Manas oder Geistselbst

Der ein «Ich» bildende und als «Ich» lebende Geist sei Geistselbst, Manas genannt, weil er als Ich oder Selbst des Menschen erscheint. Den Unterschied zwischen dem Geistselbst und der Bewußtseinsseele kann man sich in folgender Art klarmachen. Die Bewußtseinsseele berührt die von jeder Antipathie und Sympathie unabhängige, durch sich selbst bestehende Wahrheit; das Geistselbst trägt in sich dieselbe Wahrheit, aber aufgenommen und umschlossen durch das Ich; durch dieses individualisiert und in die selbständige Wesenheit des Menschen übernommen. Dadurch, daß die ewige Wahrheit so verselbständigt und mit dem Ich zu einer Wesenheit verbunden wird, erlangt das Ich selbst die Ewigkeit. Das Geistselbst ist eine Offenbarung der geistigen Welt innerhalb des Ich, wie von der anderen Seite her die Sinnesempfindung eine Offenbarung der physischen Welt innerhalb des Ich ist. [1] Wenn nun das Ich sich mit dem Geistselbst durchdringt, so tritt dieses Geistselbst so auf, daß der Astralleib von dem Seelischen aus umgearbeitet wird. Es drückt sich dies so aus, daß dann die Triebe, Begierden und Leidenschaften durchleuchtet sind von dem, was das Ich aus dem Geiste empfangen hat. Das Ich ist dann vermöge seines Anteiles an der geistigen Welt Herr geworden in der Welt der Triebe, Begierden und so weiter. In dem Maße, als es dies geworden ist, erscheint das Geistselbst im Astralleib. Und dieser selbst wird dadurch verwandelt. Der Astralleib erscheint dann selbst als zweigliedrige Wesenheit, als zum Teil unverwandelt, zum Teil verwandelt. Daher kann man das Geistselbst in seiner Offenbarung am Menschen als den verwandelten Astralleib bezeichnen. [2] Stofflich ist das Manas dasselbe wie der Astralleib. Es ist nur eine andere Art der Anordnung desjenigen, was ursprünglich im Astralleib war und nun zum Geistselbst umgestaltet wurde. [3]

Jener Wilde folgt unmittelbar seinen Trieben und Leidenschaften, wie sie in seinem Astralleib enthalten sind. Er hat zwar schon das Ich, aber das ist noch ganz in der Gewalt des Astralleibes. Der heutige Durchschnittsmensch unterscheidet schon, was gut und nicht gut ist. Das kommt daher, daß dieser Mensch schon an seinem Astralleibe gearbeitet hat. Er hat daran gearbeitet und sogar einige Triebe schon umgestaltet zu sogenannten Idealen. Eine um so höhere Entwicklungsstufe hat der Mensch erreicht, je mehr er von seinem Ich aus an seinem Astralleibe umgearbeitet hat. Der heutige europäische Durchschnittsmensch hat schon viel umgearbeitet. Eine Individualität wie Schiller oder Goethe hat bereits den weit größeren Teil seines Astralleibes umgearbeitet. Ein Mensch aber, der alle Leidenschaften schon unter seinen Willen gezwungen hat, wie zum Beispiel Franz von Assisi, hat schon einen Astralleib, der bereits ganz umgearbeitet ist vom Ich; es ist nichts mehr darin, was nicht unter der Herrschaft des Ich stände. So viel als der Mensch von seinem Astralleib derart umgearbeitet hat, so viel nennen wir sein Manas oder Geistselbst; das ist das fünfte Glied seiner Wesenheit. Wir können also sagen: Im Ich liegt der Keim zur Umarbeitung des Astralleibes in Manas, Geistselbst. [4] Ein Astralleib also, der vom Ich beherrscht wird, ist Geistselbst oder Manas. [5]

