Isis

Sehen Sie, so schön ist das in dem Symbole beschrieben, das die Naturkraft in der ägyptischen Legende von der Isis ausdrückt. Dieses Isis-Bild, was für einen ergreifenden Eindruck macht es uns, wenn wir es uns vorstellen, wie es dasteht in Stein, aber – im Stein zugleich – der Schleier von oben bis unten: das verschleierte Bild zu Sais. Und die Inschrift trägt es: Ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet. –Ausgedrückt ist, daß man sich dieser Weisheit nähern muß wie denjenigen Frauen, die den Schleier genommen hatten, deren Jungfräulichkeit bestehen bleiben mußte: in Ehrfurcht, mit einer Gesinnung, die alle egoistischen Triebe ausschließt. Das ist gemeint. Sie ist wie eine verschleierte Nonne, diese Weisheit früherer Zeit. Auf die Gesinnung wird hingedeutet durch die Sprache von diesem Schleier. Und so handelte es sich darum, daß in den Zeiten, in denen uralte Weisheit lebendig war, die Menschen sich dieser Weisheit in der entsprechenden Weise näherten, respektive gar nicht zugelassen wurden, wenn sie sich ihr nicht in der entsprechenden Weise näherten. [1]

Man spricht, wenn man in wahrhaft geisteswissenschaftlichem Sinne spricht, nicht bloß von einer Mutter, sondern von den Müttern, und stellt sich vor, daß das, was als sinnliche Mutter heute vor uns steht, die letzte Ausgestaltung ist für die geistig-seelische Gestalt aus dem geistigen Reiche. In der Tat gibt es Abbildungen der Isis, welche uns nicht eine Mutter, sondern Mütter darstellen, drei Mütter. Vorn haben wir eine Gestalt, die Isis mit dem Horuskinde an der Brust, wie auch die ältesten Madonnengestalten dargestellt sind. Aber hinter dieser Gestalt haben wir in gewissen ägyptischen Darstellungen eine andere Gestalt, eine Isis, die auf dem Haupte die bekannten beiden Kuhhörner hat und Geierflügel trägt, das Henkelkreuz dem Kinde reichend. Da sehen wir, was vorn physisch, menschlich ist, hier schon mehr vergeistigt. Hinter dieser sehen wir noch eine dritte, die den Löwenkopf trägt, darstellend eine dritte Stufe der menschlichen Seele. [2] Isis nährt den Horus, hinter ihr aber steht noch eine zweite Isis mit Geierflügeln, eine Isis, die dem Horus das Henkelkreuz reicht, zur Hindeutung darauf, daß der Mensch aus einer Zeit stammt, als diese Typen noch getrennt waren, so daß später in den Menschen auch die andere astralische Wesenheit eingetaucht ist. Diese zweite Isis deutet darauf hin, wie einstmals das astralische Element vorherrschte. Das, was später mit der Menschenform vereinigt ist, wird uns hier dargestellt hinter der Mutter als die Astralgestalt, die Geierflügel gehabt haben würde, wenn sie nur der Astralität gefolgt wäre. Die Zeit aber, in der der Ätherleib überwog, wird dahinter, in einer dritten löwenköpfigen Isis dargestellt. [3] So erscheinen uns diese drei Isisbilder hintereinander. Unsere menschliche Seele trägt in der Tat drei Naturen in sich: eine willensartige Natur, ihre in den tiefsten Gründen befindlichen Wesenheit, eine gefühlsartige Natur und eine weisheitsartige Natur. Das sind die drei Seelenmütter; sie treten uns in den drei Gestalten der ägyptischen Isis entgegen. [4]

