Griechentum

Die griechische Kultur hätte aber nicht einen unmittelbaren Anfang nehmen können, sie mußte gewisse Voraussetzungen anderswoher bekommen. Und sie hat in der Tat wichtige Voraussetzungen aus der orientalischen Kultur entlehnt. Verschiedene Sagen von Heroen, die von Griechenland hinüberzogen nach dem Orient, stellen nichts weiter dar, als daß Schüler gewisser griechischer Schulen hinübergezogen waren nach dem Orient und den Griechen jene Güter gebracht haben, die nur innerhalb der orientalischen Kultur gewonnen werden konnten, die dann aber weitergepflegt und umgewandelt werden konnten durch das, was aus dem griechischen Volkscharakter, durch das griechische Volkstalent sich herangebildet hat; (ein Beispiel für diesen Vorgang findet man, noch exakt historisch faßbar, siehe in: Astronomie spirituelle, den Exkurs über Eudoxos von Knidos). Aber dazu mußte aus diesen herübergebrachten Gütern ausgemerzt werden, was ihre Schattenseite war: der Drang, durch rein äußere Machtmittel sich so nach dem Westen hinüber auszudehnen wie sie waren. Das Römertum, das später entstand als das Griechentum, und alles, was die weiteren Voraussetzungen waren für die Weiterentwickelung der europäischen Menschheit, das hätte sich nicht herausbilden können, wenn nicht die Griechen sich den freien Boden geschaffen hätten für die Fortentwickelung der orientalischen Kultur, wenn sie nicht die Perser und das, was dazugehört, zurückgeschlagen hätten. So konnte filtriert werden, was in Asien geschaffen worden war, indem man die Asiaten zurückschlug. [1]

Der Mensch in der dritten nachatlantischen Zivilisationsperiode fühlte sich vorzugsweise als Atmungsgeschöpf. Das, was in der menschlichen Seele lebte, das war ein Ergebnis des Atmungsprozesses, und dieser war ein Ergebnis des Erdenortes, auf dem man geboren war, auf dem man lebte. Das hörte bei den Griechen auf. In der Griechenzeit ist nicht mehr der Atmungsprozeß und der Zusammenhang mit dem Irdischen das Maßgebende, sondern der Zusammenhang des Blutes, das Stammesgefühl, die Stammesempfindung ist dasjenige, was das Bewußtsein der Gruppenseelenhaftigkeit gibt. Gruppenseelen fühlte man in der dritten nachatlantischen Zeit im Zusammenhang mit dem Erdenorte. Man stellte sich ja geradezu auch vor in dieser dritten nachatlantischen Zeit: Wenn da oder dort ein Heiligtum ist, ist der Gott darin, der die Gruppenseele darstellt –, der war an den Ort gebunden. Das hörte auf während der Griechenzeit. Da begann mit dem Erdenbewußtsein, mit der ganzen Verfassung, die an die Erde mit allem menschlichen Fühlen und Empfinden im ganzen menschlichen Instinktleben gebunden war, dieses Gefühl für die Zusammengehörigkeit im Blute. So daß der Mensch dann ganz auf die Erde herunter versetzt war. Er sah nicht mehr mit seinem Bewußtsein über die Erde hinaus, sondern fühlte sich mit seinem Stamm, mit seinem Volk zusammengehörig im Blute. [2] Da, wo das Griechentum der äußeren Betrachtung so erscheint, als ob bei ihm alles nur aus dem rein Menschlichen hervorspringt, da hat das Griechentum schon eine Zeit hinter sich, in der es sozusagen unter dem Einfluß der Lehre höherer spiritueller Wesenheiten war. Diese haben ihm erst möglich gemacht, sich zu einer rein menschlichen Höhe zu erheben. Und deshalb verliert sich auch das, was wir heute die griechische Kultur nennen, wenn wir sie zurückverfolgen, in Abgründe von vorhistorischen Zeiten, in denen als die Grundlage der griechischen Kultur in den Tempelstätten der Mysterien das betrieben wurde, was dann in grandioser Weise wie ein Erbgut der alten Tempelweisheit in dichterische Form gebracht worden ist von Homer, von Äschylos. [3]

