Atheismus

Dem alten Griechen mit seinen letzten Resten aus der alten Mysterienkultur wäre es gar nicht möglich gewesen – außer daß es aufgetreten ist bei einigen Entarteten, aber auch nicht in dem Grade, wie in unserer Zeit –, es wäre ihm gar nicht möglich gewesen, atheistisch zu sein. Der Atheismus ist im Grunde genommen erst ein neueres Gebilde, wenigstens in seinen radikalen Ausge-staltungen. Denn der Grieche, der wirklich Dialektik innehatte, der fühlte noch im Denken, sogar im inhaltslosen Denken das Walten des Göttlichen. [1]

Die Gedanken nehme ich aus dem, was ich sinnlich wahrnehme, auf. Sind diese Gedanken das, was ursprünglich eine Gottheit in die Steine, in die Pflanzen, in die Tiere hineingelegt hat, dann denke ich ja die Gedanken der Gottheit nach, das heißt, ich schaffe mir eine Verbindung in meinem Denken mit der Gottheit. Die alte Mysterienanschauung sah in allen Dingen ein schöpferisches Prinzip, das sie erkannten als das Vaterprinzip. Und indem man von dem sinnlich Wahrnehmbaren zu dem Übersinnlichen überging, fühlte man eigentlich: man ging zu dem göttlichen Vaterprinzip über. So daß die scholastischen realistischen Ideen und Begriffe das letzte waren, was die Menschheit in den Dingen der Natur als das Vaterprinzip suchte. Als der scholastische Realismus seinen Sinn verloren hatte, da begann eigentlich erst die Möglichkeit, innerhalb der europäischen Zivilisation von Atheismus zu sprechen.220.166f

Im Grunde genommen ist es nichts anderes als die Reaktion des abendländischen Gemütes auf die orientalische Weisheit, die in die Dekadenz gekommen ist, was sich als atheistischer Skeptizismus im Abendlande allmählich entwickelt und was immer weiter und weiter kommen muß, wenn nicht eine andere Geisteströmung ihm begegnet. [2]

Solche Ereignisse wie dasjenige, was von der Akademie von Gondishapur intendiert war, die gehen gewissermaßen hinter den Kulissen der äußeren Weltentwickelung vor sich. Sie gehen im Übersinnlichen vor sich. Geschehen ist nämlich schon etwas mit der Menschheit, (nämlich) daß dazumal die Menschheit, auf welche der Impuls von Gondishapur gewirkt hat, dieser neupersische Impuls, der zur Unzeit den Zarathustra-lmpuls wieder brachte, daß die gesamte Menschheit, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, einen innerlichen Knacks bis in die Leiblichkeit hinein bekommen hat. Damals hat die Menschheit einen Impuls bekommen, der bis in die physische Leiblichkeit hineingeht, mit der wir weiter jetzt immer geboren werden, jene Krankheit ist der Menschheit eingeimpft worden, die, wenn sie sich auslebt, zur Leugnung des Vatergottes führt.

Anlage zu diesem Atheismus hat eigentlich jeder Mensch, der der modernen Zivilisation angehört; es handelt sich nur darum, oh er sich dieser Anlage hingibt. Der Mensch trägt in sich jene Krankheit, die ihn aufreizt dazu, das Göttliche abzuleugnen. Während es eigentlich in der Tat aus seiner Natur folgen würde, es anzuerkennen. Diese Natur ist dazumal gewissermaßen etwas mineralisiert worden, zurückgeschraubt worden in der Entwickelung, so daß wir alle die Gottesleugner-Krankheit in uns tragen, dadurch wird nämlich ein stärkeres Anziehungsband geschaffen zwischen der Seele des Menschen und seinem Leibe, als früher da war, und als es eigentlich in der menschlichen Natur selber liegt. Es wird gleichsam die Seele mehr an den Leib angeschmiedet. Und während die Seele durch ihre eigene Natur nicht dazu bestimmt ist, teilzunehmen an den Schicksalen des Leibes, wäre sie durch diesen Impuls in eine Bahn gekommen, wodurch sie immer mehr und mehr an den Schicksalen des Leibes teilnehmen würde. Auch an den Schicksalen der Geburt und Vererbung und des Todes. [3]

Der Atheismus wird sich durch die Organisation der Menschen ausbreiten, und wenn das spirituelle Gegengewicht, durch die Entwickelung eines rein seelischen Impulses, die unabhängig vom Leibe vor sich geht, nicht geschaffen wird, wird sich der Atheismus ausbreiten, weil sich der Mensch nicht mehr als Vollmensch gesund erleben kann; es wird ihm etwas entzogen von dem Miterleben des wachsenden, blühenden, gedeihenden Lebens. Atheist kann man eigentlich nur sein, wenn man nicht in voller Gesundheit den Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblich-Physischen im ganzen aufsteigenden Leben empfindet. Atheismus ist eigentlich für die Geisteswissenschaft eine Krankheit – natürlich den Begriff der Krankheit im umfassendsten Sinn gemeint. Ein Schicksalsunglück ist die Leugnung oder Verkennung des Christus. Eine Seelenblindheit ist die Leugnung oder Verkennung des Geistes. [4] Atheist werden, das ist eigentlich nur möglich, wenn man keine Anlage hat, die Vorgänge der äußeren Natur, der Leiblichkeit, klar zu beobachten. Das kann man aber wiederum nur, wenn die leiblichen Kräfte zu stumpf sind. Denn sind die leiblichen Kräfte nicht stumpf, so kann man nicht Atheist werden; man erlebt ja den Gott fortwährend. [5]

Zitate:

[1]  GA 194, Seite 81   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[2]  GA 322, Seite 102   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[3]  GA 182, Seite 171f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[4]  GA 176, Seite 33   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[5]  GA 175, Seite 224   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)

Quellen:

GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 322:  Grenzen der Naturerkenntnis (1920)