Daß hinter der zunächst sinnlichen Mutter die übersinnliche, die geistige Mutter, die Isis aus der geistigen Vorzeit, sich befindet, und daß da zum Beispiel bei den Gestalten die Geierflügel, die Kuhhörner und die Weltenkugel in ihrer Mitte am Kopfe der Isis angebracht sind, das ist ein tiefsinniges Symbolum. Diejenigen, welche etwas von der sogenannten alten Zahlenlehre verstanden, haben immer gesagt, und das entspricht einer tiefen Wahrheit, die heilige Dreizahl stelle dar das Göttlich-Männliche im Weltenall, und bildlich wurde diese heilige Dreizahl dargestellt durch die Weltenkugel und die beiden Kuhhörner, die, wenn man will, eine Art von Abbild der Madonnensichel sind, aber eigentlich einen Ausdruck für die fruchtbare Wirkung der Naturkraft darstellen (vergleiche auch: Gral, heiliger). Die Weltkugel ist der Ausdruck für das Schaffen in der Welt. So steht hinter der sinnlichen Isis deren Repräsentantin, die übersinnliche Isis, die nicht befruchtet wird von ihresgleichen, sondern von dem Göttlich-Männlichen, das die Welt durchlebt und durchwebt. Es wird der Befruchtungsprozeß noch dargestellt als etwas, was nahesteht dem Erkenntnisprozeß. Das Bewußtsein, daß der Erkenntnisprozeß eine Art Befruchtungsprozeß ist, war in älteren Zeiten noch lebendig. Sie können in der Bibel noch lesen: «Adam erkannte sein Weib, und ... sie gebar.» Das, was wir heute aufnehmen als Geistiges, gebiert das Geistige in der Seele; das ist etwas, was noch einen letzten Rest der alten Befruchtungsart darstellt. Was da zum Ausdruck kommt, zeigt uns, wie wir heute befruchtet werden von dem Weltengeiste, ihn aufnehmen im Sinne des Weltengeistes in die menschliche Seele, um zu gewinnen das menschliche Erkennen, das menschliche Fühlen, das menschliche Wollen. Das wird uns bei der Isis dargestellt. Sie wird befruchtet von dem Männlich-Göttlichen, damit ihr Haupt sich befruchte, und dem Kinde wird nicht sinnlicher Stoff gereicht, wie bei der sinnlichen Isis, sondern das Henkelkreuz, die Swastika, das, was das Zeichen des Lebens ist. Während von der physischen Isis der physische Stoff des Lebens gereicht wird, wird ihm hier der Geist des Lebens in seinem Symbolum gereicht. So tritt hinter der physischen Lebensmutter die geistige Lebensmutter auf und hinter dieser die Urkraft alles Lebens, dargestellt mit der Lebenskraft, wie der Wille hinter allem weilte in noch geistiger, urferner Vergangenheit. Da haben wir die drei Mütter, und da haben wir auch die Art und Weise, wie diese drei Mütter aus dem Weltenall an die Sonne überliefern die belebende Kraft. Da haben wir einen, wenn auch noch nicht künstlerischen, doch symbolischen Ausdruck einer tiefen Weltenwahrheit. Was so als das Isis-Symbol durch die ägyptische Entwickelung gegangen ist, wurde aufgenommen von der neueren Zeit und umgestaltet gemäß dem Fortschritt, den die Menschheit gemacht hat durch die Erscheinung des ChristusJesus auf der Erde, denn in dem Christus Jesus war das große Vorbild für alles das gegeben, was die menschliche Seele aus sich selber gebären soll. Diese menschliche Seele in ihrer Befruchtung aus dem Weltengeist heraus wird in der Madonna versinnlicht. In der Madonna tritt uns daher gleichsam wiedergeboren die Isis entgegen, in entsprechender Weise gesteigert und verklärt. [5]

