Volksseele

Die Volksseele ist ein wirkliches Wesen, nur hat sie keinen physischen Leib, sondern ihr niederstes Glied ist der Ätherleib. Dann hat dieser Volksgeist einen Astralleib, Ich, Manas, Buddhi, Atma, und dann noch ein höheres Glied, zu dem es der Mensch nicht bringt, das die christliche Esoterik den Heiligen Geist nennt. Die Volksseele ist reale Wirklichkeit: wie eine Nebelmasse breitet sie sich aus, und alle Ätherleiber der einzelnen Menschen des jeweiligen Volkes sind in sie eingebettet, und ihre Kräfte strömen ein in die Ätherleiber der einzelnen Menschen. [1] Dieser Nationalgeist lebt sich aus in den Empfindungen, Gefühlen, Neigungen und so weiter, die man als die einem Volke gemeinsamen beobachtet. Er ist eine Wesenheit, die sich nicht sinnlich verkörpert; sondern wie der Mensch seinen Leib sinnlich anschaulich gestaltet, so gestaltet sie den ihrigen aus dem Stoffe der Seelenwelt. Dieser Seelenleib des Volksgeistes ist wie eine Wolke, in welcher die Glieder eines Volkes leben, deren Wirkungen in den Seelen der betreffenden Menschen zum Vorschein kommen, die aber nicht aus diesen Seelen selbst stammt. Wer sich den Volksgeist nicht in dieser Art vorstellt, für den bleibt er ein schemenhaftes Gedankenbild ohne Wesen und Leben, eine leere Abstraktion. Und ein Ähnliches wäre zu sagen in bezug auf das, was man Zeitgeistnennt. [2]

Der Mensch ist vom Einschlafen bis zum Aufwachen nicht zusammen mit den Kräften, die unmittelbar aus seiner Volksseele herauskommen, denn die können nur hineingeschickt werden in den physischen und Ätherleib allein. Es stellt sich die eigentümliche Tatsache heraus, daß man im Schlafe und während der Initiation wesentlich mit allen anderen Volksseelen zusammen ist, nur nicht mit seiner eigenen. Während des Schlafes oder während der Initiation ist man mit dem Zusammenwirken der andern Volksseelen zusammen. Eine Volksseele, die man besonders haßt während des Wachzustandes, reißt einen heraus aus dem Reigen der andern Volksseelen, und sie bannt einen an ihre besonderen Eigentümlichkeiten. [3]