Auf der fünften Stufe (der Nebenübungen) entwickeln wir Manasoder Geistselbst. Da dürfen wir uns nicht festlegen auf dasjenige, was wir bisher gesehen, gelernt, gehört haben. Wir müssen lernen, von alle dem abzusehen, uns allem, was uns entgegentritt, ganz wie ausgeleert von dem Bisherigen zu erhalten. Manas kann nur entwickelt werden, wenn man lernt, alles, was wir uns durch Eigendenken erworben haben, doch nur zu empfinden als etwas Minderwertiges gegenüber dem, was wir uns erwerben können, indem wir uns den Gedanken öffnen, die aus dem gottgewobenen Kosmos einströmen. Aus diesen göttlichen Gedanken ist alles, was uns umgibt, entstanden. Wir haben sie nicht durch unser bisheriges Denken finden können. Da verbergen es uns die Dinge. Jetzt lernen wir hinter allem wie ein verborgenes Rätsel dies Göttliche zu erahnen. Immer mehr lernen wir in Bescheidenheit einsehen, wie wenig wir bisher von diesen Rätseln ergründet haben. Und wir lernen, daß wir eigentlich alles aus unserer Seele entfernen müssen, was wir bisher gelernt haben, daß wir ganz unbefangen, wie ein Kind, allem entgegentreten müssen – daß sich nur der Unbefangenheit der Seele darbieten die göttlichen Rätsel, die uns umgeben. Kindlich muß die Seele werden, um in die Reiche der Himmel eindringen zu können. Der kindlichen Seele strömt dann entgegen die verborgene Weisheit – Manas – wie ein Geschenk der Gnade aus der geistigen Welt. [6]

Manas nennen wir das Prinzip, das die Zeit überdauert und in das Ewige hineinreicht. Dieses Manas findet seinen physischen Ausdruck in den Tönen der Musik, die von der Außenwelt an uns herandringen. [7] Viele Dinge sind in Bildern nur vorhanden. Es kommt ja nur darauf an, daß man weiß, daß diese Bilder Realitäten entsprechen. Indem wir sprechen drücken wir uns ja immer in Bildern aus. Nehmen Sie das Sanskritwort «Manas». Wer Manas versteht, der hat vor sich im Laut malerisch die Schale, den Mond, die Sonne tragend, weil man, indem man «Manas» aussprach in Ur-Sanskrit, den Menschen seinem Willenswesen nach fühlte wie die Schale, die dann das denkende Wesen trug. Alle Worte gehen auf Bilder zurück. [8]

Der Mensch wirkt vom Ich aus veredelnd, vergeistigend auf seine Seele. Das Ich ist Herr geworden innerhalb des Seelenlebens. Das kann so weit gehen, daß in der Seele keine Begierde, keine Lust Platz greift, ohne daß das Ich die Gewalt ist, welche den Einlaß ermöglicht. Auf diese Art wird dann die ganze Seele eine Offenbarung des Ich, wie es vorher nur die Bewußtseinsseele war. Im Grunde besteht alles Kulturleben und alles geistige Streben der Menschen aus einer Arbeit, welche diese Herrschaft des Ich zum Ziele hat. Jeder gegenwärtig lebende Mensch ist in dieser Arbeit begriffen: er mag wollen oder nicht, er mag von dieser Tatsache ein Bewußtsein haben oder nicht. Der Mensch entwickelt durch diese Arbeit neue Glieder seiner Wesenheit. [9] Der Astralleib des Menschen besteht aus zwei Teilen, aus dem Teile, den der Mensch schon beherrscht, und dem, den er noch nicht beherrscht. Was ist denn nun in dem drinnen, was er noch nicht beherrscht? Auch ein Geistselbst, aber göttliches Geistselbst. Nur der umgewandelte Teil des Astralleibes ist etwas, was das Ich aus diesem ganzen Zusammenhange sich schon erobert hat. [10]

Die Menschheit hat sich heraufgebildet zu einer gewissen Entwickelung des Ätherleibes schon in der alten indischen Kulturzeit, zu einer gewissen Entwickelung des astralischen Leibes in der alten persischen Zeit, zu einer gewissen Entwickelung der Empfindungsseele in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, zu einer Entwickelung der Verstandesseele in der griechisch-lateinischen Zeit. Und jetzt ist die Menschheit daran, die Bewußtseinsseele aus den Tiefen des menschlichen Daseins heraufzuheben. Aber es kündigt sich, weil immer der Keim des folgenden in den vorangehenden Entwickelungen sein muß, schon dasjenige an, was Inhalt der nächsten Kulturepoche sein muß: die Entwickelung des Geistselbstes, Manas; diese muß aber schon eine solche sein, die vom Menschen selbst ausgeht. [11]

