Akademie von Gondishapur

(Gondishapur ist eine Stadt beim heutigen Dezful in Persien, die noch nicht ausgegraben ist, in der gefangene römische Soldaten des Kaiser Valerians angesiedelt worden sind, in der Nachbarschaft der früheren Hauptstadt Susa gelegen). Geradesoviel Jahre, als das Mysterium von Golgatha der Mitte der griechisch-lateinischen Kulturperiode, dem Jahre 333, vorangegangen ist, 333 Jahre, geradesoviel Jahre nach diesem Zeitpunkt war beabsichtigt von gewissen geistigen Mächten, die Erdentwickelung in ganz andere Bahnen zu leiten, als sie dann, weil das Mysterium von Golgatha da war, geleitet worden sind. 333 Jahre nach dem Jahre 333 gibt das Jahr 666; das ist jene Jahreszahl, von der der Schreiber der Apokalypse mit einem großen Temperamente spricht. Da sollte nach den Intentionen gewisser geistiger Mächte mit der Menschheit etwas geschehen, und es wäre geschehen, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Man hätte den absteigenden Weg, der von 333 ab der Menschheit beschieden gewesen wäre als Gipfelpunkt der Kultur der Verstandes- oder Gemütsseele, diesen absteigenden Weg hätte man dazu benützt, um die Menschheit in ein ganz anderes Fahrwasser zu bringen, als sie kommen sollte nach der Intention derjenigen göttlichen Wesenheiten, die mit ihr vom Anfange, von der Saturnzeit an, verknüpft sind. Das sollte dadurch geschehen, daß etwas, was erst später kommen sollte in die Menschheit, die Bewußtseinsseele mit ihren Inhalten, durch eine Art Offenbarung der Menschheit schon 666 gegeben würde. Wäre das ausgeführt worden, wären wirklich die Intentionen erfüllt worden gewisser der Menschheitsentwickelung entgegengesetzter, aber diese Menschheitsentwickelung an sich reißen wollender Wesen, dann wäre die Menschheit 666 so überrascht worden, begabt worden mit der Bewußtseinsseele, wie sie es erst längere Zeit nach unserer Zeit sein wird. Es hätte dasjenige, was erst im Jahre 2493 geschehen soll – da soll erst der Mensch so weit sein mit Bezug auf das bewußte Erfassen seiner eigenen Persönlichkeit – sollte schon 666 durch ahrimanisch-luziferische Kräfte dem Menschen eingeimpft werden. [1] Die Akademie von Gondishapur, die wollte dem Menschen ersparen das Streben nach Wahrheit, wollte dem Menschen ersparen die Mühe der Weiterentwickelung, wollte ihm also offenbaren dasjenige, was sie selbst auf ahrimanischem Wege geoffenbart bekommen hat. Die Akademie von Gondishapur, die ihren letzten Schatten, ihr Gespenst in der naturwissenschaftlichen Illusion der Gegenwart hat, diese Akademie von Gondishapur wollte den Menschen zum reinen Erdenmenschen machen. [2]

Der christliche Kaiser Justinian vollzog den letzten Akt, in dem er [die Athener Philosophenschule auflöste und] die sieben hauptsächlichsten Athener Philosophen vertrieben hat, die wirklich eine Art von internationaler Gesellschaft waren. Da war ein Damaskios, da war ein Simplikios, da waren Philosophen aus allen Gegenden, und es war in diesen Sieben wirklich eine Art internationale Gesellschaft vorhanden, und die hat mitgenommen die letzten Reste der aristotelischen Erkenntnis, die ja selbst gegenüber der Gnosis schon in einer Art von Dekadenz war. Diese aristotelische Erkenntnis ist eingepflanzt worden der geistigen Welle, die sich dann über Arabien herüber verpflanzt hat nach Spanien, und wir sehen, wie im 11., 12., 13. Jahrhundert sich eine geistige Welle von dort [nach dem Westen] herüberwälzt. Da kommt herüber dasjenige, was ja dann einen starken Einfluß genommen hat auf solche Geister wie Roger Bacon, und – was noch deutlich wahnehmbar ist – in der Philosophie des Spinoza, die auf Goethe einen so großen Einfluß genommen hat. [3]

