Natur

Es gibt in der menschenentblößten Natur ebensowenig Götter, wie es in der abgesonderten Austernschale die Auster gibt oder in der abgesonderten Schneckenschale die Schnecke gibt. Die ganze Welt, bei der wir absehen vom Menschen, sie ist dasjenige, was die Götterwesen im Laufe der Entwickelung abgesondert haben, wie die Auster ihre Schale absondert. Aber die Götter, die geistigen Wesen, sind nicht mehr darinnen. Indem wir hinschauen auf die Natur, schauen wir auf die Vergangenheit des Geistigen hin und auf das, was aus dieser Vergangenheit des Geistigen als ein Rückstand geblieben ist. Daher gibt es auch keine Möglichkeit, zu einem wirklich religiösen Bewußtsein bloß durch die Anschauung der Außenwelt zu kommen; denn man soll nur ja nicht glauben, daß in dieser Außenwelt irgend etwas vorhanden ist von dem, was die eigentlich menschheitsschöpferischen geistig-göttlichen Wesen sind. Elementarwesen, gewiß, niedere geistige Wesen, das ist (aber) etwas anderes; aber dasjenige, was eigentlich die schöpferischen geistigen Wesenheiten sind, die in das religiöse Bewußtsein als solches einzugehen haben, das gehört dieser Welt nur insofern an, als diese Welt die Schale davon ist. [1] Alles, was draußen in der Natur sich ausbreitet, es kommt vom Geiste. So ist die Blume eine ätherische Wesenheit, und andrerseits ist durch diese Blume der Geist von außen in die Erde hineingedrungen. [2]

In dem Augenblicke, wo der Mensch das sieht, was er mit dem Teil seines Wesens erlebt, der schläft, in dem Augenblicke steht er vor dem, was man ungefähr bis in das 15. Jahrhundert herein in Wirklichkeit die Natur genannt hat. Die Griechen nannten dasselbe, was man im Mittelalter die Natur nannte, Proserpina, Persephone. Der Teil ist nur im gegenwärtigen Menschheitszyklus so unvollkommen, daß der Mensch sich nicht bewußt wird dessen, was er während des Schlafens erlebt. Da erlebt der Mensch sein Zusammensein mit dem Kosmos, mit dem außerirdischen Kosmos. [3]

Man kann der Natur nicht beikommen mit dem bloß logischen Begreifen, wenn die Natur selber eine Künstlerin ist. Und die Natur ist eine Künstlerin. Man muß anfangen, in Bildern selbst zu denken, um die Natur begreifen zu können. [4] Und tief sehen wir hinein in das Naturdasein, das für uns dadurch das werden kann, was einigermaßen initiierte Menschen schon immer gesagt haben: Was ist denn die Natur, insofern sie nicht geregelt ist von dem regelmäßigen Gang der Sonne, des Mondes und dergleichen, insofern sie also nicht in geregelter, regelmäßiger Ordnung verläuft, insofern es Hagel, Regen, Sturm, Gewitter, Erdbeben, Vulkanausbrüche gibt? – Diese Initiierten haben immer gesagt: Diese Natur mit ihren Erscheinungen ist eine Somnambule! [5]

Daß die Naturgesetze mit Logik umspannt werden, das mag der Mensch halt fordern und er mag solche Erkenntnistheorien begründen, aber wenn die Natur künstlerisch schafft, dann läßt sie sich eben nicht mit solchen Erkenntnistheorien einfangen; dann muß sie eben in Bildern begriffen werden. Nicht wir können der Natur vorschreiben, wodurch sie sich begreifen lassen will. Und sie läßt sich nun schon einmal in ihrem wäßrigen Elemente der Pflanzenwelt nur durch Imagination begreifen, und sie läßt sich in ihrem rhythmischen Leben bis hinaus in den Weltenweitenrhythmen nur begreifen durch die Inspiration, durch das Verfolgen des rhythmischen Lebens, durch das Sich-Hineinleben in das Atmungsleben. Wenn Sie aber, nachdem Sie gewisse Übungen durchgemacht haben, nun selber hineinkriechen können in dieses Luftelement, selber sich bewegen können mit dem Rhythmus, dann geraten Sie in die Welt der Inspiration hinein, dann sind Sie außerhalb Ihres Leibes, so wie die Luft selber, die einzieht, außerhalb Ihres Leibes ist. Dann bewegen Sie sich mit der Luft in den Leib hinein, heraus. Dann gehen Sie über zum Begriff dessen, was der Mensch in Wahrheit ist, nicht dessen, was nach seinem Tode im Grabe liegt und was die heutige Wissenschaft begreifen kann. Aber man muß sich zugleich aufschwingen von abstrakten Begriffen, von bloß logischen Bildern zu Imaginationen, zu Inspirationen und dann zu Intuitionen. [6]

Die Natur ist eigentlich nichts, was unserer Freiheit widerspricht. Denn als Menschen machen wir die uns nächstumgebende Natur. Nur in den Teilerscheinungen widerspricht die Natur unserer Freiheit. Nicht weiter, vergleichsweise gesprochen, wirkt die Natur gegen unsere Freiheit, als wenn Sie eine Hand ausstrecken und ein anderer ergreift sie und hält sie zurück – Sie werden sich dadurch nicht Ihren freien Willen absprechen, daß ein anderer Ihnen eine Bewegung zurückhält. So sind wir als Gegenwartsmenschen auch in bezug auf mancherlei zurückgehalten dadurch, daß Menschen der Vorzeit etwas getan haben, was sich erst heute in den Wirkungen äußert (beispielsweise die Mumien der Ägypter und der heutige Materialismus). Aber Menschen haben es getan. Wir selber waren es in früheren Erdenleben, die den gegenwärtigen Zustand bewirkt haben. Wir müssen uns nicht darauf beschränken, bloß von wiederholten Erdenleben zu sprechen, sondern den Zusammenhang so zu denken, daß wir sogar in der äußeren Natur die Wirkungen desjenigen wahrnehmen, was wir als Ursache gelegt haben in früheren Erdenleben. Jeder trägt seinen Teil bei zu dem, was die ganze Menschheit bewirkt und was dann zum Ausdruck kommt in dem, was Leib ist für die ganze Erdenmenschheit in ihrem fortlaufenden Leben und was äußerlich beschrieben wird. [7]

Wenn wir in der Lage waren, oftmals im Leben freundlich zu sein, liebenswürdig zu sein, dann ist die Natur geneigt, sobald das Liebenswürdigsein Gesichtsausdruck geworden ist, dies während unseres Schlafes, in ihr Wesenhaftes aufzunehmen. So innig ist der Mensch im Zusammenhange mit der äußeren Natur, daß es für die äußere Natur eine ungeheure Bedeutung hat, was er in seinem Innern seelisch als Erinnerungen erlebt, wie er sein inneres Seelisches in Geste, in Physiognomie zum Ausdrucke bringt. Denn das lebt im Innern der Natur weiter. [8]

Zitate:

[1]  GA 198, Seite 285f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[2]  GA 130, Seite 38   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[3]  GA 180, Seite 104f   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[4]  GA 276, Seite 115   (Ausgabe 1961, 160 Seiten)
[5]  GA 170, Seite 37   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[6]  GA 205, Seite 41f   (Ausgabe 1967, 247 Seiten)
[7]  GA 191, Seite 240f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[8]  GA 232, Seite 46   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)

Quellen:

GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 205:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921)
GA 232:  Mysteriengestaltungen (1923)
GA 276:  Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheins – Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung (1923)