Nicht umsonst hat Raffael die Sixtinische Madonna mit einem Wolkengebilde umgeben, aus dem sich eine große Anzahl von (dem Jesuskinde) ähnlichen Kindlein, von Engelgestalten herausentwickelt. Wie aus den Wolken heruntergeholt und in die Arme gefaßt, so erscheint uns dieses Kind, nicht wie vom Weibe geboren – (und damit) werden wir auf einen geheimnisvollen Zusammenhang des Kindes mit der jungfräulichen Mutter hingewiesen. – Und wenn wir uns dies Bild vor den Geist hinmalen, dann taucht vor unserem Blick eine andere jungfräuliche Mutter auf: die alte ägyptische Isis mit dem Horuskinde, an deren Tempel die Worte standen: «Ich bin, was da war, was da ist, was da sein wird; meinen Schleier kann kein Sterblicher lüften.» Das, was wir eben in zarter Weise wie ein Wunder auf dem Madonnenbilde angedeutet haben, das deutet uns auch die ägyptische Mythe an, indem sie Horus nicht durch die Empfängnis geboren sein läßt, sondern dadurch, daß von Osiris aus ein Lichtstrahl auf Isis fällt – das Horuskind erscheint. [6]

In der dritten Kulturperiode (bei den Ägyptern beispielsweise) war es so, daß der Mensch sich sagen mußte: In mir sind die Kräfte der Sonne und des Mondes, ich bin ein Sohn der Sonne und ein Sohn des Mondes. Haben wir die Einheit in der Urzeit als die Anschauung der Inder, die Zweiheit nach der Trennung der Sonne sich spiegelnd in der Religion der Perser, so finden wir niedergelegt in der religiösen Anschauung der Ägypter, Chaldäer, Assyrer, Babylonier die Dreiheit, wie sie in der dritten Erdepoche da war, nach der Trennung von Sonne und Mond. Die Dreiheit tritt in allen Religionsanschauungen des dritten Zeitraumes auf, und im Ägyptertum wird sie vertreten durch Osiris, Isis und Horus. [7]

Was man an übersinnlicher Kraft als Osiris empfindet, das kann man sich versinnlicht denken in dem, was als Sonnenlicht von der Sonne ausgeht und den Raum durchwebt und durchlebt als die tätige Lichtkraft. Und in dem, was man als Isis empfindet, kann man das sehen, was uns als reflektiertes, zurückgeworfenes Sonnenlicht vom Monde zukommt, der an sich dunkel ist – wie die Seele, wenn nicht das tätige Denken in sie fällt – und auf das Licht der Sonne wartet, um es zurückzuwerfen. [8]

Wir sind heute umstellt mit der physischen Wirklichkeit, mit Sonne, Mond und Sternen. Was im alten Mondendasein den Menschen von außen umgab, das hat er heute in sich. Die Kräfte des Mondes leben heute im Menschen selbst. Wäre derMensch nicht auf dem (alten) Monde gewesen, so hätte er diese Kräfte nicht. Deshalb nennt die ägyptische Geheimlehre im Esoterischen den Mond die Isis, die Göttin aller Fruchtbarkeit. Die Isis ist die Seele des Mondes, die Vorgängerin der Erde. Da lebten rundherum alle die Kräfte, die jetzt in den Pflanzen und Tieren leben zum Zwecke der Fortpflanzung. Was der Mensch auf dem Monde involviert hatte, kam auf der Erde als Evolution heraus. Was der Mensch nach der lemurischen Zeit als sexuelle Kraft herausgegliedert hat, das ist Isis, die Seele des Mondes, die jetzt im Menschen weiterlebt. Das ist die Verwandtschaft zwischen dem Menschen und dem heutigen Monde. Er hat bei dem Menschen seine Seele gelassen und ist deshalb selbst zur Schlacke geworden. [9] (Siehe auch: Sphinx).

Zitate:

[1]  GA 273, Seite 34f   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[2]  GA 57, Seite 383   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[3]  GA 106, Seite 104f   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[4]  GA 57, Seite 383   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[5]  GA 57, Seite 383ff   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[6]  GA 105, Seite 22f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[7]  GA 106, Seite 35   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[8]  GA 60, Seite 357   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[9]  GA 93a, Seite 108f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)

Quellen:

GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)