Vedanta-Philosophie

In der indischen Vedantalehre ist in gewisser Weise erhalten geblieben derjenige Keim der Weltanschauung, der als Theosophie immer gelebt hat. [1] Vieles von dem, was wir in der morgenländischen Weisheit haben, in den Veden und vor allen Dingen in der Vedantaphilosophie, das ist herausentsprossen aus der im Alter sich wieder verjüngenden Seele. [2]

Der spirituellste Monismus, der gedacht werden kann, ist die Vedenphilosophie, die dann ihren Ausbau erhält im Vedanta. Wenn wir die Vedenphilosophie verstehen wollen, dann müssen wir uns zunächst vor die Seele halten, daß diese Vedenphilosophie davon ausgeht, daß der Mensch in sich selber ein Tiefstes findet, das sein eigentliches Selbst ist, und daß dasjenige, was er zunächst erfaßt im gewöhnlichen Leben, eine Art Ausdruck oder Abdruck dieses seines Selbstes ist, daß der Mensch sich entwickeln kann und daß seine Entwickelung immer mehr und mehr die Tiefen des eigentlichen Selbstes herausholt aus den Untergründen der Seele. Es ruht also wie schlummernd ein höheres Selbst in dem Menschen und dieses höhere Selbst ist nicht das, was der Mensch in der Gegenwart unmittelbar weiß, aber was in ihm arbeitet, zu dem er sich hinentwickelt. Wenn der Mensch einmal erreicht haben wird das, was in ihm als Selbst lebt, dann wird er gewahr werden, nach der Vedantaphilosophie, daß dieses Selbst eins ist mit dem umfassenden Selbst der Welt überhaupt, daß er mit seinem Selbst durchaus nicht nur in diesem allumfassenden Weltenselbst ruht, sondern eins ist mit diesem Weltenselbst. Und er ist so eins mit diesem Weltenselbst, daß er in zweifacher Weise mit seinem Wesen sich zu diesem Weltenselbst verhält. Wie man physisch aus- und einatmet, so etwa – müssen wir sagen – stellt sich der Vedantist das Verhältnis des menschlichen Selbstes zum Weltenselbst vor. Wie draußen die allgemeine Luft ist und im Inneren das Stück Luft, das wir eingeatmet haben, so hat man draußen das allgemeine umfassende, durch alles lebende und webende Selbst und atmet es ein, wenn man hingegeben ist der Betrachtung des spirituellen Selbstes der Welt. Man atmet es geistig ein mit jeder Empfindung, die man von diesem Selbst hat, man atmet es ein mit allem, was man hereinbekommt in seine Seele. Alle Erkenntnis, alles Wissen, alles Denken und Empfinden ist geistiges Atmen. Und das, was wir also wie ein Stück des Weltenselbstes – was aber organisch mit diesem Weltenselbst verbunden bleibt – in unsere Seele hereinbekommen, das ist Atman: das Atmen. So ist Atman in uns, kann aber nicht unterschieden werden von dem, was das allwaltende Selbst der Welt ist. Und wie wir ausatmen physisch, so gibt es eine Andacht der Seele, durch die sie ihr Bestes, was sie hat, gebetartig und opfernd hinwendet zu diesem Selbst. Das ist wie das geistige Ausatmen: Brahman. [3] Die Veden beruhen durchaus auf einer ursprünglichen, noch wie eine Naturanlage in der Urmenschheit vorhandenen Inspiration, waren eingegeben, ohne daß sozusagen der Mensch etwas anderes dazu tat, als daß er sich vorbereitete in seiner ganzen Wesenheit, die von selbst kommende göttliche Inspiration ruhig und gelassen in seinem Innern zu empfangen. [4]

So gleichsam hellseherisch geschaute Begriffe sind die Begriffe der Vedanta-Philosophie. Sie sind nicht im Schweiße des Angesichts nach dem Beispiel der europäischen Philosophen erworben, sondern hellseherisch heruntergebracht, sind eben die letzten Überreste, die in die abstrakten Begriffe hinein verdünnten Reste des alten Hellsehens oder die ersten durch Joga errungenen, noch dünnen Eroberungen in der übersinnlichen Welt. [5]

Derjenige, der hingebungsvoll in der Lehre der Vedanta-Weisheit aufgeht oder sich in die Bhagavad Gita oder in das Dhammapada (das buddhistische Lehrgedicht) vertieft, auch für den wird genügend Gelegenheit vorhanden sein, in folgenden Verkörperungen gerade durch das, was er aufgenommen hat, zum Christus-Prinzip zu kommen. [6]

Zitate:

[1]  GA 53, Seite 45   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[2]  GA 304, Seite 187   (Ausgabe 1979, 228 Seiten)
[3]  GA 142, Seite 15f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[4]  GA 142, Seite 20   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[5]  GA 139, Seite 142   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[6]  GA 104, Seite 243   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)

Quellen:

GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 142:  Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/1913)
GA 304:  Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage (1921/1922)