Inkarnation

Wir werden zu beschreiben haben den Herunterstieg des Menschen in diese Welt, wobei Sie sich an dem Wort «Herunterstieg» nicht stoßen dürfen, denn es ist nicht ein räumliches Heruntersteigen, sondern ein Sich-Herausbilden aus der Welt um uns herum. Diese geistige Welt ist nicht etwa in einem Jenseits zu suchen, sondern sie ist auch hier rings um uns herum, nur fehlt dem heutigen Menschen die Möglichkeit, diese geistige Welt wahrzunehmen. Aus dieser geistigen Welt heraus entwickelt sich das, was man eine neue Verkörperung nennt. [1] Wenn der Mensch (im nachtodlichen Leben) den Rückgang beginnt, so beginnt wiederum sein Interesse an den Erdenangelegenheiten, und dann schaut er hinunter, viele Jahre, bevor er geboren wird, auf die Generationen, die in der Erdentwickelung sich ergeben, und an deren Ende sein Vater, seine Mutter stehen, zu dem er heruntersenden kann dasjenige, verkleinert, was als mächtiger, umfassender Geistkeim für den physischen Leib geformt worden ist in der geistigen Welt, damit dieser Geistkeim sich dann mit dem physischen Keim im Mutterleibe verbinden kann. Dieser Geistkeim ist zuerst majestätisch und groß wie das Weltenall selber. Während der Mensch den Rückzug antritt in die physische Welt und die Generationen, von denen dann seine Eltern stammen werden, überschaut, von der geistigen Welt aus mittätig ist an dieser Generationenfolge, während dieser Zeit wird der Keim immer kleiner und kleiner, bis er wiederum zurückkommt in die Mars-, die eigentliche Sonnensphäre, und dann schnell durch die Mondensphäre wiederum zur Erde zum nächsten Leben heruntersteigt.

Schon einige Zeit, bevor der Mensch als Seelenwesen selber heruntersteigt, schickt er diesen Geistkeim voraus. So daß der Mensch dasjenige, was er vorbereitet hat für seinen physischen Leib, eine Zeitlang, bevor er selber heruntersteigt in die physische Welt, voraussendet. Indem er gewissermaßen seine Arbeit für das nächste Erdenleben abgelegt hat, kommt er in die Lage, ein anderes Verhältnis zum Kosmos einzugehen, als das vorher war; dadurch kommt er in die Lage, sich in ein Verhältnis zum ganzen kosmischen Äther zu bringen. Und er zieht als den letzten Akt dieses Herabsteigens aus den geistigen Welten die Kräfte aus dem gesamten Weltenäther heraus, aus denen er seinen Ätherleib formt (siehe: Ätherleib-Bildung bei der Inkarnation). Wenn der Mensch schon den Geistkeim für seinen physischen Leib heruntergeschickt hat, wenn also der Geistkeim schon zum Elternpaar nach einer langjährigen Strömung aus den geistigen Welten für das Physische des Leibes heruntergeschickt worden ist, so weilt der Mensch selber noch in der geistigen Welt, sammelt in der geistigen Welt den Äther um sich, so daß er für eine kurze Zeit ein Wesen wird aus Ich, astralischem Leib und Äther; der Äther ist zusammengezogen aus dem gesamten Weltenäther. Und erst während der Embryonalzeit, in der dritten, vierten Woche nach der Empfängnis, vereinigt der Mensch dasjenige, was sich in den ersten drei bis vier Wochen aus der Vereinigung von Geistkeim und physischem Keim gebildet hat, was also schon früher als er auf der Erde angekommen ist, das vereinigt er mit seiner Wesenheit. [2]

