Mithras

Diejenigen Wesenheiten der dritten Hierarchie, die dem Menschen am nächsten stehen, die Angeloi, die konnten sozusagen folgen oder nicht folgen den hemmenden Mächten (siehe: Ahriman; Streit am Himmel). Die da nicht folgten, finden wir immer wieder dargestellt in Bildern, welche versinnlichen sollen die Siege, die im Himmel erfochten werden; die zum Ausdruck bringen sollen, was damals während der Mondenentwickelung geschah, als der Mensch fortschritt bis zur Einverleibung des Astralleibes, das heißt bis zur Mensch-Tierheit. Da entrangen sich ja diejenigen Engelwesen, die sozusagen gut geblieben waren, diesem Mondenwerden, entstiegen dem, was da unten auf dem Monde war. Und dieses Bild steht in mancherlei Gestalten vor der Seele des Menschen. Es ist das, was ursprünglich bedeutet Michaels Streit mit dem Drachen. Dieses Bild sehen Sie auch im Bilde des Mithras-Stieres, und da besonders anschaulich. Natürlich wollte man nicht damit sagen: Diese Angeloi haben sich entzogen ihrer Aufgabe, sondern man hat sie hingestellt als ein Ideal der Zukunft. Diese Wesenheiten, sagte man, sie haben vollzogen den Aufstieg in die geistige Welt. Du bist hinuntergestiegen; mit dir sind hinuntergestiegen andere Wesenheiten, die den Mächten der Hindernisse gefolgt sind. Nun mußt du das verarbeiten, was du damit aufgenommen hast, und hinauftragen in die geistige Welt; du mußt sozusagen beim Wiederaufstieg ein solcher Michael, ein solcher Stierbesieger werden. [1] Ebenso (wie bei Jesus) hören wir, wie das Hereintreten des Mithras in das Erdendasein in der Winterweihenacht des kürzesten Tages gefeiert worden ist; ebenso hören wir, daß er verborgen in einer Höhle geboren worden ist, daß Hirten zuerst seinen Lobgesang vernahmen. Der Sonntag wurde ihm, ebenso wie andere christliche Festtage, geweiht. Und wenn wir fragen: Was ist das Charakteristische an dem Herabsteigen dieser Mithrasgestalt?, so müssen wir sagen: So wie der Christus vorgestellt wurde in dem Jesus, so wurde der Mithras nicht vorgestellt. Wenn man sich ein Abbild, eine bildliche Vorstellung von ihm machte, so wußte man, daß man damit nur eine symbolische Vorstellung hatte. Der wahre Mithras war nur zu schauen von denen, die hellseherisches Schauen hatten. Zwar wurde er vorgestellt als Mittler zwischen den Menschen und den geistigen Hierarchien; aber nicht so wurde er vorgestellt, daß er sich in einem Menschen verkörpert habe. Er wurde so vorgestellt, daß er, als er herabstieg auf die Erde, in seiner wahren Wesenheit nur sichtbar war für die Initiierten, nur für diejenigen, die hellseherisches Schauen hatten. Daß diejenige göttlich-geistige Wesenheit, die als Mittler vorzustellen ist zwischen den geistigen Hierarchien und der Menschenseele, in einem Erdenleibe als Kind verkörpert ist, diese Vorstellung war im Mithrasdienste noch nicht vorhanden. Denn das, was Mithrasdienst ist, fußte darauf, daß altes primitives Hellsehen bei einer großen Anzahl von Menschen noch vorhanden war. Wenn wir den Weg des Mithrasdienstes von Osten nach Westen untersuchen, so finden wir unter den Menschen, die Mithrasdiener wurden, eine große Anzahl von solchen, die sehen konnten in jenen Zwischenzuständen zwischen Wachen und Schlafen, wo die Seele nicht in Träumen, sondern in geistiger Wirklichkeit lebt, das Herabsteigen des Mithras von Äon zu Äon, von Etappe zu Etappe, von der geistigen Welt bis zur Erde hin. Und die anderen wurden mitgerissen von diesen Sehern. Zeugnis ablegen konnten viele, daß den Menschen ein solcher Mittler, ein Mittler in den geistigen Welten erstanden ist. Was man als Mithraskultus hatte, war eben eine äußere, mehr oder weniger bildliche Darstellung dessen, was die Seher schauten. Was ist es denn eigentlich, was uns in diesem Mithrasdienst entgegentritt? Wir dürfen nicht glauben, daß von dem Christus erst etwas gewußt wird seit dem Mysterium von Golgatha. Als denjenigen Geist, der kommen wird, haben ihn die Eingeweihten und deren Schüler auch in den vorchristlichen Zeiten wohlgekannt. Die Eingeweihten haben immer wieder auf denjenigen hingewiesen, den sie als Sonnengeist von den Höhen herabkommend schauten, der sich der Erde nahte, um in der Erde seine Wohnung aufzuschlagen. Als den Künftigen, den Kommenden haben sie ihn bezeichnet. Sie haben ihn gewußt im Geiste und haben ihn herabsteigend geschaut. [2]

