Raffael

Der gerade Weg des Verstandes ist nicht geeignet zur okkulten Forschung. Das Verwundern führt dazu, daß man nach und nach erkennt, daß das Verwunderliche sich als begreiflich erweist. So zeigte es sich mir eines Tages, daß bei Raffael, der in erstaunlicher Weise gemalt hat, etwas anderes in seiner Seele nachwirkte, und ich konnte entdecken, daß das, was da nachwirkte, nichts anderes war, als das, was von seinem Vater ausging. Dieser starb, als Raffael erst 10 Jahre alt war. Dieser Vater hätte ja vielleicht noch etwas länger leben können, ich meine das natürlich hypothetisch aufgefaßt. Er hätte die Kräfte noch länger haben können, zu leben, aber diese Kräfte trug er hinüber in die geistige Welt, und unter Umständen können diese Kräfte von da aus mächtig wirken. Der Vater war kein großer Maler, aber er war innerlich ein Maler, er lebte in malerischen Vorstellungen, die er nicht verwirklichen konnte, solange er noch im physischen Leibe war. Aus der geistigen Welt schickte er die Kräfte seinem Sohn, und dieser junge Raffael konnte deshalb ein so großer Maler werden. Er hat die malerische Befähigung durch das gewonnen, was der Vater ihm zuschickte aus der geistigen Welt. Die Kräfte, die in dem Täufer Johannes waren, wurden umgewandelt in den Maler Raffael. [1] Johannes der Täufer stirbt den Märyrertod, bevor das Ereignis von Golgatha herannaht, er macht mit die Zeit der Morgenröte des Mysteriums von Golgatha, die Zeit der Prophezeiungen, der Vorhersage, gleichsam die Zeit des Frohlockens, er macht aber nicht mit die Zeit der Klage, des Leides. Wenn sich diese Gemütsstimmung nun fortpflanzt in die Persönlichkeit des Raffael hinein, finden wir es da nicht begreiflich, daß Raffael mit so großer Hingabe Madonnenbilder, Kinderbilder malt, verstehen wir da nicht, warum er keinen Verrat des Judas, keine Kreuztragung, kein Golgatha, keinen Ölberg malt? Die in dieser Art existierenden Bilder müssen auf Bestellung gemacht sein, in ihnen drückt sich wirklich nicht das Wesen Raffaels aus. Warum liegen gerade diese Bilder nicht in Raffael? Weil er als Johannes der Täufer nicht mehr mitgemacht hat das Mysterium von Golgatha. [2] Wir sehen ihn dann durchwandern die Merkursphäre, wo er mit den großen kosmischen Heilern zusammen all dasjenige für seine Geistigkeit ausgestaltet, was ihn befähigt hat, in der Anlage schon so Gesundes, unendlich Gesundes in Farbe und Linie zu schaffen. Das alles, was er da zum Troste, zur unendlichen Begeisterung für verstehende Menschen auf die Leinwand oder auf die Wand überhaupt gemalt hat, was so lichtglänzend, lichterstrahlend war, das zeigte sich ihm in dem ganzen kosmischen Zusammenhange, in dem er drinnenstehen kann durch den Durchgang durch die Wesenheiten der Merkursphäre. [3] Ein Herold des (überkonfessionellen) Christentums steht in Raffael vor uns. Großes und Ungeheures wird sich in Zukunft daraus noch entwickeln. Ohne daß sie es wissen, haben heute die Menschen in ihren Seelen die Gefühle eines interkonfessionellen Christentums, das da lebt in dieser wunderbaren okkulten Schrift (dieser Bilder). [4]

Wenn wir in Raffaels Seele einen Blick zu tun versuchen, so fällt uns vor allem auf, wie diese Seele im Jahre 1483 wie eine Frühlingsgeburt für die Seele erscheint, dann eine innere Entwickelung durchmacht, glanzvoll in glanzvollen Schöpfungen sich entwickelt und als (allseits geachteter und geliebter) Raffael 37 jährig, also noch jung stirbt. Hermann Grimm hat zuerst auf gewisse Regelmäßigkeiten der inneren Entwickelung der Raffael-Seele hingewiesen, er macht nämlich darauf aufmerksam, daß das Werk «die Vermählung der Maria», wie eine völlige Neuerscheinung in der ganzen Kunstentwickelung dastehe und mit nichts Vorhergehendem sich unmittelbar zusammenstellen lasse, so daß man sagen könne, Raffaels Seele habe wie aus unbestimmten Untergründen einer menschlichen Seele heraus etwas geboren, das aus diesen Untergründen sich in die Gesamtentwickelung des Geistes hineinstellt wie ein völlig Neues. Merkwürdig schreitet Raffaels Seele vorwärts in Zyklen von 4 zu 4 Jahren. Und wenn wir ein solches Jahrviert betrachten, so sehen wir Raffael jeweils auf einer für seine Seele höheren Stufe. Vier Jahre etwa nach der «Vermählung der Maria» malte er die «Grablegung», weitere 4 Jahre später die Bilder der «Camera della Segnatura», und so in Etappen von 4 zu 4 Jahren bis zu jenem Werke, das unvollendet neben seinem Sterbebett stand, der «Verklärung Christi». [5]

