Tod

Wann der Leib stirbt, das wird durch dessen Gesetze bestimmt. Im allgemeinen muß ja gesagt werden: nicht die Seele und der Geist verlassen den Leib, sondern er wird von denselben entlassen, wenn seine Kräfte nicht mehr im Sinne der menschlichen Organisation wirken können. [1]

Man muß sich durchaus vorstellen, daß der Mensch, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet, allerdings in eine für ihn ganz andere Welt kommt, als dies oftmals gedacht wird. Es ist ein begreiflicher Hang, sich dieses Reich jenseits des Todes gewissermaßen wie eine Art von Fortsetzung des hiesigen Reiches vorzustellen; allein man irrt damit. Denn schwierig ist es schon, aus dem Schatz unserer Sprache heraus Worte zu finden, die es möglich machen, die Erlebnisse zwischen dem Tode und einer neuen Geburt auch nur einigermaßen hinlänglich zu charakterisieren. Unsere Sprache ist für die physische Welt bereitet, und wir müssen gewissermaßen unser Verhältnis zu den Worten verinnerlichen, wenn wir die Worte fähig machen wollen, dasjenige auszudrücken, was jenseits des Todes ist. [2] Was das Durchgehen durch die Todespforte bedeutet, das ist nur zu erkennen von einem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus, wenn man hineinzuschauen vermag in übersinnliche Welten. Denn das ist kein Ereignis, das sich durch dasjenige begreifen läßt, was in der sinnlichen Welt sich vollzieht. [3] Der Tod ist durchaus nicht dieselbe Sache im Tier- und im Menschenreich. [4]

Für den physischen Plan ist es eine Unmöglichkeit, Erkenntnis des Lebens zu geben. Diese Erkenntnis des Lebens muß der übersinnlichen Erkenntnis aufgespart bleiben. So unmöglich wie die sinnliche Erkenntnis des Lebens, so unmöglich ist die übersinnliche Erkenntnis des Todes. Es gibt Zustände der grauenvollen Vereinsamung des Bewußtseins in der geistigen Welt, es gibt ein zeitweiliges Untertauchen wie in einen Schlaf, aber es gibt keinen Tod in den höheren Welten. Der Tod ist unmöglich in den höheren Welten. Alle die Wesen, die wir als die Wesen der höheren Hierarchien kennengelernt haben, sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Tod nicht kennen, daß sie durch den Tod nicht durchgehen. Unter den gesamten Wesen der höheren Welten gab es nur eines, das durch den Tod gehen mußte, wir können auch sagen wollte, das ist der Christus. Dazu mußte er auf die Erde herabsteigen. [5]

Der Mensch gibt sich einer Illusion hin, einer großen Täuschung, einer Maya über das, was im Raume um ihn für die Sinne ausgebreitet ist, und was er wahrnimmt. Würde er die wahre Gestalt erkennen, so würde er nicht das Sinnenbild haben, sondern dann würde er den Geist haben. Würde er den Tod in seiner wahren Gestalt erkennen, dann würde er im Tode sehen denjenigen Ausdruck, den diese Sinnenwelt haben muß, damit sie der Ausdruck sein kann des göttlichen Vater-Geistes. Damit unsere Erdenwelt überhaupt entstehen konnte, mußte eine frühere, überirdische Welt bis zur physischen Materie, bis zum physischen Stoffe herunter, im irdischen Sinne sich verdichten. Dadurch konnte die äußere Welt der Ausdruck werden einer göttlich-geistigen Welt, einer solchen göttlich-geistigen Welt, die damit etwas hat wie Geschöpfe neben sich und außer sich. Alle früheren Gestaltungen unseres Weltendaseins waren so, daß sie mehr oder weniger in der göttlichen Wesenheit darinnen waren. Der ganze Saturn war noch ein Körper aus Wärme nur bestehend. Und alles, was an Wesenheiten auf dem Saturn war, war noch im Schoße des göttlichen Vater-Geistes. So war es auch auf der alten Sonne, wenn sie auch schon bis zur Luft verdichtet war. Dieser Luft-Planet, die alte Sonne, enthielt in ihrem Schoß, und damit im Schoß der göttlich-geistigen Wesenheit, alle ihre Geschöpfe. Und so war es auch beim alten Mond. Erst auf der Erde drang aus dem Schoß der göttlich-geistigen Wesenheit die Schöpfung hervor, wurde etwas neben der göttlich-geistigen Wesenheit. Dem aber, was nun neben der göttlich-geistigen Wesenheit wurde, und was auch das Kleid, die Umhüllung, die physische Leiblichkeit des Menschen wurde, dem wob sich allmählich ein, gliederte sich allmählich ein alles, was von zurückgebliebenen Geistern vorhanden war. Dadurch aber wurde es als ein Geschöpf nicht so, wie es hätte werden sollen, wenn es ein Abbild der göttlich-geistigen Wesenheit geworden wäre. Die göttlich-geistige Wesenheit, nachdem sie alle Geschöpfe, unser heutiges Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich und Menschenreich in ihrem Schoß getragen, hat gleichsam sie alle entlassen, ausgebreitet wie einen Teppich um sich her. Und das war nun ein Abbild der göttlich-geistigen Wesenheit. So hätte es bleiben sollen. Aber da hat sich hineinverwoben alles, was zurückgeblieben war, was vorher von der göttlich-geistigen Wesenheit ausgestoßen war. Das alles hat sich eingegliedert, und es wurde so das Geschöpf gleichsam getrübt, weniger wert gemacht, als es sonst gewesen wäre. Diese Trübung entstand ja in dem Zeitalter, als der Mond sich abtrennte von der Erde, in jenem Zeitalter, von dem wir gesagt haben: Wenn nichts anderes gekommen wäre, so wäre die Erde schon dazumal verödet. Aber der Mensch sollte doch so fortgepflegt werden, daß er seine Selbständigkeit erringen konnte. Er mußte sich also in einer äußeren, irdisch-physischen Materie verkörpern. Aber in diesem physisch-sinnlichen Stoff war drinnen, was an zurückgebliebenen Wesenheiten vorhanden war. [6]

