Griechen

Der Grieche blieb zwar nicht mehr wie der Urmensch bis ins höchste Alter hinauf jung, er fühlte sich aber bis zur Mitte des Lebens sich als einheitlicher Mensch, wie er noch in den dreisiger Jahren einen seelisch-geistigen Zusammenhang mit dem Leiblichen verspürte, wie wir es etwas bis zur Zeit der Geschlechtsreife erleben. Das, was da als Einheit in der griechischen Natur lebte und webte, das bildete die Grundlage für jenes harmonische Kunst- und Geistesschaffen der griechischen Kultur. Dadurch, daß die Wachstumskräfte sein Seelisch-Geistiges noch in Anspruch nahmen bis in die dreißiger Jahre hinein, strömten diese Wachstums-kräfte bis in seine Sinnesanschauung hinein, und dadurch ergibt sich eine andere Auffassung der sinnlichen Wirklichkeit. Der Grieche empfand lebhaft gerade das Helle in seiner natürlichen Umgebung, alles das, was hervorstach, was leuchtete und glänzte. Er sah die Natur um sich in großer Lebendigkeit. Er sah auch in anderen Menschen das, was von Mensch zu Mensch mehr aggressiv ist, was von Mensch zu Mensch mehr das Leuchtende ist. [1] Mit den Wahrnehmungen der Umgebung, mit dem übrigen Lebenszusammenhang mit der Welt flossen auch, so wie die Farbe und die Töne durch die Wahrnehmung in den Menschen hereinkommen, die Begriffe, die Ideen, also das Intellektuelle, in den Menschen herein. Der Inhalt des Intellektuellen war zum Beispiel für die Griechen, war auch für die Römer Wahrnehmung. [2]

Will man das, was uns von den Griechen rein historisch vorliegt, richtig verstehen, so kommt man nicht zurecht, wenn man den Griechen diesen selben Unterschied zuschreibt, wie wir ihn entwickeln im Unterscheiden zwischen Begriff und Wort. Die Griechen unterschieden nicht mit derselben Stärke Begriff, Idee und Wort. Wenn sie sprachen, lebte für sie das, was in der Idee lebt, auf den Flügeln des Wortes. Sie glaubten in das Wort hineinzulegen den Begriff. Wenn sie dachten, dachten sie nicht in einer abstrakten, intellektualistischen Weise wie wir. Es ging durch ihre Seele etwas wie der allerdings unhörbare, aber doch Laut des Wortes. Es klang unhörbar in ihnen. Der Grieche lebte eben in seiner Sprache nicht nur mit seinem Denken, sondern die Sprache war ihm das Denken. [3]

Mit einer solchen Seelenverfassung kann man nicht die Außenwelt galileisch verfolgen, wie wir sie betrachten nach Maß, Zahl und Gewicht. Mancherlei Experimente, die wir heute machen, die wir uns nach Maß, Zahl und Gewicht erklären, die hat man empfunden als Zauberei. Auf das, was wir heute die unorganische Natur nennen, ist der Grieche überhaupt nicht in derselben Weise eingegangen wie wir. Wenn man so im Worte lebt wie der Grieche, dann kann man nicht die Ergebnisse von Experimenten so berechnen, wie wir das heute tun, aber man beobachtet die Verwandlungen in der Natur. Man beobachtet dasjenige, was sich nun nicht in der mineralischen, sondern was sich vorzugsweise in der pflanzlichen Welt vollzieht. Ebenso wie zwischen dem abstrakten Begriff (von uns heute) und dem Auffassen der mineralischen Welt eine Art Affinität besteht, so besteht zwischen der griechischen Stellung zum Worte und dem Auffassen des Wachsens, Lebens, des Sich-Verwandelns im Lebendigen eine Affinität. Geradeso wie wir aus unseren materiellen Begriffen und materiellen Beobachtungen uns ein Weltensystem aufbauen, so bauten sich die Griechen aus der Beobachtung desjenigen, was in der Vegetation sich offenbart, ein Weltensystem auf. Das Lebendige war für sie dasjenige, aus dem ihre Mythen und aus dem ihre Kosmogonien entsprangen. [4] Ebenso wie wir in abstrakten Begriffen leben, so lebte der Grieche in dem äußerlich tonlosen Klanglaut, dem rein innerlich erlebten Laut. [5]