Von christlicher Frömmigkeit war in diesen Kreisen (der kirchlichen Auftraggeber Raffaels) nicht viel zu spüren, wohl aber von Glanz, Herrschsucht, Machtgelüsten, bei den Päpsten sowohl wie bei ihrer Umgebung. Gleichsam den Diener dieser heidnisch gewordenen Christenheit sehen wir in Raffael. Aber wir sehen ihn so, daß etwas geschaffen wird aus seiner Seele heraus, durch welches die christlichen Ideen vielfach in einer neuen Gestalt erscheinen. [6] Wir sehen das, was in den christlichen Legenden, in den christlichen Traditionen lebt, in den Bildern Raffaels auftauchen mitten in einer Zeit, in welcher das Christentum wie heidnisch geworden war und ganz äußerer Gestalt und äußerer Pracht hingegeben lebte, so etwa, wie das griechische Heidentum in seinen Göttern dargestellt war und vor allem verehrt wurde von den schönheitstrunkenen Griechen. Wir sehen Raffael diese Gestalten christlicher Überlieferungen ausprägen in einem Zeitalter, in welchem das, was lange Jahrhunderte unter Schutt und Trümmern auf römischem Boden vergraben war, wieder ausgegraben wurde. Wir sehen, daß Raffael selber mit unter den Ausgrabenden war. [7]

Was sich die Griechen nur in Gestalten geformt gedacht hatten, das sehen wir jetzt verinnerlicht. Die inneren Strebungen und Kampfstimmungen, welche die Menschheit selbst durchgemacht hat, sehen wir mit griechischem Gestaltengeist, mit griechischer Kunststimmung und Schönheit an die Wände des päpstlichen Palastes gezaubert. Wie sich die Griechen vorstellten, daß die Götter auf die Welt wirkten, das gossen sie aus über ihre Statuen. Wie die Menschen es erlebt hatten, daß sie fortschreiten zu den Gründen der Dinge, das tritt uns in dem Bilde entgegen, das so oft die «Schule von Athen» genannt wird. Wie die Menschenseele gelernt hat die griechischen Götter anzuschauen, das tritt uns in einer eigentümlichen Neugestaltung der Götter Homers in dem «Parnaß« vor die Seele. Das sind nicht die Götter der Ilias und Odyssee, sondern das sind die Götter, wie sie eine Seele anschaute, die bereits durch die Epoche der Verinnerlichung durchgegangen war! An der anderen Wand sehen wir das Bild, das jedem, gleichgültig, welchem religiösen Bekenntnisse er angehören mag, unvergesslich bleiben muß – so wenig man jetzt noch eine Vorstellung davon bekommen kann –, das Bild, auf dem ein Innerstes dargestellt wird, die «Disputa». Während die anderen Bilder darstellen, wozu man sich durch ein gewisses philosophisches Streben hindurchringt, aber in griechischer Formenschönheit, tritt uns in dem gegenüberliegenden Bilde das Tiefste entgegen, was die Menschenseele erleben kann. Und wie wir nicht an ein enges christliches Bewußtsein zu denken brauchen, das zeigt sich uns hier, wenn wir das Brahma-, Vishnu-, Shiva-Motiv in einer ganz anderen Art ausgedrückt finden. Wir sehen als die Dreieinigkeit uns entgegentreten, was die menschliche Seele innerlich erleben kann, jede Seele, welchem Bekenntnisse sie auch angehört. Es tritt uns entgegen, aber nicht bloß symbolisch dargestellt, in der Symbolik der Dreieinigkeit in dem oberen Teile des Bildes. Es tritt uns weiter entgegen in jedem Antlitz der Kirchenväter und der Philosophen, in jeder Handbewegung, in der ganzen Verteilung der Gestalten, in der wunderbaren Farbgebung. Es tritt uns entgegen in der Totalität des Bildes, welches uns ein Innerliches der Menschenseele gibt in der schönen, vom griechischen Geiste durchzogenen Form. So sehen wir die Innerlichkeit, welche die Menschenseele im Verlaufe von anderthalb Jahrtausenden erlebt hat, als äußere Offenbarung wieder auferstehen. Wir sehen das Christentum nicht als das Heidentum der römischen Päpste und Kardinäle, sondern als das schöne, herrliche Gestalten schaffende griechische Heidentum – und doch Christentum – in den Bildern Raffaels wiedererstehen. [8] Im Grunde genommen haben die Werke Raffaels erst ihren Siegeszug genommen, als mit Hingabe und Liebe von diesen Werken unzählige Bilder und Stiche und Nachbildungen hergestellt worden sind. Sie wirken fort, diese Werke Raffaels, bis in die Nachbildungen hinein. [9]