Der Mensch konnte also gar nicht anders als hineinverkörpert werden in leibliche Hüllen, in denen die zurückgebliebenen Wesenheiten waren. In der ersten Zeit der atlantischen Entwickelung gab es nun noch Wesenheiten, die sozusagen Genossen des Menschen waren, insofern als der Mensch damals hellseherisch war und auch diejenigen Wesenheiten sehen konnte, die eigentlich ihren Wohnsitz auf der Sonne aufgeschlagen hatten, die ihm aber in den Strahlen der Sonne entgegenschienen. Denn nicht bloß ein physisches Sonnenlicht kam dem Menschen entgegen, sondern im physischen Sonnenlichte kamen ihm Wesenheiten entgegen, die der Mensch sah. Und wenn der Mensch selber in einem Zustand war, den man dem Schlafe vergleichen könnte, dann konnte er sagen: Jetzt bin ich aus meinem Leib heraus und bin in der Sphäre, wo Sonnenwesen wandeln. Dann kam aber die Zeit, gegen die Mitte und das letzte Drittel der atlantischen Zeit, wo die Erde in ihrer physischen Materie immer dichter und dichter wurde, und wo der Mensch die Anlage bekam, sein Selbstbewußtsein zu entwickeln. Da gab es solche Wesenheiten für den Menschen nicht mehr zu sehen. Immer mächtiger zog es den Menschen durch den luziferischen Einfluß in die dichte Materie herunter. Da wurde es einer Wesenheit möglich, die als Luzifer-Wesenheit angesprochen werden muß, sich so einzunisten in den menschlichen Astralleib, daß der Mensch immer mehr herunterstieg zu einem dichten physischen Körper. Die Wesenheiten aber, die früher seine Genossen waren, die hoben sich damals immer höher und höher. [7] Eine dieser Wesenheiten wird dargestellt in dem Michael, der die luziferischen Wesenheiten hinunterstieß in den Abgrund, daß sie sich bewegten im Bereich der Erde. Und in der astralischen Wesenheit der Menschen suchten sie da ihre Wirkung auszuüben. Ohne die Verwickelung in die Maya hätte der Mensch nicht gelernt, zu sich «Ich» zu sagen. Aber der Mensch wäre untergegangen in der Illusion, wenn es der Illusion und ihren Mächten – Luzifer-Ahriman – gelungen wäre, den Menschen zu halten innerhalb der Illusion. Diese Wesenheiten – Luzifer-Ahriman – wollten nichts Geringeres, als alle Wesenheiten, die auf der Erde sind, in der Gestalt, wie sie verwoben sind in der dichten physischen Materie, zu erhalten. Würde es ihnen gelingen, diese Wesenheit der geistigen Welt der physischen Gestalt ähnlich zu machen, so würden sie den Himmel sozusagen der Erde entreißen. – Dadurch allein konnte der göttliche Vater-Geist die Erinnerung an den göttlichen Ursprung retten, daß er allem, was in die Materie strebt, die Wohltat des Todes mitgab. Der Mensch würde hineingebannt in die Erde und vergessen seinen geistig-göttlichen Ursprung, wenn nicht der Tod ausgebreitet wäre über die Erde, wenn der Mensch nicht immer neue Kraftquellen zwischen dem Tode und der neuen Geburt zugeführt erhielte, um nicht zu vergessen seinen göttlich-geistigen Ursprung. [8]