Die heutigen Menschen würden fortwährend Kopfschmerz oder Migräne haben, wenn sie dasjenige sehen und hören würden in der Außenwelt, was die Griechen gesehen und gehört haben. Ein viel intensiveres Außenleben der Sinneswelt hatten die Griechen. Wir sind bereits in bezug auf die Auffassung der Außenwelt abgestorben. Uns muß, damit wir es vertragen können, eine bloße Fata Morgana der Außenwelt vorgeführt werden. [6] Farben sah der Grieche auch, Töne hörte der Grieche auch; aber er sah durch die Farben noch geistige Wesenheiten. Er dachte nicht bloß geistige Wesenheiten, es kündeten sich ihm durch das, was die Farbe war, noch geistige Wesenheiten an. Der Grieche dachte nicht in dem Maße wie der neuzeitliche Mensch Gedanken, denn er sah Gedanken. Sie kamen ihm entgegen aus dem, was er in der Umwelt wahrnahm. Die Umwelt selber war nicht bloß blau und rot, sondern das Blaue und das Rote sagten ihm die Gedanken, die er dann dachte. [7]

Wir müssen allerdings bis in die platonische Zeit zurückgehen – denn durch Aristoteles ist diese Anschauungsweise verdorben worden –, wir müssen bis auf Plato, auf die vorplatonische Zeit zurückgehen, und finden dann, wie der wirklich wissende Grieche in Imaginationen (beispielsweise) dasjenige angeschaut hat, was da im wässerigen Element lebte und die Vegetation eigentlich trug, und was er durchaus auf den Kosmos bezog. [8]

In der griechisch-lateinischen Zeit, war gewissermaßen eine Art Wieder-holung desjenigen da, was in der atlantischen Zeit war. So daß man bis zum Griechentum hin noch nicht am Menschen in so entschiedener Weise bemerken konnte, daß er in absteigender Entwickelung ist. Das Griechentum hat noch die Eigentümlichkeit, daß das Seelische in einer völligen Harmonie mit dem Leiblichen steht. Die Harmonie war natürlich am größten in der Mitte der atlantischen Zeit. Aber im Griechentum wiederholte sich diese Harmonie. [9]

Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den japanischen Zeichnungen im Fluge befindlicher Vögel und der (fotografischen) Momentaufnahme des Vogels. Und sogar bei Zeichnungen von Menschen ist es ähnlich, denn der Japaner zeichnet viel eher das, was die Momentaufnahme gibt. Das rührt eben davon her, daß das japanische Anschauen des vierten nachatlantischen Zeitraumes sich bewahrt hat in die Gegenwart hinein. Der Japaner sieht heute, nur nicht mit demselben Schönheitssinn wie der Grieche, vielfach im griechischen Sinne richtiger, als der zur fünften nachatlantischen Kulturepoche fortgeschrittene Europäer. [10] (Siehe: Griechische Kunst).

Zitate:

[1]  GA 335, Seite 115f   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)
[2]  GA 186, Seite 239   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[3]  GA 206, Seite 174   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[4]  GA 206, Seite 175f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[5]  GA 206, Seite 184   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[6]  GA 191, Seite 217   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[7]  GA 177, Seite 75f   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[8]  GA 205, Seite 66   (Ausgabe 1967, 247 Seiten)
[9]  GA 177, Seite 77   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[10]  GA 169, Seite 96   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)

Quellen:

GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 177:  Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (1917)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 205:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 335:  Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken (1920)