Bewußtseinsseele

Wir unterscheiden drei Glieder unseres Seelenlebens. Bewußtseinsseele, Verstandesseele und Empfindungsseele. Diese drei Glieder dürfen nicht völlig gleichgestellt werden den Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens; denn Denken, Fühlen und Wollen eignet jedem der drei Seelenglieder. [1]

Insofern unsere Seele im physischen Leibe lebt, nennen wir sie in der Geisteswissenschaft die Bewußtseinsseele, weil erst durch das vollständige Einleben in den physischen Leib im Laufe des Menschenwerdens es möglich geworden ist, daß der Mensch zum Ich-Bewußtsein aufgerückt ist. [2] Indem der Mensch das selbständige Wahre und Gute in seinem Innern aufleben läßt, erhebt er sich über die bloße Empfindungsseele. Der ewige Geist scheint in diese herein. Was die Seele als Wahres und Gutes in sich trägt, ist unsterblich in ihr. – Das, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet, sei hier Bewußtseinsseele genannt. Erst diejenige Wahrheit aber ist die bleibende, die sich losgelöst hat von allem Beigeschmack der Sympathien und Antipathien der Empfindungen und so weiter. Derjenige Teil der Seele, in dem diese Wahrheit lebt, soll Bewußtseinsseele genannt werden. [3] In der Bewußtseins-seele enthüllt sich erst die wirkliche Natur des «Ich». Denn während sich die Seele in Empfindung und Verstand an anderes verliert, ergreift sie als Bewußtseinsseele ihre eigene Wesenheit. Daher kann dieses «Ich» durch die Bewußtseinsseele auch nicht anders als durch eine gewisse innere Tätigkeit wahrgenommen werden. [4] In der alten hebräischen Geheimlehre steht n’schamah für die Bewußtseinsseele. [5]

Griechentum und Römertum blühten in der Zeit, als sich in der Menschheit die Verstandes- oder Gemütsseele entfaltet. Ja, Griechen und Römer sind die eigentlichen Träger dieser Entfaltung. Aber die Entwickelung dieser Seelen-Etappe trägt bei diesen Völkern nicht einen Keim in sich, der in rechter Art die Bewußtseinsseele aus sich entwickeln könnte. Trotzdem tritt natürlich das Stadium der Bewußtseinsseele auf. Aber es ist, als ob die Bewußtseinsseele nicht etwas aus der Persönlichkeit des Griechen und Römers Hervorgehendes wäre, sondern etwas von außen seinem Wesen Eingepflanztes. Das Hereindämmern der Bewußtseinsseele wurde als ein Verbundensein mit dem Göttlich-Geistigen empfunden. Man konnte den christlichen Inhalt nicht in die menschliche Bewußtseinsseele aufnehmen, weil man diese selbst nicht in die menschliche Wesenheit hereinnehmen konnte. So empfand man diesen christlichen Inhalt als etwas von außen – von der geistigen Außenwelt – Gegebenes, nicht aber als etwas, mit dem man durch seine Erkenntniskräfte zusammenwuchs. Anders war es bei den in die Geschichte eintretenden, von Nordosten kommenden Völkern. Sie hatten das Stadium der Verstandes- oder Gemütsseele in einem Zustande durchgemacht, der sich für sie als Abhängigkeit von der Geistwelt empfinden ließ. Sie fingen erst an, etwas von der menschlichen Selbständigkeit zu empfinden, als die ersten Kräfte der Bewußtseinsseele in den christlichen Anfängen heraufdämmerten. [6] In dieses sprießende Leben der heraufdämmernden Bewußtseinsseele fiel bei diesen Völkern der christliche Inhalt. Sie fühlten ihn als etwas in der Seele Auflebendes, nicht als etwas von außen Gegebenes. [7]