Und so war denn auch der Kaiser Justinian ein Handlanger gewisser Wesenheiten, als er, der ja ein Feind war alles dessen, was aus der hohen Weisheit des Griechentums überkommen war, 529 die Philosophenschule in Athen schloß, so daß die letzten Reste der griechischen Gelehrsamkeit mit dem hohen aristotelisch-platonischen Wissen verbannt wurden und nach Persien hinüber flüchteten. Nach Nisibis waren schon früher, als Zeno Isauricus im 5. Jahrhundert ebensolche griechische Weise von Edessa vertrieben hatte, die syrischen Weisen geflohen.

Und so versammelte sich gegen das Jahr 666 in der persischen Akademie von Gondishapur wirklich dasjenige, was auserlesene Gelehrsamkeit war, die herübergekommen war aus dem alten Griechentum und die keine Rücksicht genommen hatte auf das Mysterium von Golgatha. Und innerhalb der Akademie von Gondishapur lehrten diejenigen, die inspiriert waren von luziferisch-ahrimanischen Kräften. Und statt daß eine Weisheit herausgekommen ist, gegen welche alles das, was wir heute in der äußeren Welt wissen, eine ganze Kleinigkeit wäre, statt daß eine Weisheit durch Eingebung in spiritueller Weise über alles dasjenige herausgekommen ist, was man nach und nach durch das Experimentieren und durch die Naturwissenschaft bis zum Jahre 2493 sich erobern wird und das durch eine glänzende, großartige Gelehrsamkeit herausgekommen wäre, sind dann nur die Reste davon geblieben in dem, was arabische Gelehrte nach Spanien gebracht haben. Aber es war auch schon abgestumpft. Das ist nicht in jener Weise herausgekommen, wie es gewollt war, es ist abgestumpft worden.

Und an dessen Stelle ist der Mohammedanismus, ist Mohammed mit seiner Lehre geblieben, und es ist nur der Islam anstelle desjenigen gekommen, was von der Akademie von Gondishapur hätte ausgehen sollen. Die Welt war durch das Mysterium von Golgatha abgebracht worden von dieser ihr verderblichen Richtung. [4] Inspiration von seiten der Toten fand statt, wie wir dies bei Tertullian und vielen anderen bemerken. Dadurch wurde der Sinn der Menschen auf das Mysterium von Golgatha und damit auf etwas ganz anderes hingelenkt, als dasjenige ist, was von der Akademie von Gondishapur hätte ausgehen sollen. Aber solche Ereignisse wie dasjenige, was von dieser Akademie intendiert war, die gehen gewissermaßen hinter den Kulissen der äußeren Weltentwickelung vor sich. Sie gehen im Übersinnlichen vor sich. Geschehen ist schon etwas mit der Menschheit. Das ist geschehen, daß dazumal die Menschheit, auf welche der Impuls von Gondishapur gewirkt hat, dieser neupersische Impuls, der zur Unzeit den Zarathustra-Impuls wieder brachte, daß die gesamte Menschheit, wenn ich so sagen darf, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, einen innerlichen Knacks bis in die Leiblichkeit hinein bekommen hat.