Schauen wir uns an (auf der Erde), was wir wollen: Es gibt nichts, dem nicht der Tod einverwoben wäre. So ist der Tod der wohltätige Entreißer aus einem Dasein, das den Menschen ganz herausführen würde aus der göttlich-geistigen Welt. Aber es mußte dieser Mensch in die physisch sinnliche Welt kommen, denn nur dort war es ihm möglich, sein Selbstbewußtsein, seine menschliche Ichheit zu erringen. Würde er durch den Tod immer gehen müssen, ohne etwas mitnehmen zu können aus diesem Reich des Todes, dann würde er zwar in die göttlich-geistige Welt wieder zurückgehen können, aber unbewußt, ohne Ichheit. Er muß mit seiner Ichheit in die göttlich-geistige Welt hineingehen. Er muß daher das irdische Reich, dem ganz der Tod einverwoben ist, befruchten können so, daß der Tod der Same wird für eine Ichheit im Ewigen, im Geistigen. Diese Möglichkeit aber, daß der Tod, der sonst Vernichtung wäre, umgewandelt wird in den Samen für die ewige Ichheit, ist gegeben worden durch den Christus-Impuls. Und nunmehr kann in der Tat alles, was früher als die Lehrzeit des Menschen da war, nachdem sich der Mensch ein Ich für die Ewigkeit erobert hat, nun kann alles Frühere verschwinden, und der Mensch kann in die Zukunft hineingehen mit seiner geretteten Ichheit, die immer mehr und mehr eine Nachbildung der Christus-Ichheit werden wird. [9]

Das Bewußtsein verändert sich in einer gewissen Weise nach dem Tode, es erlangt einen höheren Grad, wird deutlicher, intensiver nach dem Tode, als es in einem physischen Leib ist. [10] Während wir im Verlaufe des Wachzustandes, im Bewußtsein, an der Zerstörung unserer Leiblichkeit arbeiten, sind wir umgekehrt in der Nacht an der Wiederherstellung dessen tätig, was wir im Wachen zerstört haben. Wir sind also an der Wiederherstellung unseres Leibes beteiligt. Dadurch, führen wir eine Tätigkeit aus, die wir nicht bewußt ausführen können, die unser Bewußtsein übertönt. In dem Augenblick, wo wir nur einigermaßen das Bewußtsein bekommen, steigen ja die eigentümlichen Traumbilder auf, die so sehr mit unserem Leibesleben zusammenhängen. Man braucht nur daran zu erinnern, wie zuweilen gerade krankhafte Zustände des Leibes sich in diesen Bildern ausleben. Da zeigt sich, in was das Bewußtsein verstrickt ist. Wenn nun nach dem Tode der physische Leib fort ist, dann ist keine Ermüdung auszubessern, dann entfällt die Arbeit des Menschen an seinem physischen Leibe. Dadurch treten aber auch die Kräfte, welche sonst während des Schlafes an dem physischen Leibe aufgewendet werden, in die Seele selbst zurück, und die Folge ist, daß die Seele nach dem Tode diese Kräfte, wenn sie vom physischen Leibe weg ist, in sich verwenden kann. Nun tritt diese Kraft als das auf, was Bewußtsein der Seele zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist. In dem Maße, als die Seele frei vom physischen und ätherischen Leibe und allem, was dazu gehört, wird, tritt ein anderes Bewußtsein auf. [11]