Vision des Hesekiel

Das Wandern der Seele durch die geistige Welt in Menschengestalt so sachgemäß vorzustellen, gelingt den Menschen, die der Geisteswissenschaft fernstehen, heute selbstverständlich nicht mehr. Das Tierische nach unten, als Ausdruck desjenigen, was der Mensch von sich abgestreift hat, was aber selbstverständlich sogar noch in seinem ätherischen Leibe wohl zu finden ist, wenn dieser Ätherleib losgetrennt wird von dem physischen Leibe. Das Verbundensein mit dem Kindlichen in der Weise, wie es hier durch die Engelfiguren dargestellt ist, das entspricht der Vorstellung einer wirklichen Realität. [10] (Siehe auch: Kentaur).

Disputa

Das Wesentliche an diesem Bilde ist, daß ein Theologe, aus dessen Seele heraus Raffael malte, das Bewußtsein hatte: Wenn die Hostie, das Sanktissimum konsekriert ist und man durch sie hindurchschaut, dann schaut man auf die Welt, die Raffael im oberen Teil der «Disputa» gemalt hat. – Es ist wirklich die konsekrierte Hostie das Mittel, um durchzuschauen und in die geistige Welt hineinzuschauen. Deshalb hat Raffael die Sache gemalt. [11]

Auf der Disputa des Raffael kann man sehen, wie in den Grundtönen von unten nach oben in der Tat mit gewisser Richtigkeit wiedergegeben ist jenes Erlebnis, das der Mensch hat, wenn er in die höheren Welten sich erhebt. Das ist eine Notwendigkeit, dieses stufenweise Erleben des Überganges von den niederen zu den höheren Welten bis zur Anschauung jener Genien, welche aus dem Goldgrund auftauchen. [12]

Wenn wir in die höheren Partien des Astralplanes kommen, verwandelt sich das flutende Lichtmeer, das in anderen Farbtönen erglänzt und durchhellt ist, in ein solches flutendes Lichtmeer, das wie von Gold durchglüht erscheint. Das ist sehr schön wiedergegeben in der Disputa. Darin haben sie ganz unten die disputierenden Menschen wie man glaubt: Kirchenväter, Päpste, Kirchenlehrer –, dann beginnt die Region der Apostel und Propheten, und dann gliedert sich daran die Region, die bei Raffael in den Genienköpfen wiedergegeben ist, das ist diejenige Region, die wir den niederen Astralplan nennen können. Weiter oben haben Sie auf demselben Bilde die Region des höheren Astralplanes golddurchglüht richtig wiedergegeben. Daher wirken die Bilder dieser alten Maler so überzeugend, weil der, der diese Dinge weiß, die Wahrheit des inneren Schauens in ihnen wiedergegeben findet. Auch auf den, der das nicht weiß, wirken sie überzeugend, weil er im Unterbewußtsein fühlen kann, aus welch tiefer Wahrheit heraus diese Dinge geschaffen sind. [13]

Schule von Athen

In diesem Bildestellt Raffael nach dem Auftrag des Papstes Julius II. dem Göttlichen (in dem gegenüberliegenden Bilde Disputa) das gegenüber, was in des Menschen Seele im Beginne des 5. nachatlantischen Zeitalters durch die Seele selbst leben kann. Da haben wir alles gruppiert, was weltliche Wissenschaft, sich hinauferhebend auch bis zum Begreifen des Göttlichen ist. Wenn man diese Gruppe analysiert, so findet man die sogenannten sieben freien Künste (siehe: Künste – sieben freie Künste). Wie da lebt der Gegensatz des Schauenden und des Sprechenden. [14] Die verschiedenen Arten, wie sich der Mensch verhält, wenn er seine auf das übersinnliche gerichtete Vernunft zur Untersuchung der Dinge anwendet, sind in den verschiedenen Figuren ausgedrückt. [15]