Bei dem Volkswesen muß man wirklich die einzelnen Volksseelen studieren, dann bekommt man Begriffe, die richtig sind. Man kann ja auch nicht generalisieren, sonst kommt man wiederum zu Abstraktionen, daher kann man nur gewissermaßen in Exempeln sprechen. Greifen wir heraus eine Volksseele, diejenige, die heute, sagen wir, das italienische Volk beherrscht, insofern ein Volk in seinen Einzelwesen von einer Volksseele beherrscht ist. – Beim Menschen sagen wir, der Mensch hat seinen physischen Leib, und wenn wir beim Menschen vom physischen Leib sprechen, so sagen wir von ihm: so und so viele Salze, so und so viel anderes Mineralisches, 5% Festes und dann das Flüssige, dann das Luftförmige, das in ihm ist und so weiter; das ist sein physischer Leib. Wenn wir von einer Volksseele wie der italienischen sprechen, so hat sie ja nicht einen menschlichen Leib, aber sie hat auch etwas, was wenigstens in Analogie mit dem physischen Leib betrachtet werden kann. Sie hat nur nicht zum physischen Leib Salze, nicht feste Bestandteile, nicht flüssige Bestandteile, die italienische Volksseele – womit ich nicht sagen will, daß nicht andere Volksseelen flüssige Bestandteile haben, aber die italienische hat keine –, sondern sie beginnt mit den luftförmigen Bestandteilen; alles andere ist feiner in ihr. So daß, wenn wir vom Menschen sagen, daß er Erdiges in sich hat, so müssen wir von der italienischen Volksseele sagen: sie hat zunächst Luftförmiges. Haben wir beim Menschen Wässeriges, so hat die italienische Volksseele Wärme. Der Mensch hat dann Luftförmiges, das er ein- und ausatmet, die italienische Volksseele dafür Licht, das bei ihr der Luft des Menschen entspricht. Der Mensch hat Wärme in sich; die italienische Volksseele dafür Töne, den Sphärenton nämlich. Die Korrespondenz zwischen dem einzelnen Menschen und der Volksseele geschieht bei dem italienischen Volke durch das Atmen. Da teilt sich die Volksseele dem Menschen mit. Das ist ein wirklicher, ein realer Vorgang. Natürlich atmet man durch etwas ganz anderes, aber in den Atmungsprozeß hinein stiehlt sich die Volksseele mit ihrem Einfluß. Ebensogut könnte man von dem ausgehen, was dem Ätherleibe entspricht. Das würde beim Lebensäther beginnen, würde dann statt des Lichtäthers das haben, was zunächst angeführt ist (siehe: Astralplan) als Begierdenglut; dann würde dem Tonäther dasjenige, was dort als fließender Reiz angeführt ist, entsprechen und so weiter. Und würden Sie nun weiter studieren, wie nun diese Korrespondenz, diese Kommunikation zwischen der Volksseele und dem einzelnen Menschen ist, würden Sie das weiter studieren auf Grundlage dessen, was ich hier anführe, so würden Sie sehen, wie alle die Eigenschaften, die im Volkscharakter liegen, mit diesen Dingen zusammenhängen. [4]

Man kann diese Dinge nur beispielsmäßig anführen. Sagen wir, wir wollten die russische Volksseele studieren. Da würden wir als unterstes Glied gar nichts Materielles finden in dem Sinne, wie Festes, Flüssiges, Luftförmiges und Wärmehaftes materiell sind, sondern da würden wir als unterstes Glied finden, was also der russischen Volksseele so eigen ist wie dem Menschen das Salzige, als das Feste würden wir den Lichtäther finden. Und dann würden wir den Tonäther der russischen Volksseele so eigen finden wie dem Menschen das, was er als Flüssigkeit in sich hat, den Lebensäther wie der Mensch in sich die Luft hat, und die Begierdenglut so eigen dem, was dem physischen Leib entspricht bei der russischen Volksseele, wie der Mensch die Wärme in sich hat. Und man könnte dann fragen: Wie stellt sich denn dann die russische Volksseele mit dem einzelnen russischen Menschen in Kommunikation? – Das geschieht auf die Weise, daß das Licht, das sich niederläßt, rückstrahlt in gewisser Weise aus dem, was die Erde ist. Und in dem, was da zurückstrahlt, in dem ist das Medium gegeben, wodurch sich die russische Volksseele mit dem einzelnen Russen in Kommunikation setzt. Daher ist beim Russen die Beziehung zu seinem Boden, zu alledem was die Erde hervorbringt, viel größer als bei anderen Völkern. Das hängt mit diesem eigentümlichen Verhalten der Volksseele zusammen. Und der fließende Reiz, der ist die erste Ätheringredienz für die russische Volksseele, der ist so etwas wie das Licht für den Menschen. Und in demjenigen, was durch die Befruchtung mit dem Sonnenlichte der russische Boden ausstrahlt, sind enthalten die geheimnisvollen Runen, die raunenden Runen, durch welche die russische Volksseele mit dem einzelnen Russen spricht, während er über seine Erde geht oder das Leben empfindet, das dem Lichte entstrahlt. Denn glauben Sie nicht, daß die Dinge wiederum materiell genommen werden wollen. Sie können natürlich als Russe in der Schweiz leben; auch in der Schweiz ist das Licht vorhanden, das von der Erde zurückgestrahlt wird. Wenn Sie Italiener sind, so werden Sie in der Schweiz mit dem Atmen Ihre Volksseele raunen hören, wenn Sie Russe sind, werden Sie auch aus dem schweizerischen Boden dasjenige aufsteigen fühlen, was Sie als Russe hören können. Das ist nicht an die Orte gebunden, obwohl selbstverständlich der eigene Ort mehr gibt. [5]