Die Griechen und Römer, sie bekamen gewissermaßen den Verstand, soweit sie ihn brauchten, fertig mit in ihre natürliche Entwickelungsanlage hinein. Und ebenso war es mit dem Gemüte. Wenn einer einem anderen Menschen gegenübertrat, so wußte er sich einzustellen auf den Menschen. Das Gemüt des einen Menschen wirkte noch viel spiritueller in das Gemüt des anderen Menschen hinüber. [8]

Die modernen Verkehrsverhältnisse bringen die Menschen so zueinander, daß im Grunde genommen Verhältnisse, die sich auf einen Schlag bilden, gar nicht zum Heil sein können. So treten durch diese ganzen modernen Verkehrsverhältnisse die Menschen viel, viel unpersönlicher einander in der Welt entgegen.

Darauf hin ist auch die Menschheit organisiert, die nun nicht fertig mitbekommt Gemüt, das schlagkräftig wirkt, nicht fertig mitbekommt Verstand, der durchdringend wirkt, sondern durch die Bewußtseinsseele ausgebildet, ich möchte sagen, etwas viel Abgesonderteres, Individuelleres, mehr auf den Egoismus hin, auf die menschliche Einsamkeit im eigenen Leibe hin Organisiertes mitbekommt, als Verstandes- oder Gemütsseele es waren. Durch die Bewußtseinsseele ist der Mensch viel mehr ein einzelnes Individuum, ein Einsiedler, der durch die Welt wandelt, als er es war durch die Verstandes- oder Gemütsseele. Und das ist auch das wichtigste Charakteristikum schon geworden für unsere Zeit und wird es immer mehr und mehr werden, daß sich die Menschen in sich abschließen werden. Die Bewußtseinsseele gibt den Charakter des Sich-Abschließens von der übrigen Menschheit, des mehr Isoliert-Lebens. Daher macht es größere Schwierigkeit, mit dem anderen bekannt und namentlich vertraut zu werden; es bedarf erst der Verhältnisse eines umständlichen Kennenlernens, um mit dem anderen vertraut zu werden. [9]

In diesem Kennenlernen, Abschleifen der Individualitäten, darin liegt es, daß aufsteigen noch unbewußt instinktiv die Reminiszenzen, die Nachwirkungen der früheren Inkarnationen. Und nur, wenn so der Mensch mehr aus seinem Inneren heraus auch in ein Verhältnis zu anderen Menschen tritt, kann die Bewußtseinsseele sich ausbilden. Das gegenseitige Verständnis wird immer schwieriger und schwieriger, weil immer mehr und mehr es notwendig wird, daß die Menschen dasjenige, was karmisch in ihnen sitzt, erst wirklich aus dem Inneren aufsteigen lassen. Würde das nicht über die fünfte nachatlantische Menschheit verhängt sein, daß das gegenseitige Kennenlernen schwierig ist, so würde sich nicht die Bewußtseinsseele ausbilden können, so würden die Menschen mehr im Gemeinsamen aus natürlichen Anlagen leben müssen. [10]

Die Bewußtseinsseele hat ihre Kraft vom Jupiter; sie ist angeregt worden durch die Jupiterwesen. [11] In den Zeiten des KopernikusKepler, Galilei, Giordano Bruno begann dasjenige sich zu entwickeln, was wir die Bewußtseinsseele nennen. Und sie begann sich so zu entwickeln, daß sich der Mensch jetzt erst so recht selber zum Rätsel wurde, indem er jetzt erst anfing, sich mit seinem selbständigen Seelischen ausgesondert zu fühlen von der ganzen übrigen Natur, während er aber zugleich seine Seele sich erleben fühlte als etwas Besonderes neben dem Körperlichen. [12] Die Bewußtseinsseele haben wir zunächst im gegenwärtigen Menschheits-zyklus lokalisiert im physischen Leib, das heißt so, daß sie sich der physischen Werkzeuge bedient, des Gehirnes. [13] Wir bilden die Bewußtseinsseele gerade dadurch, daß wir mit unserem Ich eine gewissermaßen innere Verwandtschaft mit dem physischen Leibe eingehen, daß wir uns so recht in den physischen Leib hineinstemmen. Dadurch ist die Zeit gekommen, in der man nicht mehr viel weiß von den spirituellen Dingen und Vorgängen. Es ist die Zeit des Materialismus, weil man sich so sehr hineingestossen hat in den physischen Leib. [14] Die Bewußtseinsseele macht eigentlich den egoistischen Menschen. [15]