Jene Krankheit ist der Menschheit eingeimpft worden, die, wenn sie sich auslebt, zur Leugnung des Vatergottes führt. Anlage zu diesem Atheismus hat eigentlich jeder Mensch, der der modernen Zivilisation angehört; es handelt sich nur darum, ob er sich dieser Anlage hingibt. Der Mensch trägt in sich jene Krankheit, die ihn aufreizt dazu, das Göttliche abzuleugnen, während es eigentlich in der Tat aus seiner Natur folgen würde, es anzuerkennen. Diese Natur ist dazumal gewissermaßen etwas mineralisiert worden, zurückgeschraubt worden in der Entwickelung, so daß wir alle die Gottesleugner-Krankheit in uns tragen, dadurch wird ein stärkeres Anziehungsband geschaffen zwischen der Seele des Menschen und seinem Leibe, als früher da war. Es wird gleichsam die Seele mehr an den Leib geschmiedet. Nichts Geringeres haben nämlich schon dazumal – was in einer mehr dilettantischen Form wiederum gewisse Geheimgesellschaften auch in unserer Zeit wollen die Weisen von Gondishapur gewollt, als den Menschen für diese Erde sehr groß zu machen, sehr weise zu machen, aber mit Einimpfung dieser Weisheit seine Seele teilnehmen zu lassen am Tode, so daß er nicht die Neigung haben würde, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, an dem geistigen Leben und an den folgenden Inkarnationen teilzunehmen. Sie wollten ihn für sich für eine ganz andere Welt gewinnen, vom Erdenleben her konservieren, um ihn von dem abzubringen, wozu der Mensch auf der Erde da ist, was er erst lernen soll in langsamer, allmählicher Entwickelung und wodurch er zu dem Geistselbst, Manas, dem Lebensgeist, Buddhi und dem Geistesmenschen, Atma kommen wird. [5]

Die Akademie von Gondishapur war vor allen Dingen damit beschäftigt, die alte orientalische, schon in Dekadenz gekommene geistige Kultur mit dem Aristotelismus zu durchdringen, sie in einer ganz neuen Form zu gestalten. Der Aristotelismus ist da erst wiederum in seiner eigenen Gestalt erstanden. Die Christen hatten ihn ja nicht fortgepflanzt. [6] Aristoteles – er wäre ja sonst wahrscheinlich ganz verlorengegangen er war zunächst in Edessa von den Gelehrten, die später durch Isaurikus vertrieben wurden, ins Syrische übersetzt worden. In Gondishapur wurde der syrische Aristoteles ins Persische übersetzt. Und da kam durch die Übersetzung des Aristoteles eine Grundlage zustande, in der die aristotelischen Begriffe in dem Lichte der arabischen Seele, wie sie damals war, erschienen, dieser merkwürdigen Seele der Araber, wie sie damals war, wo schärfstes Denken verbunden war mit einer gewissen Phantastik, welche aber in logischen Bahnen verlief und bis zum Schauen sich erhob. [7]

Und die Absicht bestand, die ganze damals bekannte zivilisierte Welt mit dieser Gelehrsamkeit zu überschwemmen. Aber es wurde abgestumpft dasjenige, was von Gondishapur ausgehen sollte, gewissermaßen zurückgehalten von retardierenden geistigen Kräften, die doch zusammenhingen, wenn sie auch wiederum eine Art Gegensatz bilden, mit dem, was durch den Christus-Impuls beeinflußt war, durch das Auftreten Mohammeds. Dasjenige, was von Gondishapur kam segelte demjenigen nach, was Mohammed getan hatte. Der Mohammedanismus war dazu bestimmt, die gnostische Weisheit von Gondishapur abzustumpfen, ihr die eigentliche, stark ahrimanisch versucherische Kraft, die sie auf die Menschheit sonst ausgeübt hätte, zu nehmen. [8]

Die katholische Kirche, die sehr stark unter dem Einfluss der Reste des Impulses von Gondishapur stand, die hat 869 auf dem allgemeinen ökumenischen Konzil in Konstantinopel dogmatisch bestimmt, daß man nicht an den Geist zu glauben habe, weil sie nicht etwa jeden aufklären wollte über das Mysterium von Golgatha, sondern Finsternis darüber breiten wollte. (Siehe: Konzil von Konstantinopel) [9] Nun ganz verschwunden aber ist nicht diese Weisheit von Gondishapur. Das ist nicht erreicht worden, was der große Lehrer, dessen Name unbekannt geblieben ist, der aber der größte Gegner des ChristusJesus war, was der den Schülern beigebracht hat, aber etwas anderes ist doch erreicht worden. Die gegenwärtige naturwissenschaftliche Denkweise hat sozusagen mit dem Christentum als solchem in Wirklichkeit nichts zu tun. Man kann Schritt für Schritt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfolgen, wie, zwar abgestumpft, die gnostische Gondishapur-Weisheit über Südeuropa und Afrika nach Spanien, nach Frankreich, nach England sich hineinverbreitet hat und dann über den Kontinent, gerade auch auf dem Umwege durch die Klöster; kann verfolgen, wie das Übersinnliche herausgetrieben und nur das Sinnliche zurückbehalten wird; und es entsteht das abendländische naturwissenschaftliche Denken. Besonders interessant ist es, den Roger Bacon (Gegner der Scholastik) nach dieser Richtung zu studieren. [10]