Die Kräfte hier bei einem jugendlichen auf dem Schlachtfeld Gefallenen, die noch jahrzehntelang das physische Leben hätten versorgen können, diese Kräfte gehen ja nicht in nichts über; sie sind da. Diese Kräfte gehen über in das Wesen der Volksseele des betreffenden Volkes und in der ganzen Volksseele wirken diese Kräfte des Ätherleibes. [6] Diese Volksseele nimmt diese noch lebensfähigen Ätherleiber auf. Der Mensch selbst mit seinem Ich und Astralleib geht andere Wege – diejenigen Wege, welche ihn dann vorbereiten zu seinem nächsten Erdenleben. Eine Zeit rückt heran, wo von der Volksseele eine wirksame Kraft ausstrahlt in die einzelnen Seelen hinein, von der zugleich ausgeht dasjenige, was in den ersten, zweiten, dritten Jugendjahrzehnten zahlreiche Menschen hier auf der Erde aufgenommen haben, was sie durch viele Jahrzehnte noch hätten behalten können, was sie aber der Volksseele übergeben haben. Das wird in der Zukunft in den Kräften darin sein, welche die Volksseele in die einzelnen Seelen hineinträufelt, das ist unverloren. Die Aura des Materialismus zu bekämpfen, wird die Aufgabe der Volksseele in der nächsten Zeit sein. Kräfte werden dieser Volksseele zur Bekämpfung des Materialismus dadurch zufließen, daß die Ätherleiber der Frühverstorbenen in dieser Volksseele als Kräfte weiterleben. [7]

Heute sieht man in einem Volke nur eine Gruppe von Menschen, die man zählen kann. Ein Volk ist dem heutigen Menschen ein wesenloses Abstraktum. Das ist das Volk nicht für denjenigen, der auf dem Standpunkte des Okkultismus steht. Wie der Finger als einzelnes Glied zum ganzen Leibe gehört, so gehören die einzelnen Menschen des Volkes zu einer Volksseele. Sie sind sozusagen in sie eingebettet, nur ist die Volksseele nicht physisch, sie ist nur als Äthergestalt real. Wenn wir die einzelnen Individuen als kleine Kreise denken, die einzelnen Iche, so sind diese nur für die äußere physische Betrachtung Einzelwesen. Wer geistig sie betrachtet, der sieht diese einzelnen Individualitäten eingebettet wie in einen ätherischen Nebel, und das ist die Verkörperung der Volksseele. Nun denkt, tut, fühlt und will der einzelne Mensch etwas. Er strahlt seine Gefühle und Gedanken in die gemeinsame Volksseele hinein. Diese wird gefärbt von dieser Ausstrahlung. Dadurch wird die Volksseele durchsetzt von den Gedanken und Gefühlen der einzelnen Menschen. Und wenn wir absehen vom physischen Menschen und nur seinen Ätherleib und Astralleib betrachten, und dann den Astralleib eines ganzen Volkes betrachten, dann sehen wir, daß der Astralleib eines ganzen Volkes seine Farbenschattierungen von den einzelnen Menschen erhält. [8]

Zitate:

[1]  GA 100, Seite 71   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 155   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[3]  GA 156, Seite 126ff   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[4]  GA 174, Seite 263ff   (Ausgabe 1966, 320 Seiten)
[5]  GA 174, Seite 265f   (Ausgabe 1966, 320 Seiten)
[6]  GA 157, Seite 162   (Ausgabe 1981, 320 Seiten)
[7]  GA 159, Seite 32f   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[8]  GA 106, Seite 166f   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 157:  Menschenschicksale und Völkerschicksale (1914/1915)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 174:  Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Zweiter Teil (1917)