Gott

Gott bedeutete nichts anderes, als derjenige, an den man sich wendete, wenn man irgend etwas brauchte. Er war der Oberste. Man faßte ihn als Helfer auf. Und der Gott war nur derjenige, der so der allgemeine Weltenpate war. [1]

Das, wovon man in Wirklichkeit redet, wenn man heute vielfach von seinem Gott spricht, das ist der einzelne Angelos oder gar das eigene Selbst in der Zeit zwischen dem letzten Tode und der jetzigen Geburt. [2] Wenn man für diese Vorstellung all die Begriffe durchgeht, welche sich (religiöse) Menschen von ihrem Gotte machen – was ist denn in solchen Begriffen ausgeführt? Nichts anderes als das Wesen eines Engels, eines Angelos. Und suchen Sie sich alle Beschreibungen – wenn sie noch so erhaben klingen – solcher Menschen auf, so werden Sie finden: sie beschreiben nichts anderes als einen Engel. Das zum Beispiel, was man heute den modernen protestantischen Gott nennt und über den gerade von protestantischer Seite so viel geredet wird, ist ein Angelos, ist nichts anderes. Denn nicht darauf kommt es an, ob man sich einbildet, man finde den Weg zu dem höchsten Gotte, sondern darauf kommt es an, wozu man wirklich den Weg findet. Und man findet auf diese Weise nur den Weg zu seinem Angelos. [3] Es ist ein verborgener Egoismus von den Menschen, unmittelbar zu dem Gotte sich erheben zu wollen, denn sie wollen sich in Wahrheit – obwohl sie das nicht zugeben – nur zu ihrem Gotte, zu ihrem eigenen Engel erheben. Indem der Mensch eigentlich nur zu seinem Angelos aufblickt, das sich aber nicht gesteht, sondern glaubt, er blicke zu dem Gotte auf – während er nicht einmal zu einem Archangelos aufblickt –, betäubt er durch diese unwahre Vorstellung in einem gewissen Sinne seine Seele. Und diese Betäubung der Seele ist ja heute allgemein vorhanden. Durch diese Betäubung der Seele wird das Ich heruntergetrübt, und dann schleichen sich die anderen Mächte, die nicht in der Seele wirken sollen, in diese Seele ein. Das heißt, es schleicht sich an die Stelle des Engels, den man zunächst verehren wollte, den man umtauft zu «Gott», der luziferische Angelos ein. Dann aber ist die schiefe Ebene, die den Menschen hinunterführt, sehr nahe. [4] Und dieser luziferische Engel wird den Menschen alsbald in den Materialismus hineinführen. Dieser maßlose Hochmut, der noch oft als als Demut angesprochen wird, er ist es, welcher letzten Endes den Materialismus hat hervorbringen müssen. [5]

Die Leute merken nicht, warum man nicht von Gott redet: weil kein menschlicher Begriff wirklich umfassen kann dasjenige, in dem wir leben, weben und sind. In den Zeiten, wo die Menschen dem Geistigen noch näher standen, da hatte man noch ein Gefühl der Ehrerbietung für das Göttliche, in dem wir leben und weben und sind, das nicht immer mit Namen benannt werden soll, und deshalb bediente sich das althebräische Altertum, um den Namen nicht auszusprechen, des Ausdrucks: «Das Angesicht Jahves». [6]

Zitate:

[1]  GA 349, Seite 257   (Ausgabe 1961, 264 Seiten)
[2]  GA 181, Seite 353   (Ausgabe 1967, 480 Seiten)
[3]  GA 172, Seite 178f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[4]  GA 172, Seite 180f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[5]  GA 172, Seite 182   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[6]  GA 152, Seite 67f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)

Quellen:

GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 181:  Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft (1918)
GA 349:  Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums (1923)