Manes

Wissen wollte der Jüngling zu Sais unvorbereitet von den Geheimnissen der geistigen Welt; er wollte werden wie die anderen Eingeweihten ein «Sohn der Witwe», der Isis, die da trauerte um ihren verlorenen Gemahl Osiris. Da er aber unvorbereitet war, da er (also) hier auf dem physischen Plan selber das Bild der Isis enthüllen und in die himmlischen Geheimnisse schauen wollte, so verfiel er dem Tode, (denn) kein Sterblicher konnte zu der Zeit den Schleier der Isis lüften. In dem Jüngling zu Sais symbolisiert sich die ohnmächtige Weisheit der ägyptischen Zeit. Er wird wiedergeboren, er wächst heran als der Jüngling zu Nain, er ist wiederum ein «Sohn der Witwe», wiederum stirbt er im Jünglingsalter. Im Lukas-Evangelium wird uns in ergreifenden Worten geschildert die Auferweckung des Jünglings zu Nain. Und der Christus Jesus naht sich, als der Tote aus dem Stadttor getragen wird. Und «viel Volk aus der Stadt» war mit seiner Mutter; es ist die Schar der ägyptischen Eingeweihten. Sie alle sind Tote, die einen Toten begraben. «Und da sie der Herr sah, jammerte ihn derselbigen». Es jammerte ihn der Mutter, die dasteht gleichsam als Isis, welche war die Schwester und Gemahlin des Osiris. Und er sprach: «Jüngling, ich sage dir, stehe auf!» «Und der Tote richtet sich auf und fing an zu reden, und er gab ihn seiner Mutter.» – Sie ist ja auf die Erde herabgestiegen, die frühere Isis; ihre Kräfte können jetzt auf der Erde selbst erlebt werden. Der Sohn wird der Mutter wieder geschenkt, es ist nun an ihm, sich völlig mit ihr zu verbinden. «Und die Umstehenden priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden.» Denn in dem Jüngling zu Nain hatte der Christus Jesus durch die Art der Initiation, welche diese Auferstehung darstellt, einen Keim gesenkt, der erst in seiner nächsten Inkarnation zur Blüte kommen konnte. Ein großer Prophet, ein gewaltiger Religionslehrer ist aus dem Jüngling zu Nain geworden!

Im dritten nachchristlichen Jahrhundert trat zunächst in Babylonien auf Mani oder Manes, der Begründer des Manichäismus. Eine eigentümliche Legende erzählt über ihn das folgende: Skythianos und Therebinthus oder Buddha waren seine Vorgänger. Der letztere war der Schüler des Erstgenannten. Nach dem gewaltsamen Tode des Skythianos flieht er mit dessen Büchern nach Babylonien. Auch ihm ergeht es schlecht; nur eine alte Witwe nimmt seine Lehre an. Sie erbt seine Bücher und hinterläßt diese ihrem Pflegesohn, der im Alter von 12 Jahren steht und den sie als 7 jährigen Sklavenknaben an Kindesstatt angenommen hat. Dieser, der auch wiederum ein «Sohn der Witwe» genannt werden kann, tritt mit 24 Jahren auf als Manes, der Begründer des Manichäismus. In seiner Lehre war alles zusammengefaßt, was die alten Religionen an Weisheit enthalten hatten, und er beleuchtete es mit einer christlichen Gnosis, die möglich machte, daß die Bekenner der babylonisch-ägyptischen Sternenweisheit, die Anhänger der alten Perser-Religion, ja sogar die Buddhisten aus Indien, sich durchdringen konnten mit einem Verständnis des Christus-Impulses in dieser Form. Vorbereitend gewirkt hat diese Seele, die vorher in dem Jüngling zu Nain lebte und die eingeweiht wurde von dem Christus in diese Weise für spätere Zeiten, wo das, was im Manichäismus enthalten war und was durchaus nicht zur vollen Entwickelung gekommen ist, aufgehen wird zum Heile der Völker des alten Orients, – vorbereitend hat diese Seele in ihrer Inkarnation als Manes gewirkt für ihre eigentliche spätere Mission: den wahren Zusammenklang aller Religionen zu bringen. [1]