Was wir auch haben können an einem die Seele befriedigenden Gefühl über den Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt, es beruht darauf, daß eine Begegnung während der Schlafenszeit mit dem Genius nachwirkt. Diese Begegnung mit seinem (künftigen) Geistselbst findet jedesmal beim normalen Schlafe in der Mitte zwischen Einschlafen und Aufwachen statt. In irgendeiner Form kommt diese Begegnung mit dem Genius bei jedem Menschen oftmals zum Bewußtsein, nur ist die heutige materialistische Umgebung, das Erfülltsein mit den Begriffen, die aus der materialistischen Weltanschauung kommen, namentlich das von der materialistischen Gesinnung durchzogene Leben, nicht geeignet, die Seele aufmerksam sein zu lassen auf dasjenige, was durch diese Begegnung mit dem Genius hergestellt wird. [12]

Während also der Mensch eine niedere Natur hat in bezug auf seine Leiblichkeit, und das Ich in diese niedere Natur untertaucht mit dem Aufwachen, ist diese niedere Natur nur deshalb niedere Natur, weil der Geist am wenigsten gearbeitet hat, weil der Geist so viel zurückbehalten hat im geistigen Gebiet. Aber in dem, was er zurückbehalten hat, da ist das Ich während des Schlafes drinnen. So also ist das Ich während des Schlafes mit demjenigen heute schon zusammen, was der Mensch erst in späterer Zeit ausbilden wird, was der Mensch erst in der Zukunft zur Entwickelung, zur Entfaltung bringen wird, was heute noch wenig ausgebildet ist in des Menschen Leiblichkeit. [13] Das Manas soll einmal heruntersteigen, es kann aber nur herabsteigen in eine Menschengemeinschaft, welche von Brüderlichkeit durchdrungen ist. [14] So entfaltet sich der Mensch in der Weise, daß er aus Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele etwas wie eine Blüte seines Wesens dem entgegenhält, was ihm als ein Göttliches von oben herunterkommt, damit er durch den Empfang des Geistselbst, Manas einen weiteren Weg in die Höhen der Menschheitsentwickelung durchmachen kann. [15] Wann es aber eintreten wird, daß jene Kraft von oben in ihn hereinleuchten wird, welche den Menschen zum Initiierten, zum Teilnehmer macht an den Reichen der Himmel, das hängt ab, von dem Augenblicke, in dem der Mensch reif werden kann; es hängt ab von dem Karma des Einzelnen. [16]

Unsere fünfte Hauptrasse, die nachatlantische, hat die Aufgabe, das Geistselbst auszubilden. Das geschieht zunächst in der indischen, der ersten Unterrasse, dadurch, daß sich das Geistselbst in den Empfindungsleib einsenkt. In der folgenden Unterrasse, der persischen, durchdringt Manas die Empfindungsseele und tritt damit in ein neues Element, in das Seelenelement ein. Das hat zur Folge, daß gewisse Dämonen, die vorher keine Macht über den Menschen hatten, frei werden und sich dem Menschen feindlich gegenüberstellen. In dieser Rasse entsteht die Dämonologie; vorher war in Sagen und Mythen von Dämonen nicht die Rede. In der dritten Unterrasse senkt sich Manas in die Verstandesseele, also bei den Ägyptern, Babyloniern, Assyrern, Semiten. Eine besondere Veränderung tritt nicht ein, denn Manas bleibt in demselben Element innerhalb des Seelischen. In der vierten Unterrasse, bei den griechisch-lateinischen Völkern, bildet sich das Geistselbst in der Bewußtseinsseele aus, bleibt also auch noch im Seelenelement. Der Christus Jesus kommt auf die Erde herab. Er hat die Kraft, die feindlichen Dämonen zu überwinden. Darum heißt es in der Bibel, er habe den Satan auf tausend Jahre gebunden. Dann folgt unsere fünfte Unterrasse, und nun tritt Manas wiederum in ein neues Element ein. Es beginnt sich auszuleben in seinem eigenen Element: Geistselbst im Geistselbst. Dadurch werden auch neue feindliche Mächte frei, die die Menschheit vorher nicht kannte. Und zwar kommen diese Feinde aus der Menschen eigener Brust. Die Menschen hindern sich gegenseitig, indem sie einander so stark beeinflussen wie nie zuvor in der Menschheitsevolution. Ein Fall, der okkult erforscht wurde, mag ein Beispiel davon geben.