Wenn der Mensch durch den Tod geschritten ist, so hat er zunächst ein Gefühl, daß er in eine Welt hineinwächst, in der er immer größer und größer wird, und daß er nicht mehr wie in dieser physischen Welt außerhalb aller Wesenheiten sich befindet, nicht allen anderen Dingen gegenübersteht, sondern gewissermaßen innerhalb derselben, als ob er in alle Dinge hineinkrieche. In dem Zeitpunkte unmittelbar nach dem Tode fühlen Sie kein Hier und Da, sondern ein überall; es ist, wie wenn Sie selbst hineinschlüpften in alle Dinge. Dann tritt eine Gesamterinnerung an Ihr ganzes vergangenes Leben ein, welches mit allen Einzelheiten wie ein großes Tableau vor Ihnen steht. Dieses Erinnern läßt sich nicht vergleichen mit einem noch so guten Erinnern des früheren Lebens, wie Sie das Erinnern im Erdenleben kennen, sondern dieses Erinnerungstableau steht mit einem Male in ganzer Größe da. Es liegt daran, daß der ätherische Leib in Wahrheit der Träger des Gedächtnisses ist. Solange noch im Erdendasein der ätherische Leib im physischen Leibe darinnen steckte, mußte er durch das Physische wirken und war an die physischen Gesetze gebunden. Da ist er nicht frei; da vergißt er, denn da tritt beiseite alle Erinnerung, die nicht unmittelbar zum allernächsten gehört, was der Mensch gerade erlebt. Im Tode aber wird der ätherische Leib, der Träger des Gedächtnisses, frei. Er braucht nicht mehr durch das Physische zu wirken, und daher treten die Erinnerungen in ungebundener Weise plötzlich auf. In Ausnahmefällen kann auch während des Lebens diese Trennung von physischem und ätherischem Leibe auftreten. Zum Beispiel in Fällen von Lebensgefahr, beim Ertrinken, beim Abstürzen. Leute, die einem solchen Schock unterworfen gewesen waren, erzählen mitunter, daß während einiger Augenblicke ihr ganzes Leben wie ein Tableau vor ihnen gestanden habe, so daß die entschwundenen Erlebnisse aus frühester Lebenszeit plötzlich mit voller Deutlichkeit aus der Vergessenheit wieder auftauchten. [12] (Weiteres dazu siehe: Lebenstableau).

Wenn man auf den Menschen hinschaut, wie er hier auf dem physischen Plan ist, so sieht man sein Inkarnat, aber dieses Inkarnat (also die Farbe der Haut) würde anders erscheinen, wenn man es anschauen könnte von innen nach außen. Von innen nach außen gesehen, wäre ein durchschnittlicher Mitteleuropäer nicht fleischfarbig-rosig, sondern grün-bläulich. Diese Farbe des Grün-Bläulichen zeigt sich auch in der Nachwirkung nach dem Tode. Wenn des Menschen Ätherleib sich ausdehnt und der Tote auf dieses Gebilde hinschaut, so sieht er sein Inkarnat gewissermaßen in der Nachwirkung von der anderen Seite. Es schimmert nach dem Tode grünlich-bläulich ihm nach. Dieses Inkarnat zeigt, wie auf einen Teppich aufgemalt, unsere gesamte Erinnerungswelt. Und die Grundtingierung hat eine große Bedeutung, denn sie ist gewissermaßen die Farbe des Teppichs, auf welchem dem Toten seine Erinnerung erscheint: für die weiße Menschheit grünlich, grünlichbläulich, für die Japaner violett-rötlich, für die Schwarzen nach dem Tode gerade fleischfarbig. [13] Diese Vereinigung mit dem Ätherleib gibt dem Menschen die Möglichkeit, so recht in allen Vorstellungen zu leben, welche das letzte Leben in ihm angefacht hat, ganz aufzugehen wie in einem mächtigen Tableau in all demjenigen, was ihm das letzte Leben gegeben hat. Aber es ist dieses ein Anschauen, das verhältnismäßig kurze Zeit dauert, das mit der Loslösung des Ätherleibes von Ich und Astralleib abglimmt. Ja man kann sagen, es beginnt gleich nach dem Moment des Todes ein Abglimmen, ein Immer-Schwächerwerden der Eindrücke, die noch von dem Besitz des Ätherleibes herrühren, und es macht sich dann dasjenige geltend, was nach dem physischen Tode (als Dauerzustand) maßgebend ist. Was da maßgebend ist, wird nur in geringerem Maße richtig vorgestellt von den Menschen, die sich Vorstellungen über das Leben nach dem Tode machen wollen. Es ist sogar schwierig, Worte zu prägen für jene ganz andersartigen Verhältnisse, gegenüber den Verhältnissen, die im physischen Leibe durchlebt werden.