Wer begreift denn eigentlich, wenn er jene törichten Notizen ohne Zusammenhang, die man heute über Averroes in den Lehrbüchern findet, liest, warum Averroes, der spanisch-arabische Gelehrte, sagte: Wenn der Mensch stirbt, so fließt nur die Substanz seiner Seele in die allgemeine Geistigkeit aus; der Mensch hat keine persönliche Individualität, sondern alles, was Seele ist in dem einzelnen Menschen, ist nur Spiegelung der einen All-Seele? – Warum sagte er dies? Weil das ein Zweig ist der Weisheit von Gondishapur, die den Leuten klargemacht hat, nicht daß jeder einzelne die Bewußtseinsseele entwickeln soll, sondern daß ihnen die Bewußtseinsseelen-Weisheit als eine Offenbarung von oben herunter zukommen sollte. Dann wäre sie eine ahrimanische Offenbarung gewesen; aber es wäre tatsächlich mit der Menschheit so geworden, daß der Inhalt der Bewußtseinsseele ein monistischer geworden wäre, und die einzelnen Bewußtseine im Grunde genommen nur Schein geworden wären. [11] Das was heute noch da ist von dem Impuls von Gondishapur, diese Methode führt zu sehr genauen Kenntnissen über Luzifer und Ahriman; aber nicht zu der Führung der Menschheit durch den Christus Jesus. [12] Das ist etwas, was gefühlt worden ist bei den Scholastikern des Mittelalters, welche die arabischen Gelehrten unter die Füße haben treten wollen und sich immer in dieser Situation geschaut haben. [13]

Exkurs:

Diese Akademie wurde gegründet im Jahre 666 von der neupersischen Dynastie der Sassaniden. Sie bestand aus einer Universität, einer Bibliothek und einer Universitätsklinik. Der Name Gondishapur kommt von der persischen Bezeichnung Gund-dez-i Shapur – die militärische Festung Shapurs – Shapur II. machte daraus seine Hauptstadt. Unter der Herrschaft von Chosrau Anushiravan blühte diese Akademie auf, denn dieser König interessierte sich für die Wissenschaften und zog dadurch einen großen Kreis von Gelehrten an. Er bestimmte auch, daß der berühmte Arzt Borzouyeh nach Indien gesandt wurde, um die besten Weisen und das beste Wissen der damaligen Zeit zu sammeln (es gab beispielsweise damals eine Universität Nalanda in der Gegend von Patna im Staat Bihar mit 10´000 Studenten!). Dieser Arzt wurde bekannt durch seine Übersetzung des Pancha Tantra aus dem Sanskrit in das Neupersische unter dem Namen «Kelileh und Demneh». Jedes medizinische Werk, das damals bekannt war wurde übersetzt und kompiliert. (Quelle: Encyclopaedia Iranica, www.wikipedia.org)

Zitate:

[1]  GA 182, Seite 168f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[2]  GA 184, Seite 298   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[3]  GA 342, Seite 199   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)
[4]  GA 182, Seite 169f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[5]  GA 182, Seite 171ff   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[6]  GA 325, Seite 58   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[7]  GA 184, Seite 281f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[8]  GA 184, Seite 282f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[9]  GA 182, Seite 173f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[10]  GA 184, Seite 283f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[11]  GA 184, Seite 286   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[12]  GA 184, Seite 288   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[13]  GA 184, Seite 288f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)

Quellen:

GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)