Christus Jesus – Doppelname

Die Menschen haben vor dem Mysterium von Golgatha hinausgesehen in das weite Weltenall; sie haben gesehen Sterne über Sterne, sie haben gesehen die Sonne und den Mond, sie haben gesehen Luft und Wasser, die verschiedenen Reiche. Aber sie haben sie nicht so angeschaut wie der heutige Mensch, sondern sie haben hinter alldem den Christus, der noch nicht mit zur Erde niedergestiegen war, geschaut. In diesen alten Zeiten hat man den Christus verbunden mit dem Kosmos, außerirdisch hat man ihn gesehen. In all dem, worinnen man den Christus gesehen hat, ist nichts, was über das Venusdasein hinaus dauert. Alles, wodurch sich in den Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha dem Menschen das Geistige enthüllt hat und auch der Christus im Kosmos, hat nur einen Bestand bis zum Venusdasein. Die Menschen lebten mit dem Himmel, aber dieser ist so sinnlich, daß er auch mit dem Venusdasein verschwindet. Was über das Venusdasein hinaus bleibt, das hat seine Keime nur im Menschen. Der Christus mußte aus dem Weltenall zu dem Menschen kommen, wenn er mit dem Menschen den Gang in die Ewigkeit antreten wollte. Deshalb stieg der Christus aus dem Kosmos herab, um fortan mit dem zu sein, was als Keim im Menschen in die Ewigkeit hinaus dauert. [1] Wörtlich wahr ist es: Dasjenige, was da ist im weiten Umkreis der Sinne als Sterne, als Himmelskörper, es wird vergehen. Aber das Wort, der Logos, der erschienen ist in dem Christus, und der sich vereinigt mit dem ewigen Wesenskern des Menschen, der wird bleiben, das ist eine wörtliche Wahrheit. Das ist auch der Grund, warum wir gewissermaßen einen Dualismus in der Namengebung haben müssen. In dem Christus muß man das Kosmisch-Geistige sehen; in dem Jesus muß man dasjenige sehen, durch welches dieses Kosmisch-Geistige in die historische Entwickelung eingetreten ist und sich so mit der Menschheit verbunden hat, daß es mit dem Menschenkeim nun weiter in die Ewigkeiten leben kann. Dieses mit den alten Mysterien zusammenhängende Christusgeheimnis zu verhüllen, zu entstellen, das war gewissermaßen die Aufgabe der Kirche in den verflossenen Jahrhunderten. Den Weg zu finden zu dem Christus Jesus war immer ein Märtyrerweg. Er mußte immer gesucht werden, der Christus Jesus, gegen die Konventionen, wie er ja auch heute selbstverständlich gegen dasjenige, was von den Konventionen geblieben ist (oder sich neu gebildet hat), gesucht werden muß. [2]

Die Christus-Wesenheit hatte vom ersten Augenblick an ihres irdischen Wandels zuerst nur eine lose Verbindung mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Die Verbindung war nicht so, wie beim gewöhnlichen Menschen die Verbindung des Leiblichen und der Seele ist, so daß diese vollständig im Leibe wohnt, sondern so, daß jederzeit, zum Beispiel wenn es nötig war, die Christus-Wesenheit den Leib des Jesus von Nazareth wiederum verlassen konnte. Und während der Leib des Jesus irgendwo war wie schlafend, machte die Christus-Wesenheit geistig den Weg da- oder dorthin, wo es eben gerade nötig war. Nicht immer, wenn die Christus-Wesenheit den Aposteln erschienen war, auch der Leib des Jesus dabei war. Aber er war dann so erschienen, daß sie die geistige Erscheinung verwechseln konnten mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Die Apostel konnten nicht immer deutlich unterscheiden. Der gewöhnliche Mensch ist ein Mikrokosmos, ein kleines Abbild des ganzen Makrokosmos. Das Umgekehrte ist bei der Christus-Wesenheit der Fall. Die makrokosmische Sonnenwesenheit formt sich nach der Gestalt des menschlichen Mikrokosmos, drängt sich, preßt sich immer mehr und mehr zusammen, so daß sie immer ähnlicher wird dem menschlichen Mikrokosmos.