Gewöhnlich werden die beiden mittleren Gestalten aufgefaßt als Plato und Aristoteles. Das ist eine falsche Darstellung, und wer sich nach der Art des Baedeker mit dem Bilde beschäftigt, welcher sagt, die einzelnen Figuren stellen diese oder jene Persönlichkeiten dar, der wird nicht viel aus dem bedeutenden Bilde herauslesen können. Die eine Gestalt nämlich ist Paulus, der in Athen auftritt unter den Philosophen. Mancherlei konnte mir klarwerden, wenn ich anhand der Akasha-Chronik zurückverfolgte, was Raffael zu dem Bilde geführt hatte. Ich hatte (vorher schon) durch andere Forschungen die Überzeugung gewonnen, wie die Evangelien zustande gekommen sind. Die Schreiber der Evangelien hatten da mitunter die Daten festgestellt nach den Sternen, hatten also Astrologie betrieben. Das ist eine Tatsache für sich und hat zunächst gar keinen Zusammenhang mit dem Bilde von Raffael. Nun hatte ich Glück oder die Gnade: eine verhältnismäßig früh verstorbene Seele machte mich aufmerksam auf den Zusammenhang zwischen der rechten und linken Seite des Bildes und mir wurde gesagt, daß die Worte aus dem Lukas-Evangelium, welche auf dem Bilde gestanden hatten, später übermalt worden waren und Worte aus der pythagoreischen Schule darauf geschrieben wurden. Nun begreift man auch die Geste, daß drüben auf Sternenkunde hingewiesen wird mit dem Zirkel, und ich konnte feststellen, daß von Raffael rechts Sternenforschung gezeigt werden sollte. Und was da erkannt wurde, wurde auf der anderen Seite aufgeschrieben. [16] Vor Raffaels Blick mag gestanden haben, was in der Apostelgeschichte steht: Wie einer unter die Athener tritt und sagt – sogar die Gebärde ist dort dargestellt –: Ihr Leute von Athen, ihr habt den Göttern Opfer gebracht in äußeren Zeichen. Es gibt aber eine Erkenntnis jenes Gottes, der in allen Leben lebt und webt. Das ist der Christus, der durch den Tod gegangen und auferstanden ist, und der dadurch den Menschen den Impuls gegeben hat zur Auferstehung. – Die einen hörten nicht zu und die anderen fanden es sonderbar. [17]

So zusammenwachsen konnten in der Renaissance Griechentum und Christentum, daß jetzt die Nachwelt gar nicht mehr unterscheiden kann Griechentum und Christentum in den Schöpfungen der Renaissance. Gestritten wird, ob das berühmte Bild wirklich in den Mittelfiguren Plato und Aristoteles darstelle, oder ob es Petrus und Paulus. Für das eine wie für das andere sprechen gewichtige Gründe; das eine wie das andere wurde vertreten, so daß an einem der hervorragendsten der Bilder nicht zu unterscheiden ist, ob man es mit griechischen oder mit christlichen Gestalten zu tun hat. Aber es ist eben so zusammen-gewachsen, daß jene wunderbare Ehe, welche im griechischen Geistesleben geschlossen war zwischen dem Geistigen und dem Materiellen, daß jene wunderbare Ehe sich ebenso ausdrücken läßt wie durch Plato und Aristoteles, so durch Petrus und Paulus. In dem Plato, den manche sehen wollen in dem Bilde, sehen wir den Greis, der hinaufhebt die Hand ins himmlische Reich, neben ihm Aristoteles mit seiner begrifflichen Welt, hinunterweisend nach der materiellen Welt, um den Geist in der Materie zu suchen. Ebensogut kann man in dem Hinaufweisenden den Petrus, in dem Hinunterweisenden den Paulus sehen. Aber immer ist während dieser Renaissance rechtmäßig die Sache auf zwei Personen verteilt.

Plastik – Menschheitsrepräsentant Gegenüber der Renaissance, die ein Wiederaufleben des Griechentums war, muß etwas Ursprüngliches (heute) wieder kommen. Das kann nur kommen durch Synthese, durch die höhere Synthese. Sie ist dadurch gegeben, daß in derselben Person die eine wie die andere Geste sein wird: die Geste hinauf zum Himmlischen, die Geste hinunter zum Irdischen. Dann braucht man allerdings das Luziferische und das Ahrimanische, einander kontrastierend. Was Sie sehen in einem der größten Kunstwerke der Renaissance auf zwei Personen verteilt, müssen Sie in unserer Gruppe (siehe: 1. Goetheanum) sehen in der einen Person des Menschheitsrepräsentanten: die eine wie die andere Geste. [18]

