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt, durch welche diese Wissenschaft Glied einer Weltauffassung sein kann, die den höheren menschlichen Bedürfnissen genügt. Sie hat dazu geführt, daß die «modernen» wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen, wenn man davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden Kräfte und die den Raum erfüllende Materie. Begriffe und Ideen sind diesen Geistern ein Produkt des menschlichen Gehirns und nichts weiter. Noch die Scholastiker wußten, wie es um diese Sache steht. Sie hatten Empfindung dafür, daß Begriffe und Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der menschliche Geist ersinnt, um die wirklichen Dinge zu verstehen, sondern daß sie mit den Dingen selbst etwas, ja mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese gesunde Empfindung der Scholastiker ist ein Erbstück von den großen Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles. Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung mit den Vorstellungen, die in die mittelalterliche Entwickelung des Christentums eingezogen sind. Diese Entwickelung findet den Quell alles Geistigen, also auch der Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil außerweltlichen Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht von dieser Welt ist. Im Verlaufe der Jahrhunderte verlor man die Empfindung für die Wirklichkeit der Begriffe und Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den – Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen. [6] Die Begriffe, mit denen noch heute die Wissenschaften, wie Chemie, Medizin, Philosophie operieren, wie Subjekt und Objekt, wurden damals gefunden. Eine Trainierung des Denkens, wie sie sonst in der Weltgeschichte nicht vorkommt, wurde da ausgebildet. Nicht Mächtige, nicht Bischöfe und reiche Äbte, sondern einfache Mönche waren es, die die Wissenschaft fortpflanzten, arme Mönche, die in der Vergangenheit lebten und die den Druck der Mächtigen oft zu spüren bekamen. [7] Was ist denn eigentlich aus der Scholastik geworden, wenn wir sie nicht ihrem Inhalte nach auffassen, sondern wenn wir sie als Heranzüchtung, Heranerziehung von Fähigkeiten ins Auge fassen? Die moderne Naturwissenschaft ist daraus geworden. [8] Was ist es, was die Hochscholastiker innerlich beseelte? Es war ihnen, als ob die Götter das Gebiet der menschlichen Gedankenwelt verlassen hätten, als ob die Menschen nur noch ausgepreßte Gedanken hätten. Und wenn wir in diese Seelen hineinschauen, so sehen wir, daß es solche waren, die in ihrem früheren Erdenleben nicht lange nach dem Jahre 333 gelebt haben, und bis ins 8., 9. nachchristliche Jahrhundert hatte wenigstens die lehrende Menschheit durchaus noch ein Gefühl dafür, daß der menschliche Gedanke gottgegeben ist. [9]

Thomas von Aquino nahm zwei Erkenntnisquellen an: die Offenbarung in dem Glauben und die Vernunft in der Forschung. Die Vernunft erkennt die Gesetze der Dinge, also das Geistige in der Natur. Sie kann sich auch über die Natur erheben, und im Geiste die aller Natur zugrunde liegende göttliche Wesenheit von einer Seite erfassen. Aber sie gelangt auf diese Art nicht zu einer Versenkung in die volle Wesenheit Gottes. Ein höherer Wahrheitsgehalt muß ihr entgegenkommen. Er ist in der Heiligen Schrift gegeben. [10] Die Scholastiker sagen: Es ist dem Menschen durch Christus ein Glaubensgut gegeben, das dürfen wir nicht antasten, das ist unmittelbar gegeben; alle Wissenschaft aber, die die Zeit hat hervorbringen können, seitdem jene Spaltung (zwischen Wissen und Glauben) geschehen ist, kann nur dazu verwendet werden, um dieses Glaubensgut zu beweisen. [11]

Indem der Christus der Menschheit den Heiligen Geist sandte, hat er sie befähigt dazu, aus dem Intellektuellen heraus selber sich aufzuschwingen zum Begreifen des Geistigen. Es darf daher nicht gesagt werden, der Mensch könne das geistige Übersinnliche nicht durch seinen Geist begreifen. Auch im Evangelium ist klar angedeutet für denjenigen, der nur sehen will, der nur lesen will, daß es selber eine Offenbarung ist, daß der Mensch durch den ihm innewohnenden Geist, wenn er sich nur hinneigt zu dem Christus, das Übersinnliche begreifen kann. Deshalb wird uns mitgeteilt, daß bei der Taufe Christi der Heilige Geist erschien. Und im Erscheinen des Heiligen Geistes ertönten die Worte durch den Kosmos: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget.» Daher war es ein altes Dogma, daß der Vater der zeugende Ungezeugte ist, daß der Sohn der von dem Vater Gezeugte ist, daß der Heilige Geist der von dem Vater und dem Sohn an die Menschheit Mitgeteilte ist. Das ist nicht etwa bloß ein willkürlich aufgestelltes Dogma, sondern Initiationsweisheit der ersten christlichen Jahrhunderte, und es ist nur später verschüttet worden, wie überhaupt die Trichotomie und die Trinität verschüttet worden sind. Und so war das Evangelium selber nicht mehr verstanden, als innerhalb der Scholastik dekretiert wurde, daß der Mensch nur eine Offenbarung habe im Glauben, daß er aber mit seiner Erkenntnis sich nicht hinaufentwickeln könne bis zum Übersinnlichen. Dieses Dekret über das menschliche Erkennen, das abgegrenzt wurde vom Glauben, es war selber eine Sünde wider das Christentum, es war eine Sünde wider die Verkündigung des Heiligen Geistes durch den Vater bei der Taufe Jesu, und durch den Jesus selber bei der Aussendung des Heiligen Geistes bei dem Pfingstfeste. [12]

Zitate:

[1]  GA 109, Seite 71   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[2]  GA 126, Seite 99ff   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[3]  GA 51, Seite 142f   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[4]  GA 74, Seite 45f   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)
[5]  GA 7, Seite 79   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[6]  GA 1, Seite 327f   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[7]  GA 51, Seite 143   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[8]  GA 107, Seite 235   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[9]  GA 217, Seite 118   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[10]  GA 7, Seite 39f   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[11]  GA 105, Seite 190   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[12]  GA 214, Seite 70f   (Ausgabe 1980, 208 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 7:  Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901)
GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 74:  Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 214:  Das Geheimnis der Trinität. Der Mensch und sein Verhältnis zur Geistwelt im Wandel der Zeiten (1922)
GA 217:  Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (1922)