Es ist das Charakteristikon derjenigen Kulturen, die zunächst im Aufstiege begriffen sind bis zu ihrem Höhepunkte, daß in ihnen alles, was im Menschen lebendig tätig ist – da wird Schönheit, da wird Tugend, da wird das Nützliche, das Zweckmäßige, alles das, was der Mensch im Leben tun und realisieren will –, alles das wird gesehen als ein aus dem Weisheitsvollen, aus dem Spirituellen unmittelbar Hervorgehendes. Und die Weisheit ist dasjenige, was die Tugend, die Schönheit, was alles Übrige enthält. Wenn der Mensch von den Tempelweistümern durchsetzt, inspiriert ist, dann ergibt sich alles andere von selbst; so ist das Gefühl für solche aufsteigende Zeiten. In dem Augenblick aber, wo die Fragen, wo die Empfindungen auseinanderfallen, wo zum Beispiel die Frage nach dem Guten oder nach dem Schönen selbständig wird gegenüber der Frage nach dem göttlichen Urgrunde, da beginnen die Zeiten des Verfalls. Daher können wir sicher sein, daß wir immer in einer Verfallszeit leben, wenn betont wird, daß neben dem ursprünglich Spirituellen noch besonders gepflegt werden soll dieses oder jenes, daß dieses oder jenes die Hauptsache sein soll.

Und so sehen wir eine Strömung in der Verfallszeit aufblühen, die wir den Stoizismus nennen, den Epikureismus und den Skeptizismus. Und wenn diese ihr Wesen eine Zeitlang getrieben haben, dann fühlt sich der Mensch, der doch nach dem Wahren strebt, sozusagen wie aus der Weltenseele herausgeworfen und auf die eigene Seele zurückgewiesen. Dann schaut er sich um und sagt sich: Jetzt ist keine Weltepoche da, wo durch den fortwirkenden Strom der geistigen Mächte selber die Impulse in die Menschheit einströmen. Dann ist der Mensch auf sein eigenes inneres Leben, auf sein Subjekt zurückgewiesen. Das tritt uns im weiteren Verlaufe des griechischen Lebens im Neuplatonismus entgegen, in jener Philosophie, die keinen Zusammenhang mehr hat mit dem äußeren Leben, die in sich hineinblickt und im mystischen Aufstiege des Einzelnen zum Wahren hinaufstreben will. [4]

So haben wir eine stufenweise absteigende Kultur. Und das, was sich herausgebildet hat im Aufstiege, das verrinnt und verrieselt dann langsam und allmählich, bis gegen das Heranrücken des Jahres 1250 eine allerdings nicht leicht bemerkbare, aber deshalb nicht minder große Inspiration für die Menschheit beginnt und deren Abrieseln wir jetzt wieder seit dem 16. Jahrhundert haben. Denn seit jener Zeit treten im Grunde genommen wiederum alle die Spezialfragen auf neben den Wahrheitsfragen. [5]

Und das sehen wir im Bewußtsein aller alten Zeiten leben: Die führenden Persönlichkeiten, bis zu den Heroengestalten herunter, ja bis zu Plato, wurden als Söhne der Götter angesehen; das heißt hinter diesen Persönlichkeiten, die in der Geschichte auftreten, sahen die Menschen, wenn sie hinaufschauten in die Vorzeit, wenn sie den Blick immer weiter und weiter erhoben, sie sahen das Göttliche; und was da auftritt als Plato und in den Heroengestalten, das sahen sie an als heruntergestiegen, ja selbst als geboren aus göttlichen Wesenheiten. Das war so recht die Anschauung, wie sich die Söhne der Götter mit den Töchtern der Menschen verbinden, um herunterzubringen das Spirituelle auf den physischen Plan. Dagegen in dem Moment, wo die Griechen fühlten: Jetzt können wir von dem Weben des Ich-im-Ich reden, von dem, was innerhalb der menschlichen Persönlichkeit liegt, da reden sie von ihren höchsten Führern als von den sieben Weisen, und bezeichnen damit dasjenige, was sozusagen aus den Göttersöhnen zum rein Menschlichen geworden ist. [6]

Zitate:

[1]  GA 120, Seite 208   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[2]  GA 222, Seite 117   (Ausgabe 1976, 130 Seiten)
[3]  GA 126, Seite 108f   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[4]  GA 126, Seite 111ff   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[5]  GA 126, Seite 113f   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[6]  GA 126, Seite 115   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)

Quellen:

GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 222:  Die Impulsierung des weltgeschichtlichen Geschehens durch geistige Mächte (1923)