Sixtinische Madonna

Heute können die Leute Protestanten oder Katholiken oder sonst etwas sein, in allen Gemütern wirken Raffaels Bilder. Man kann sehen, wie in der Sixtinischen Madonna ein großes kosmisches Mysterium sich in die Menschenherzen hineinprägt, und man wird in Zukunft darauf fortbauen können – wenn die Menschheit geführt sein wird zu einem interkonfessionellen, weiten und umfassenden Christentum, das heute schon die Geisteswissenschaft darstellt –, man wird fortbauen können darauf, daß auf die menschlichen Gemüter etwas so wunderbar Mysterienhaftes gewirkt hat wie die Sixtinische Madonna. Öfters ist von mir schon hingewiesen worden darauf, daß, wenn der Mensch Kindern ins Auge schaut, er wissen kann, daß aus dem kindlichen Auge etwas herausschaut, was nicht durch die Geburt ins Dasein getreten ist, was menschliche Seelentiefen herausschauen läßt. Wer die Kinder auf den Madonnenbildern von Raffael anschaut, der sieht, daß aus seinen Kinderaugen herausschaut das Göttliche, das Verborgene, das Übermenschliche, das mit dem Kinde in den ersten Zeiten nach der Geburt noch verbunden ist. Das kann man auf allen Kinderbildern Raffaels beobachten, mit Ausnahme eines einzigen. Ein Kindesbild wird man nicht so deuten können, und das ist das Jesuskind der Sixtinischen Madonna. Wer diesem Kinde ins Auge schaut, der weiß, daß mehr, als was in einem Menschen sein kann, schon aus dem Auge dieses Kindes herausschaut. Diesen Unterschied hat Raffael gemacht, daß in diesem einzigen Kinde der Sixtinischen Madonna etwas lebt, was ein rein Geistiges, ein Christushaftes schon im voraus erlebt. So ist Raffael ein Herold, der verkündet hat den geistigen Christus, der von der Geisteswissenschaft wieder erfaßt wird. [19]

Im Hintergrunde (dieses Bildes) ist die ganze Atmosphäre mit Engelsköpfen oder Genienköpfen erfüllt. So wie sonst die Naturanschauung aus der Luft Wolkengebilde herauswachsen läßt, so wachsen da Engels- oder Geniengestalten heraus. Das ist nicht etwa bloße Phantasie, sondern etwas, was für den, der die astralische Welt sehen kann, eine volle Wirklichkeit ist. So ist die astralische Welt, die uns als wogendes Lichtmeer umgibt, angefüllt mit Wesenheiten, die gleichsam in einer unendlichen Lebendigkeit an jedem Punkt aus dem Raum hervorsprießen. Bewegtes geistiges Leben ist im Astralplan. [20]

Es war nicht ein Siegeszug, als die Sixtinische Madonna in Dresden einzog. Allerdings ist es dann ein Verdienst Goethes gewesen, daß er, nachdem er zu einer Würdigung Raffaels gekommen war, zum Verständnisse der Sixtinischen Madonna und Raffael überhaupt beigetragen hat. [21]

Zitate:

[1]  GA 150, Seite 51   (Ausgabe 1980, 146 Seiten)
[2]  GA 143, Seite 179f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[3]  GA 238, Seite 169   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[4]  GA 133, Seite 91   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)
[5]  GA 62, Seite 294ff   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[6]  GA 62, Seite 300   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[7]  GA 62, Seite 305   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[8]  GA 62, Seite 314f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[9]  GA 62, Seite 318   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[10]  GA 292, Seite 201   (Ausgabe 1981, 1174 Seiten)
[11]  GA 191, Seite 65   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[12]  GA 98, Seite 43f   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[13]  GA 101, Seite 31   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[14]  GA 292, Seite 267   (Ausgabe 1981, 1174 Seiten)
[15]  GA 292, Seite 83   (Ausgabe 1981, 1174 Seiten)
[16]  GA 150, Seite 55   (Ausgabe 1980, 146 Seiten)
[17]  GA 143, Seite 178   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[18]  GA 171, Seite 23f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[19]  GA 143, Seite 178f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[20]  GA 101, Seite 30   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[21]  GA 133, Seite 90   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)

Quellen:

GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)
GA 133:  Der irdische und der kosmische Mensch (1911/1912)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 150:  Die Welt des Geistes und ihr Hereinragen in das physische Dasein. Das Einwirken der Toten in die Welt der Lebenden (1913)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 292:  Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse (1915/1916)