Vier Menschen lebten zusammen. Der erste war nicht ganz normal, etwas schwachsinnig, verrückt. Der zweite galt als ein sehr talentierter Mensch, er war produktiv, er wirkte nach außen. Der dritte war ein sogenannter Durchschnittsmensch; der vierte ein wirklich hochentwickelter Mensch, der aber nicht die Gabe hatte, sich äußern zu können. Wie sieht sich nun die Sache okkult betrachtet an? Der erste hat einen sehr schwachen Willen, ist aber sonst ganz normal veranlagt. Der anscheinende Durchschnittsmensch, Nummer drei, hingegen, ist innerlich zerrüttet und strömt das auf den ersten aus, so daß eigentlich der seelische Zustand des dritten zum Ausdruck kommt beim ersten. Wie verhält es sich nun bei dem zweiten, begabten, produktiven Menschen? Dieser hat eigentlich nur die Begabung, etwas äußern zu können. Der wertvolle Inhalt alles dessen, was er äußerte, war eine Übertragung des Wissens und der Kräfte der Weisheit des vierten, der aber nicht die Gabe hatte, sich äußern zu können. Stammelte er aber einmal einen Satz, so waren eben in diesem so viel mehr wirkliche Kräfte enthalten als in den brillanten Worten, die von Nummer zwei ausströmten und die den Menschen so sehr imponierten.

Die Aufgabe des Menschen in der gegenwärtigen Zeit ist es nun, sich immer mehr frei zu machen von den hemmenden Einflüssen seiner Umgebung und auch selbst keine solchen Einflüsse von sich ausgehen zu lassen. [17]

Das Geistselbst, Manas bildet sich dadurch aus, daß die Toten die Berater sein werden der Lebenden auf der Erde. Es werden Zeiten kommen, in denen die Menschen, die vereinigt sind auf der Erde, um etwas Vernünftiges zu machen, was für die Erdentwickelung Bedeutung hat, nicht nur die Lebenden fragen, sondern auch die Toten. Auf die nähere Form, wie das sogar in der Zukunft politische Gestaltung annehmen wird, wie es vorbereitet werden muß, kann heute noch nicht eingegangen werden; das kann nur Mysterium noch bleiben.

Aber durchdringen kann man sich schon damit, daß dieses lebendige Bewußtsein in der Menschheit auftreten muß, daß wir mit den Toten zusammen sind; daß der Mensch nicht nur egoistisches Streben nach Unsterblichkeit entwickeln soll, sondern jenes lebendige Streben, das im Wirken, in der Tat sich auslebt. [18] Die spirituelle Weltanschauung ist etwas völlig Neues. Es ist ein Auftauchen der neuen Kraft des Geistselbst des Menschen. [19]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 51   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 58f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[3]  GA 99, Seite 28   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[4]  GA 100, Seite 41   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[5]  GA 110, Seite 66   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[6]  GA 266/3, Seite 244f   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[7]  GA 53, Seite 173   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[8]  GA 211, Seite 28   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[9]  GA 13, Seite 71   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[10]  GA 103, Seite 42f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[11]  GA 199, Seite 225   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[12]  GA 175, Seite 57f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[13]  GA 175, Seite 102f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[14]  GA 159, Seite 310   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[15]  GA 123, Seite 212   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[16]  GA 123, Seite 228   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[17]  GA 266/1, Seite 362f   (Ausgabe 1995, 622 Seiten)
[18]  GA 182, Seite 99f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[19]  GA 133, Seite 132   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 133:  Der irdische und der kosmische Mensch (1911/1912)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 266/1:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I (1904-1909)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913, 1914; 1920 – 1923) (1913-1923)