Zuerst haben wir es bei der Menschwerdung zu tun mit der Entwicklung des Keimes, der in den ersten Tagen einem kleinen Fischchen ähnlich sieht. Diesem Keim kommt etwa am siebzehnten Tag das Astralwesen entgegen; und dieses Astralwesen kennt der psychische Forscher so gut wie der physische Forscher das Physische. Der Seher sieht im Astralen viele trichterförmige Gestalten. Das sind die werdenden Menschen; das sind die Wesenheiten, die ihre physische Verkörperung suchen. Von dem dringenden Wunsche beseelt, sich zu verkörpern, durcheilen diese Gebilde mit großer Geschwindigkeit den Astralraum und suchen nach physischer Stofflichkeit. Wer den zweiten Teil des «Faust» gelesen hat und sich an die Szene mit dem Homunculus erinnert, der wird sie nur verstehen, wenn er weiß, daß Goethe diesen Vorgang hat darstellen wollen. Diese astralen Gebilde haben die verschiedensten Färbungen, von denen wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Innerhalb dieses Astralkörpers befindet sich ein Streifen, der sich ins Unbestimmte verliert. Er ist von hellgelber Farbe. Dieser Astralkörper verbindet sich mit dem von ihm selbst gewählten physischen Körper, wenn der Embryo ungefähr die Gestalt eines Fischchens hat. Dann tritt eine Veränderung ein. Es spaltet sich der Lichtstrahl in zwei Teile, in zwei hell-leuchtende Strahlenstreifen. Das ist bei der Mehrzahl der Menschen der Fall, und so würde Ihnen das erscheinen, wenn Sie die Menschen bei ihrer Entstehung verfolgen könnten. Nur bei wenigen Menschen zeigt sich ein etwas anderer Vorgang. Nur wenige Menschen zeigen einen bleibenden hellen Streifen, der allerdings etwas verblaßt in dem Augenblick, wo er bei anderen Menschen ganz verschwindet, aber er bleibt doch. Das sind diejenigen Menschen, welche ein spirituelles Schauen haben. Wir halten zunächst fest an dem gewöhnlichen Vorgang, wo das Lichtstreifchen sich teilt. Nun vereinigt sich das astrale Gebilde mit dem physischen Menschenkeim. Von dem einen Tröpfchen wird alles durchströmt, gleichsam von einer hellgelben Flüssigkeit. Dieses wächst später zu dem sogenannten sympathischen Nervengeflecht aus, welches das physische Nervensystem des Menschen versorgt. Wir haben ja außer dem Gehirn- und Rückenmarksystem ein anderes Nervensystem, das sympathische, das die niederen Funktionen dirigiert. Der eine Tropfen durchströmt das sympathische Nervensystem, der andere Gehirn- und Rückenmarksystem. So wird der Mensch beseelt. Gesetzmäßig gehen die beiden Lichtkegel in das Physische über und durchgeistigen es. Bei jedem Mensehen tritt erneut dieser Lichtschein auf, der das Gehirn im besonderen durchzieht. Wenn der Moment eingetreten ist, dann ist tatsächlich das, was der Mensch mitgebracht hat aus dem früheren Leben, und das, was er aus der physischen Welt hat, miteinander vereinigt. So kommen die beiden Wesenheiten zusammen, welche den vollen Menschen ausmachen. Wir haben gelebt in früheren Inkarnationen; wir sind durch die geistige Welt hindurchgegangen; da waren wir Geist. Der Geist geht herunter durch die astrale Welt und umgibt sich mit dem Astralstoff. Das ist das, was der Mensch mitbringt aus dem früheren Leben und was er anzieht aus der astralen Sphäre. Diese beiden Dinge sind es, die der Mensch mitbringt, das Geistige und das Astrale. Der Lichtschein, das sind die Fähigkeiten, die wir mitbrachten aus früheren Leben. Diese ziehen ein, nachdem das Wesen den brennenden Wunsch gestillt hat, mit einem astralen Organismus verbunden zu sein. Von jetzt ab wächst der Menschenkeim nicht nur durch die physische Kraft, sondern auch von innen heraus. Was er in früheren Leben gewonnen hat, das arbeitet jetzt von innen heraus an der Herstellung des Körpers. Nicht Ihr Organismus baut Ihre Seele auf, sondern Ihre Seele baut Ihren Organismus auf. Der Menschenkeim ist erst wenige Tage alt, wenn er mit der Seele vereinigt wird. Er ist das einzige, was uns von außen gegeben wird. Er wird uns durch ganz bestimmte Gesetze gegeben. [3]