Man glaubt leicht, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, ein Bewußtsein sich erst wiederum erwerben müsse. So ist es eigentlich nicht. Was der Mensch durchmacht, wenn er durch die Pforte des Todes durchgeht, ist nicht ein Mangel an Bewußtsein, das Gegenteil tritt ein. Ein Zuviel, eine Überfülle des Bewußtseins ist da, wenn der Tod eingetreten ist. Man lebt und webt ganz im Bewußtsein darin, und so wie das starke Sonnenlicht die Augen betäubt, so ist man zunächst vom Bewußtsein betäubt, man hat zuviel Bewußtsein. Es muß dieses Bewußtsein erst herabgedämmert werden, damit man sich orientieren kann in dem Leben, in das man nach dem Tode eingetreten ist. Das dauert längere Zeit, es geschieht nach und nach in der Weise, daß nach dem Tode immer mehr Momente eintreten, in denen das Bewußtsein eine solche Orientierung möglich macht; daß die Seele für eine mehr oder weniger kurze Zeit zu sich kommt und dann wiederum in eine Art schlafähnlichen Zustand eintritt, wie man es bezeichnen könnte. Dann werden nach und nach solche Momente immer länger, die Seele kommt immer mehr in solche Verhältnisse hinein, bis ein vollständiges Orientieren in der geistigen Welt da ist. Schwierigkeiten macht auch dieses, sich klare Vorstellungen zu machen von der Art, wie der durch die Pforte des Todes Gegangene die Umwelt wahrnimmt. Die Zeit wird da wirklich zum Raum. Man sieht das Vergangene nicht so, wie man im Leben das Vergangene in der Zeit verlaufend sieht, sondern man sieht wie ein Räumliches das, was vergangen ist, vor sich. So daß dasjenige, was schon abgelaufen war, was geschehen war, sagen wir eine Viertelstunde zuvor, dann vor der Seele des Toten stand (in einem konkreten Fall) wie ein erster Aufleuchtemoment des Bewußtseins. Dann kam wiederum ein Zustand des Betäubtseins in dem überflutenden Bewußtseinslicht, um in diesem Zustand entgegenzugehen jenen anderen Zuständen, in denen dann die Seele allmählich lernt, sich zu orientieren in der geistigen Welt. [14]

Diese nächsten Erlebnisse nach dem Tode sind nun in noch einer Beziehung durchaus verschieden von denen während des Lebens. Während der Läuterung lebt der Mensch gewissermaßen nach rückwärts. Er macht alles dasjenige noch einmal durch, was er im Leben seit der Geburt erfahren hat. Von den Vorgängen, die dem Tode unmittelbar vorausgingen, beginnt er und erlebt alles nochmals bis zur Kindheit in rückwärtiger Reihenfolge. Und dabei tritt ihm alles geistig vor Augen, was nicht aus der geistigen Natur des Ich während des Lebens entsprungen ist. Nur erlebt er auch dieses alles jetzt in umgekehrter Art. Ein Mensch, der zum Beispiel im 60. Jahre gestorben ist und der aus einer zornigen Aufwallung heraus in seinem 40. Jahre jemand körperlichen oder seelischen Schmerz zugefügt hat, wird dieses Ereignis noch einmal erleben, wenn er bei seiner rückgängigen Daseinswanderung nach dem Tod an der Stelle seines 40. Jahres angelangt ist. Nur erlebt er da nicht die Befriedigung, die ihm im Leben geworden ist durch den Angriff auf den andern, sondern dafür den Schmerz, der durch ihn diesem andern zugefügt worden ist. Aus dem Obigen kann man aber auch zugleich ersehen, daß nur dasjenige von einem solchen Vorgange nach dem Tode als peinvoll wahrgenommen werden kann, was aus einer Begierde des Ich entsprungen ist, die nur der äußeren physischen Welt entstammt. In Wahrheit schädigt das Ich nämlich nicht nur den andern durch die Befriedigung einer solchen Begierde, sondern sich selbst; nur bleibt ihm diese eigene Schädigung während des Lebens unsichtbar. Nach dem Tode aber wird diese ganze schädigende Begierdenwelt dem Ich sichtbar. Und zu jedem Wesen und jedem Dinge fühlt sich dann das Ich hingezogen, an dem solch eine Begierde entzündet worden ist, damit sie im «verzehrenden Feuer» ebenso wieder ausgetilgt werden kann, wie sie entstanden ist. Erst wenn der Mensch bei seiner Rückwärtswanderung in dem Zeitpunkte seiner Geburt angelangt ist, sind alle derartigen Begierden durch das Läuterungsfeuer hindurchgegangen, und nichts hindert ihn von jetzt ab an der vollen Hingabe an die geistige Welt. Er betritt eine neue Daseinsstufe. (Weiteres dazu siehe: Kamaloka).