Manes ist jene hohe Individualität, die immer und immer wieder auf der Erde verkörpert ist, die der leitende Geist ist derer, die zur Bekehrung des Bösen da sind. Es wird, wenn auch in der Gegenwart dieses Prinzip des Manes sehr in den Hintergrund hat treten müssen, weil wenig Verständnis für den Spiritualismus da ist, es wird dieses wunderbar herrliche Manichäer-Prinzip mehr und mehr Schüler gewinnen, je mehr wir dem Verständnis des spirituellen Lebens entgegengehen. [2] Manes bereitet diejenige Stufe der menschlichen Seelenentwickelung vor, die das eigene seelische Geisteslicht sucht. Alles, was von ihm herrührt, war ein Berufen auf das eigene Geisteslicht der Seele und das war zugleich ein entschiedenes Aufbäumen gegen alles, was nicht aus der Seele, aus der eigenen Beobachtung der Seele kommen wollte. Schöne Worte rühren von Manes her und sind das Leitmotiv seiner Anhänger zu allen Zeiten gewesen. Wir hören: Ihr müßt abstreifen alles dasjenige, was äußere Offenbarung ist, die ihr auf sinnlichem Wege erhaltet! Ihr müßt abstreifen alles, was äußere Autorität euch überliefert; dann müßt ihr reif werden, die eigene Seele anzuschauen! [3] Immer mehr schwand (im Altertum) die Möglichkeit, Christus neben dem irdischen Dasein in seiner Himmelsglorie zu sehen. Wir sehen, daß sie schon abgeschwächt erscheint, trotz der hehren Größe der Lehre, in dem Begründer des Manichäismus. Der Christus Jesus ist für den Manes ein Wesen, das nicht irdische Leiblichkeit angenommen hat, sondern das in einem Scheinleibe, gleichsam in einem ätherischen Leibe auf der Erde gelebt hat. Es findet ein Ringen mit dem Begreifen der Christus-Erscheinung statt. Man findet das Ringen, hinaufzuschauen, gleichsam zu sehen, wie das Wesen des Christus herunterstieg, man hatte aber noch nicht die Möglichkeit einzusehen, wie das herabsteigende Wesen wirklich im menschlichen Leibe Wohnung nimmt. Ein Ringen der Seele war erst notwendig, bevor dieses volle Verständnis möglich war. [4]