Daß der Mensch durch Vererbung entsteht, ist nur scheinbar. Durch Vererbung wird ihm nur die alleräußerste physische Hülle umkleidet, aber die Form seiner Organe sogar muß der Mensch entwickeln. Wenn der Mensch sich nähert dem irdischen Leben, dann hat er ja Sonne und Mond noch in sich (da er ja ausgebreitet im ganzen Kosmos ist). Aber allmählich schrumpfen Sonne und Mond zusammen. Und dann löst sich etwas von der Sonne los, und etwas vom Monde los. Nun hat man dann – statt daß man früher Sonne und Mond in sich gehabt hat – vor sich etwas, das eine Art Abbild ist von Sonne und Mond: die eine Kugel in hellglänzendem Lichte, die andere Kugel glimmend, mehr in sich warm, wärmend feurig und mehr das Licht wie egoistisch an sich haltend. Diese zwei Kugeln, die sich loslösen von dem kosmisch umgewandelten Menschen – von diesem heute noch bestehenden Adam Kadmon –, diese zwei Kugeln, die sich loslösen, die nähern sich immer mehr und mehr. Man sagt dann, wenn man herunterkommt zur Erde: Sonne und Mond werden eins. Und das ist dasjenige, was einen schon von Ururgroßmutter und so weiter – hinführt, hinleitet bis zuletzt zu derjenigen Mutter, die einen gebären soll. Da leiten einen Sonne und Mond, die sich aber dabei immer mehr und mehr nähern. Und dann sieht man eine Aufgabe vor sich. Dann sieht man gewissermaßen wie einen einzigen Punkt dasjenige, was noch fern ist im menschlichen Embryo. Und man sieht das, was da aus Sonne und Mond wie ein Einheitliches entstanden ist, sich der Mutter nähernd. Aber man sieht eine Aufgabe vor sich. Man weiß: Wenn nun dein kosmisches Bewußtsein ganz geschwunden sein wird, wenn du durch eine Finsternis durchgehen wirst – das ist nach der Empfängnis, nach der Konzeption, wenn der Mensch untertaucht in den Embryo –, so wirst du das, was Sonne und Mond gewesen sind umstülpen müssen, und da entsteht eine kleine Öffnung, durch diese mußt du hinein mit deinem Ich, und dies wird im Abbild dann dein Menschenkörper auf der Erde sein. Man muß das Ganze umdrehen, das Innere nach außen stülpen und durch die kleine Öffnung hineingehen. Dann geht das auseinander: Es werden im embryonalen Zustande zwei physische Abbilder gebildet. Denn die physischen embryonalen Augen sind zwei Bilder: dasjenige, was aus Sonne und Mond entstanden ist. [4] Es ist nicht so, daß etwa aus Sonne und Mond nur die Augenform gebildet wird; es wird auch die Herzform aus der Sonne gebildet, aber nur, wenn die Sonne zugleich die Kräfte in sich enthält, die von der Sonne aus dem Sternbild des Löwen her kommen. So baut der Mensch tatsächlich, sei es aus den Bewegungen, sei es aus den Konstellationen der Sterne im Universum, seinen ganzen menschlichen Organismus auf. Dieser menschliche Organismus ist ein Abbild der Sternenwelt, und ein großer Teil der Arbeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt besteht darinnen, daß wir aus dem Universum unseren Leib herausarbeiten. Das menschliche Wesen, wie es dasteht auf der Erde, ist ein Universum, aber ein zusammengeschrumpftes. [5]

Man muß nämlich, bevor man auf die Erde heruntersteigt, den menschlichen Organismus ganz genau kennen, sonst kann man nicht recht hineinsteigen in den ersten sieben Jahren und ihn nicht recht umwandeln. Und was man also erwirbt an Wissen in bezug auf die innere Organisation zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, das ist etwas ganz Unermeßliches gegenüber dem bißchen Wissen, das heute die Physiologie oder Histologie von außen her erwerben. Dieses Wissen, das wir da haben, das dann untertaucht in den Körper und daher vergessen wird, weil es untertaucht, das wendet sich nicht durch die Sinne nach der Außenwelt. Dieses Wissen ist etwas unermeßlich Großes. Dieses Wissen wird aber beeinträchtigt, wenn wir in einem Erdenleben für unsere Umgebung kein Interesse entwickeln, oder an diesem Interesse verhindert worden sind. Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben.