Wie er im Tode den physischen Leib, bald danach den Ätherleib abgelegt hat, so zerfällt jetzt derjenige Teil des astralischen Leibes, der nur im Bewußtsein der äußeren physischen Welt leben kann. Für die übersinnliche Erkenntnis gibt es somit drei Leichname, den physischen, den ätherischen und den astralischen. Der Zeitpunkt, in dem der letztere von dem Menschen abgeworfen wird, ist dadurch gekennzeichnet, daß die Zeit der Läuterung etwa das Drittel von derjenigen beträgt, welche zwischen Geburt und Tod verflossen ist. Für die übersinnliche Beobachtung sind in der menschlichen Umwelt fortwährend Astralleichname vorhanden, die abgeworfen sind von Menschen, welche aus dem Läuterungszustande in ein höheres Dasein übergehen. Es ist dies genau so, wie für die physische Wahrnehmung dort physische Leichname entstehen, wo Menschen wohnen. [15]

Nach der Läuterung tritt für das Ich ein völlig neuer Bewußtseinszustand ein. Während ihm vor dem Tode die äußeren Wahrnehmungen zufließen mußten, damit auf sie das Licht des Bewußtseins fallen könne, strömt jetzt gleichsam von innen eine Welt, die zum Bewußtsein gelangt. Auch zwischen Geburt und Tod lebt das Ich in dieser Welt. Nur kleidet sich letztere da in die Offenbarungen der Sinne; und nur da, wo das Ich mit Außerachtlassung aller Sinneswahrnehmung sich selbst in seinem «innersten Allerheiligsten» wahrnimmt, kündigt sich das in unmittelbarer Gestalt an, was sonst nur in dem Schleier des Sinnlichen erscheint. So wie die Wahrnehmung des Ich im Inneren (in dem Leben) vor dem Tode vor sich geht, so von innen heraus offenbart sich die geistige Welt in ihrer Fülle nach dem Tode und nach der Läuterung. Eigentlich ist diese Offenbarung schon sogleich nach dem Ablegen des Ätherleibes da; doch legt sich vor sie hin wie eine verfinsternde Wolke die Welt der Begierden, welche noch der äußeren Welt zugekehrt sind. Es ist da, wie wenn sich in eine selige Welt geistigen Erlebens die schwarzen dämonischen Schatten mischen, welche aus den im «Feuer sich verzehrenden» Begierden entstehen. Ja, nicht bloß Schatten, sondern wirkliche Wesenheiten sind jetzt diese Begierden; das zeigt sich sofort, wenn die physischen Organe vom Ich entfernt sind und dieses dadurch wahrnehmen kann, was geistiger Art ist. Als Zerrbilder und Karikaturen dessen erscheinen diese Wesen, was dem Menschen vorher durch die sinnliche Wahrnehmung bekannt geworden ist. Die übersinnliche Beobachtung hat von dieser Welt des Läuterungsfeuers zu sagen, daß sie bewohnt ist von Wesen, deren Aussehen dem geistigen Auge grauenhaft und schmerzerregend sein kann, deren Lust die Vernichtung zu sein scheint und deren Leidenschaft auf ein Böses sich richtet, gegen welches das Böse der Sinnenwelt unbedeutend wirkt. Was der Mensch an den gekennzeichneten Begierden in diese Welt mitbringt, das erscheint für diese Wesenheiten wie eine Nahrung, durch welche ihre Gewalten stets aufs neue Kräftigung und Stärkung erhalten. [16] (Weiteres siehe: Leben zwischen dem Tod und einer neuer Geburt).

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 109   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 161, Seite 123   (Ausgabe 1980, 292 Seiten)
[3]  GA 198, Seite 58   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[4]  GA 162, Seite 107   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[5]  GA 152, Seite 70   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[6]  GA 112, Seite 259f   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[7]  GA 112, Seite 260ff   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[8]  GA 112, Seite 262f   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[9]  GA 112, Seite 264f   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[10]  GA 158, Seite 54   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[11]  GA 61, Seite 465f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[12]  GA 108, Seite 53f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[13]  GA 181, Seite 209f   (Ausgabe 1967, 480 Seiten)
[14]  GA 159, Seite 34ff   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[15]  GA 13, Seite 104   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[16]  GA 13, Seite 106f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 61:  Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 161:  Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (1915)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 181:  Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft (1918)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)