Im Anfang des Erdenlebens des Christus, gleich nach der Taufe im Jordan, war die Verbindung mit dem Leibe des Jesus von Nazareth noch die am meisten lose. Sie war noch etwas ganz Überirdisches. Sie vollzog Heilungen, die mit keiner Menschenkraft zu vollziehen sind. Sie sprach mit einer Eindringlichkeit zu den Menschen, die eine göttliche Eindringlichkeit war. Die Christus-Wesenheit, wie nur sich selber fesselnd an den Leib des Jesus von Nazareth, wirkte als überirdische Christus-Wesenheit. Aber immer mehr und mehr machte sie sich ähnlich dem Leibe des Jesus von Nazareth, preßte sich, zog sich immer mehr und mehr zusammen in irdische Verhältnisse hinein und machte das mit, daß immer mehr und mehr die göttliche Kraft hinschwand. Aus dem Gotte wurde nach und nach ein Mensch. Wie jemand, der unter unendlichen Qualen immer mehr und mehr seinen Leib dahinschwinden sieht, so sah schwinden ihren göttlichen Inhalt die Christus-Wesenheit, indem sie immer ähnlicher wurde als ätherische Wesenheit dem irdischen Leibe des Jesus von Nazareth, bis sie diesem so ähnlich geworden war, daß sie Angst fühlen konnte wie ein Mensch. [3] Von der göttlichen Machtfülle bis zur Machtlosigkeit, das war der Passionsweg des Gottes. Ein Weg unendlichen Leidens für den Mensch gewordenen Gott, zu dem hinzukam jenes Leid über die Menschheit. Dieses Schmerz-Erleiden aber gebar jenen Geist, der beim Pfingstfeste ausgegossen worden ist auf die Apostel. Aus diesen Schmerzen herausgeboren ist die allwaltende kosmische Liebe, die herabgestiegen ist bei der Taufe im Jordan aus den außerirdischen, himmlischen Sphären in die irdische Sphäre hinein, die ähnlich geworden ist dem Menschen, ähnlich einem menschlichen Leibe, und die durchmachte das unendliche Leid, das sich kein Menschendenken ausdenken kann, die durchmachte den Augenblick der höchsten göttlichen Ohnmacht, um jenen Impuls zu gebären, den wir dann als den Christus-Impuls in der weiteren Evolution der Menschheit kennen. [4]

Es ist die Voraussetzung , daß man weiß, wie in der allgemeinen Menschheit das Geistselbst, Manas in die Bewußtseinsseele hineinkommt, um zu verstehen wie die Christus-Natur als ein besonderes kosmisches Geistselbst, Manas in die Bewußtseinsseelennatur des Jesus von Nazareth hineinkam. Nur ein Surrogat für dies fand (beispielsweise) Tertullian (ältester lateinischer Kirchenvater). Man kann das, was er sich als einen Begriff ausbildete, so fassen, wie wenn man heute sagte: Es findet keine Vermischung statt – nach Tertullian – zwischen dem Christus, entsprechend dem Manas, und dem Jesus, entsprechend der Bewußtseinsseele und allem, was an niederen Wesensgliedern dazugehört, keine Vermischung, sondern nur eine Verbindung. Die Bewußtseinsseele ist mit der Verstandesseele selbstverständlich innerlich immer vermischt, aber das Geistselbst ist mit der Bewußtseinsseele verbunden nicht vermischt. Und diesen Begriff bildet sich Tertullian wirklich aus. Er sagt: Nicht vermischt ist der Christus mit dem Jesus, sondern verbunden. [5]