Diejenigen Menschen, die heute abgeschlossen leben von der Welt, die werden alle einstmals herunterkommen mit Unkenntnis des menschlichen Organismus, und sie werden sich wählen die Vorfahren, die sonst unfruchtbar bleiben würden. Gerade die Menschen, die schlechte Körper liefern würden, werden dann gewählt, während diejenigen, die gute Körper liefern würden, steril bleiben. Es hängt tatsächlich von der ganzen Entwickelung eines Zeitalters ab, wie sich beim Heruntersteigen wieder ein Geschlecht aufbaut. Und wenn wir ein Kind ansehen, müssen wir sehen, was da in dem Kinde von dem vorigen Erdenleben lebt. Man muß es verstehen, warum es sich wählt Organe, die nach den Vererbungskräften krankhaft sind, warum es sich wiederum durch eine unvollständig entwickelte Individualität in diesen Körper hineinarbeitet. Denken Sie sich, was da für Möglichkeiten gegeben sind bis zum Zahnwechsel hin für ein Kind, weil ja nicht immer vollständig adäquat ist das, was herunterkommt, dem, was vorliegt. Da ist die Möglichkeit vorhanden, daß zum Beispiel ein Kind ein gutes Modell hat, das in der Leber gut ausgebildet ist. Weil aber die Individualität unfähig ist, das zu verstehen, was da drinnen liegt, so wird es in der zweiten Lebensepoche unvollständig nachgebildet (denn der Körper der ersten 7 Jahre ist nur ein Modell), und dann entsteht ein sehr bedeutsamer Willensdefekt. Gerade wenn das Beispiel vorliegt, daß die Leber in dieser Weise nach dem (guten) Lebermodell unvollständig nachgebildet wird, dann entsteht ein Willensdefekt, der sich äußert dadurch, daß das Kind will, aber es geht nicht über zum Ausführen des Willens, es bleibt das Wollen im Gedanken stecken. Denn die Crux ist, daß die Leber nicht bloß das Organ ist beim Menschen, das die heutige Physiologie beschreibt, sie ist im eminentesten Sinne dasjenige Organ, das dem Menschen die Courage gibt, eine ausgedachte Tat in eine wirklich ausgeführte umzusetzen. [6]

Das ist der Grund, daß man so wenig von seinem physischen Leibe weiß, weil man dasjenige, was man als Weisheit mitbekommen hat, als man ins Erdenleben heruntergestiegen ist, im Laufe des Lebens verloren hat, in Seelenhaftigkeit verwandelt hat. Wenn wir gestorben sind, haben wir ungefähr vergessen, was wir bei unserer Geburt heruntergebracht haben ins physische Leben. Unsere Lebenszeit ist ungefähr die Vergessenszeit. [7]

Der Mensch entwickelt sich von Verkörperung zu Verkörperung. Diese Entwickelung beginnt eigentlich in der alten lemurischen Zeit und sie wird auch noch längere Zeit anhalten, bis gegen das Ende der Erdentwickelung, wo dann andere Formen der Menschheitsentwickelung eintreten werden. [8]

Zitate:

[1]  GA 100, Seite 68   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[2]  GA 227, Seite 250f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[3]  GA 88, Seite 45ff   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)
[4]  GA 214, Seite 152f   (Ausgabe 1980, 208 Seiten)
[5]  GA 214, Seite 154   (Ausgabe 1980, 208 Seiten)
[6]  GA 317, Seite 20ff   (Ausgabe 1979, 200 Seiten)
[7]  GA 349, Seite 146f   (Ausgabe 1961, 264 Seiten)
[8]  GA 110, Seite 92   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)

Quellen:

GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 214:  Das Geheimnis der Trinität. Der Mensch und sein Verhältnis zur Geistwelt im Wandel der Zeiten (1922)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 317:  Heilpädagogischer Kurs (1924)
GA 349:  Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums (1923)