Der Mithrasdienst war wie eine letzte, starke Erinnerung an den noch nicht zur Erde gekommenen, aber herabsteigenden Christus. Langsam und allmählich flutete ab, dieses hellseherische Hinaufschauen in kosmische Weiten, in denen Christus als kosmisches Wesen den Menschen erscheinen kann. Ein Anklingen an das alte hellseherische Wissen war der Mithrasdienst. [3]

Der alte Inder fühlte: «Da gehe ich hinaus (in den Makrokosmos), auf der anderen Seite gehe ich hinein (in den Mikrokosmos) und komme zur Einheit.» Der Perser ging den Weg nach außen und sagte, wenn er sich an die Lehre des Zarathustra hielt: «Ich komme zu Ormuzd!» und wenn er den Weg nach innen ging: «Ich komme zu der Wesenheit des Mithras!» Aber es schlossen sich ihm diese zwei Wege nicht mehr zusammen. Er ahnte nur noch, daß sie sich zusammenfinden müssen irgendwo. Zaruana akarana (siehe: Zervan Akarana), das war der Name für diesen im Dunkel wesenden, aber nicht mehr auf den beiden Wegen erreichbaren persischen Gott. [4]

Sehen Sie, wir leben eigentlich heute in einem Bewußtsein, das eine Art von Fortsetzung des alten urpersischen Weltenbewußtseins ist, das ja lebte in Ahriman und Ormuzd. Es sieht in Ahriman den bösen Gott, der widerstrebt dem Ormuzd, und in dem Ormuzd den guten Gott, der die Werke des Ahriman zunichte macht. Man weiß nicht, daß der Urperser das Bewußtsein hatte, daß man weder dem Ahriman noch dem Ormuzd (allein) folgen darf, sondern ihrem Zusammenwirken. Und ihr Zusammenwirken äußert sich in einer solchen Gestalt, wie es der Mithras war. Ormuzd ist eine luziferartige Gestalt, die uns welt-los macht, wenn wir uns ihr hingeben, die uns der Schwere entreißen und uns im Lichte verbrennen lassen möchte. Der Mensch muß den Weg finden zwischen dem Lichte und der Schwere, zwischen Luzifer und Ahriman, und deshalb müssen wir die Möglichkeit haben, nicht in irgendeinem Dualismus zu denken, sondern in der Trinität zu denken. Wir müssen die Möglichkeit haben zu sagen: Die persische Dualität Ormuzd und Ahriman ist heute Luzifer und Ahriman, und der Christus steht in der Mitte drinnen, der Christus ist derjenige, der das Gleichgewicht bewirkt. – Nun hat alle religiöse Entwickelung bisher, insbesondere die theologische, eine sehr verderbliche Gleichung aufgestellt, sie hat die Christus-Figur so nahe als möglich an die Luzifers herangebracht. Es ist fast ein Wiederauferstehen des altpersischen Ormuzd, wenn man erlebt, wie heute von Christus gesprochen wird. Man denkt nur immer die Dualität, also das Böse im Gegensatz zum Guten. Durch keine Dualität wird das Weltproblem gelöst, sondern einzig und allein durch die Trinität. Denn sobald man die Zweiheit hat, hat man nicht nur das Gute und das Böse, sondern man hat den Kampf zwischen dem Licht und der Finsternis, den Kampf, der nicht enden darf mit dem Sieg des einen über das andere, sondern der enden muß mit der Harmonisierung der beiden. Das ist eigentlich dasjenige, was man in den Christus-Begriff hineinbringen muß. [5]

Zitate:

[1]  GA 110, Seite 165   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[2]  GA 156, Seite 190f   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[3]  GA 156, Seite 193   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[4]  GA 113, Seite 163   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[5]  GA 342, Seite 160f   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)

Quellen:

GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)