Selbst Jesus von Nazareth, der viele Inkarnationen durchlebt hatte und auf hoher Stufe angelangt war und eine hohe Einweihungsstufe erreicht hatte, selbst er war nicht etwa bei der Geburt schon fähig, der Träger der Christus-Individualität zu werden. Wohl aber, nachdem sie sich durch ein Leben von dreißig Jahren dazu vorbereitet hatte, war sie fähig geworden, die äußeren menschlichen Hüllen, den physischen Leib, den Äther- und Astralleib so weit zu läutern und zu reinigen, daß die Individualität des Jesus von Nazareth diese gereinigten Leiber verlassen konnte, bei der Johannes-Taufe. [6]

Bei dieser Taufe, da, wo das bedeutungsvolle Symbol der Taube erscheint über dem Kopfe des Jesus, der nicht bloß inspiriert, sondern unmittelbar intuitiert wird von dem Christus, schießt etwas durch den ganzen Leib des Jesus von Nazareth bis in diejenigen Glieder hinein, welche in der heutigen Menschheitsentwickelung am meisten dem Einflusse des Menschen entzogen sind: bis in die Knochen hinein geschieht etwas. Der Mensch ist heute imstande, seine Hand zu bewegen, aber er hat keine Gewalt, hineinzuwirken in die chemischen Kräfte seiner Knochen, er ist verfestigt in seinen Knochen. Herrschaft über die Kraft, die Knorpelmasse und Knochenasche zusammenhalten, erhielt als einziger Leib, den es je auf der Erde gegeben hat, der Leib des Jesus von Nazareth durch die Intuition des Christus. Das wird uns damit angedeutet, daß durch dieses Beherrschen der Knochen diejenige Kraft in die Welt kam, welche imstande ist, den Tod wirklich zu besiegen in der physischen Materie. Denn die Knochen sind schuld an dem Tode des Menschen; dadurch, daß der Mensch so gestaltet wurde, daß er die feste Knochenmasse sich eingliederte, verstrickte er sich mit dem Mineralischen der Erde. Dadurch wurde ihm der Tod eingeboren, und nicht umsonst wird der Tod durch das Skelett dargestellt. Das ist die lebendige Kraft, die in der Lage ist, die Knochen einst wiederum zurückzuverwandeln, das heißt, allmählich in die Geistigkeit zu führen, was in der künftigen Mission der Erdentwickelung geschehen wird. Daher durfte auch keine fremde physische Macht eingreifen in dieses Knochengewebe: Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen! Den anderen, die ans Kreuz gehängt wurden, wurden die Beine zerbrochen. [7]

Indem sich der Christus vereinigte mit der äußeren Hülle des Jesus, zeigt sich dieses Ereignis in seiner äußeren Erscheinung dem, der die geistigen Augen geöffnet hat, auch in einer gegenteiligen Erscheinung (wie jede übersinnliche Wahrnehmung). Während bei einer physischen Verkörperung ein Geistiges herunterkommt aus höheren Welten und sich mit dem Physischen vereinigt, erscheint dasjenige, was in diesem Falle hingeopfert wurde, um den Christusgeist aufzunehmen, über dem Haupte des Jesus in Form der weißen Taube. Ein Geistiges erscheint, wie es sich loslöst von dem Physischen! Das ist durchaus eine hellseherische Beobachtung. [8]

Wenn der Zarathustra im alten Persien hinaufgeschaut hatte zur Sonne und von Ahura Mazdao gesprochen hatte, so hat sich das dem Astralleibe eingeprägt. In diesen astralischen Leib hinein stieg der Christus. War es also nicht ganz natürlich, daß der Christus, wenn er Gedankenbilder brauchte, wenn er Empfindungsausdrücke brauchte, sie nur in dasjenige kleiden konnte, was ihm sein Astralleib darbot. In dem Evangelium des Johannes klingt manches wieder von den Ausdrücken, die schon in der alten persischen Einweihung gebraucht worden sind. [9]

Zitate:

[1]  GA 183, Seite 67   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[2]  GA 183, Seite 68   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[3]  GA 148, Seite 51ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 54   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 165, Seite 212f   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[6]  GA 105, Seite 174   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[7]  GA 105, Seite 175f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[8]  GA 112, Seite 184   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[9]  GA 112, Seite 144   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)

Quellen:

GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 165:  Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls (1915/1916)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)