Es sind nicht Scheidewände zwischen den einzelnen Seelengliedern, aber es ist notwendig, daß diese Glieder unterschieden werden, weil ein jedes auf eine andere Art zur Außenwelt in Beziehung steht. Wenn der Mensch sich in die Bewußtseinsseele versenkt, kann er in seinem Seelenleben am meisten einsam sein, sich absperren gegen die äußere Welt. Aber es ist auch das Seelenglied, welches seiner Natur nach am meisten Grenzen aufgerichtet hat gegenüber der Umwelt, so daß es am stärksten dazu veranlagt ist, in Irrtum und Fehler zu verfallen. Es ist am meisten aus dem Universum losgelöst. Aber dieses Seelenglied kann doch nur in beschränktem Maße in Irrtum verfallen. Das Wichtigste in dem, was wir Bewußtseinsseele nennen, äußert sich vor allem als logisches Denken, als Begriffszergliederung, auch als rechnerisches Denken, alles das, was der Mensch in gewisser Beziehung als eine ihm eigene Fähigkeit hat, und was sich nicht bei den Tieren findet. [16] Die Fähigkeit des logischen Denkens, daß wir Meinungen, Gedanken und so weiter haben, das ruht in der Bewußtseinsseele. [17]

Das Ausleben dieser Bewußtseinsseele wird durch die Volksseelen der Gegenwart besonders begünstigt. Denn im allgemeinen hat unser Zeitalter die Aufgabe, die Bewußtseinsseele auszubilden. Das heißt, die Volksseelen stellen sich die Aufgabe, die Leiber so zu durchdringen, daß die Seele, indem sie in dem Leib lebt, durch diesen die Möglichkeit hat, sich an den Leib zu binden, daß sie den Leib möglichst als ein der Seele dienendes Werkzeug benutzt. Daher ist unsere Zeit diejenige, welche die äußere Wissenschaft, die äußere Beobachtung ausbilden konnte. Man durchschaut als Geistesforscher als ein Berechtigtes der neueren Zeit der Entwickelung der Bewußtseinsseele, das Heraufkommen des Materialismus, das Hinausschauen durch den Leib in die Welt der Sinnesdinge und der Sinnestatsachen. [18] Wenn sich der Mensch zur Erkenntnis der Außenwelt erhebt, dann tritt die Bewußtseinsseele die Oberherrschaft in seinem Seelenleben an. [19]

Zitate:

[1]  GA 266/3, Seite 253   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[2]  GA 158, Seite 30   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[3]  GA 9, Seite 46   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[4]  GA 13, Seite 69   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[5]  GA 122, Seite 181   (Ausgabe 1961, 200 Seiten)
[6]  GA 26, Seite 249f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[7]  GA 26, Seite 251   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[8]  GA 168, Seite 92f   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[9]  GA 168, Seite 94f   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[10]  GA 168, Seite 96f   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[11]  GA 98, Seite 198   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[12]  GA 63, Seite 298   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[13]  GA 145, Seite 180   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[14]  GA 157a, Seite 57   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[15]  GA 158, Seite 32   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[16]  GA 127, Seite 43f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[17]  GA 60, Seite 238   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[18]  GA 64, Seite 126f   (Ausgabe 1959, 495 Seiten)
[19]  GA 59, Seite 178   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 59:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil (1910)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 63:  Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914)
GA 64:  Aus schicksaltragender Zeit (1914/1915)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 122:  Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte. Das Sechstagewerk im 1. Buch Moses (1910)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 157a:  Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode (1915)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)
GA 168:  Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten (1916)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)