Manes versammelte nun wenige Jahrhunderte, nachdem der Christus auf der Erde gelebt hatte, in einer der größten Versammlungen, die in der zur Erde gehörigen spirituellen Welt überhaupt stattgefunden haben, drei wichtige Persönlichkeiten des vierten Jahrhunderts der nachchristlichen Zeit um sich. In dieser bildhaften Schilderung soll eine wichtige spirituelle Kulturtatsache ausgedrückt werden. Manes versammelte diese Persönlichkeiten aus dem Grunde, um mit ihnen zu beraten, wie allmählich jene Weisheit, die gelebt hat durch die Zeitenwende in der nachatlantischen Zeit, wiederum aufleben kann in die Zukunft hinein immer weiter und weiter, immer glorreicher und glorreicher. So haben wir ein Kollegium um Manes herum, Skythianos, Buddha und Zarathustra. Damals wurde in diesem Kollegium festgestellt der Plan, wie alle Weisheit der Bodhisattvas der nachatlantischen Zeit immer stärker und stärker hineinfließen kann in die Zukunft der Menschheit. Und was damals als der Plan zukünftiger Erdenkulturentwickelung beschlossen worden ist, das wurde bewahrt und dann herübergetragen in jene europäische Mysterien, welche die Mysterien des Rosenkreuzes sind. Da verkehrten immer die Individualitäten des Skythianos, des Buddha, des Zarathustra. Sie waren in den Schulen des Rosenkreuzes die Lehrer. [5] Manes initiierte 1459 auch Christian Rosenkreutz. [6] Was will nun Manes und was bedeutet sein Ausspruch, der Paraklet, der Geist zu sein, der Sohn der Witwe? Nichts anderes bedeutet das, als daß er vorbereiten will diejenige Zeit, in welcher in der 6. Wurzelrasse die Menschheit durch sich selbst, durch das eigene Seelenlicht geführt werden wird und überwinden wird die äußeren Formen, sie umwandeln wird zu Geist. Eine über das Rosenkreuzertum hinübergreifende Strömung des Geistes will Manes schaffen, die weitergeht als die Strömung der Rosenkreuzer. Diese Strömung des Manes strebt hinüber bis zur 6. Wurzelrasse, die seit der Begründung des Christentums vorbereitet wird. Gerade in der 6. Wurzelrasse wird das Christentum erst in seiner vollen Gestalt zum Ausdruck kommen. Dann erst wird es wirklich da sein. Wer christliches Leben sucht, wird es immer finden. Es schafft Formen und zerbricht Formen in den verschiedenen Religionssystemen. Nicht darauf kommt es an, die Gleichheit überall zu suchen in den äußeren Ausdrucksformen, sondern den inneren Lebensstrom zu empfinden, der überall unter der Oberfläche da ist. Was aber noch geschaffen werden muß, das ist eine Form für das Leben der 6. Wurzelrasse. Die muß früher geschaffen werden, denn sie muß da sein, damit sich das christliche Leben hineingießen kann. Diese Form muß vorbereitet werden durch Menschen, die eine solche Organisation, eine solche Form schaffen werden, damit das wahre christliche Leben der 6. Wurzelrasse darin Platz greifen kann. Und diese äußere Gesellschaftsform muß entspringen aus der Manes-Intention, aus dem Häuflein, das der Manes vorbereitet. Das muß die äußere Organisationsform sein, die Gemeinde, in der zuerst der christliche Funke wird so recht Platz greifen können. Daraus werden Sie entnehmen können, daß dieser Manichäismus zunächst bestrebt sein wird, vor allen Dingen das äußere Leben rein zu gestalten; denn es soll Menschen herbeiführen, die ein geeignetes Gefäß in der Zukunft abgeben werden. Daher wurde auf unbedingte reine Gesinnung und auf Reinheit ein so großes Gewicht gelegt. Die Katharer waren eine Sekte, die wie meteorartig auftrat im 12. Jahrhundert. Es waren Menschen, die hinsichtlich ihrer Lebensweise und ihres moralischen Verhaltens rein sein sollten. Sie mußten die Katharsis innerlich und äußerlich suchen, um eine reine Gemeinde zu bilden, die ein reines Gefäß sein soll. [7]

Damit die Seele des Manes ihre eigentliche spätere Mission – den wahren Zusammenklang aller Religionen zu bringen – tun konnte, mußte sie wiedergeboren werden als diejenige Seele, die zu dem Christus-Impuls in einem ganz besonderen Verhältnis steht. Untertauchen mußte gleichsam noch einmal alles, was in jener Inkarnation als Manes an altem und neuem Wissen aus dieser Seele heraufgekommen war. Als der «reine Tor» mußte er dem äußeren Wissen der Welt und dem Wirken des Christus-Impulses in seinen Seelenuntergründen gegenüberstehen. Er wird wiedergeboren als Parzival, der Sohn der Herzeloyde, der von ihrem Gatten verlassenen tragischen Gestalt. Als Sohn dieser Witwe verläßt nun auch er die Mutter. So bereitet er sich in seinem Leben als Parzival dazu vor, später ein neuer Lehrer des Christentums zu werden, dessen Aufgabe es sein wird, das Christentum immer mehr und mehr zu durchdringen mit den Lehren von Karma und Reinkarnation, wenn die Zeit dazu reif sein wird. [8] Manes beabsichtigt sich im nächsten Jahrhundert zu verkörpern, vorausgesetzt, daß er einen geeigneten Körper findet. [9]

Zitate:

[1]  GA 264, Seite 228ff   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[2]  GA 104, Seite 163   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[3]  GA 93, Seite 73   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[4]  GA 156, Seite 193f   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[5]  GA 113, Seite 192   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[6]  GA 262, Seite 15   (Ausgabe 1967, 355 Seiten)
[7]  GA 93, Seite 75f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[8]  GA 264, Seite 230   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[9]  GA 264, Seite 240   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)

Quellen:

GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 262:  Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901–1925 (1901-1925)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)