Osiris

Wenn wir zurückgehen in die Kultur des alten Indiens, da finden wir, daß die 7 heiligen Rishis von dem sprachen, was sie aus ihren okkulten Untergründen heraus ein jeglicher der Menschheit zu geben hatten. Sie waren sich bewußt, daß sie das bewahrt hatten, was durch sieben lange Kulturzeiträume (der Atlantis) dirigiert war von den Geistern der Bewegung, der Dynamis. Aber diese heiligen Rishis sagten zugleich: Über dem, was wir zu geben haben als Kulturen der aufeinanderfolgenden Zeiträume, liegt etwas anderes, was über unserer Sphäre lebt. Vishvakarman nannten die heiligen Rishis das, was über ihrer Sphäre lag. Zarathustra nannte dasselbe Ahura Mazdao. Sowohl die heiligen Rishis wie auch Zarathustra wußten, daß dasjenige, was mit Vishvakarman gemeint ist, der Geist der Weisheit (Kyriotetes) darstellt, der umfassend auf die Erde strömt und größere Sphären hat als die Sphäre der einzelnen Geister der Bewegung (Dynamis). Dasselbe Wesen bezeichnen die Ägypter als Osiris wie der Sprache des 4. Kulturzeitraums der Christus. Dieses Wesen hat hereingeleuchtet durch das Tor des Sonnengeistes der Weisheit, Kyriotetes. [1] Osiris stellte ja für die Ägypter gewissermaßen dasjenige dar, was ihnen eine Art Repräsentant war des gekommenen Christus; aber sie stellten sich auf ihre Art das Sonnenwesen vor in Osiris. Sie stellten sich vor, daß dieses Sonnenwesen in einer gewissen Weise verlorengegangen sei, und daß es wieder gesucht werden muß. [2]

Wenn von einem Reich des Osiris gesprochen wird, so ist damit nicht das physische Reich gemeint, sondern ein Reich der Vergangenheit, in dem der Mensch als eine geistig-seelische Wesenheit waltet. Und mit dem feindlichen Bruder des Osiris ist jene Wesenheit gemeint, die den Menschen umgeben hat mit dem physischen Leibe, die einen Teil seines geistig-seelischen Wesens zum physischen Leibe verdichtet hat. Nun sehen wir, wie der einstmals rein geistige Osiris hineingelegt wird in einen Kasten. Dieser Kasten ist nichts anderes als der physische Menschenleib. Weil aber Osiris eine Wesenheit ist, die ihrer ganzen Natur nach nicht hinuntersteigen kann bis in die physische Welt, die in der göttlich-geistigen Welt verbleiben soll, so ist das Hineinlegen in den Kasten – den menschlichen Leib – für Osiris gleichbedeutend mit dem Tode. Es wird hier also dargestellt in weiterem Sinne der Übergang von jenem geistig-seelischen Reiche zu der physischen Entwickelungsepoche der Menschheit. In dieses physische Reich konnte Osiris nicht hinein, da starb Osiris für die äußere physische Welt und wurde der König in demjenigen Reiche, das die Seele betritt, wenn sie aus der physisch-sinnlichen Welt fortgeht oder wenn sie die hellseherischen Kräfte entwickelt. Daher wird der Eingeweihte als Seele mit Osiris vereinigt. Was ist dem Menschen geblieben aus jenem geistig-seelischen Reiche? Dem Menschen, der nicht wie Osiris sozusagen sich zurückzog von der physisch-sinnlichen Welt, sondern in sie eintrat, was ist ihm geblieben? Seine Seele, sein geistig-seelisches Wesen, das ihn immer hinziehen wird zu den Urkeimen des Geistig-Seelischen, zu Osiris. Das ist die Menschenseele, die in uns wohnt, die Isis, in einer gewissen Beziehung das Ewig-Weibliche, das in uns wohnt und uns hinanzieht zu dem Reiche, aus dem wir herausgeboren sind. Diese Isis, wenn sie sich läutert und reinigt, abtut alles, was sie aus dem Physischen empfangen hat, wird befruchtet aus der geistigen Welt und gebiert dann den höheren Menschen, den Horus, der den Sieg erringen wird über alles niedere Menschliche. [3]

Und wie der Mensch hier steht, sagte sich der alte Ägypter, wie die Stoffe, die in seinem Blut leben oder seine Knochen bilden, nicht immer in seinem Blut leben oder seine Knochen waren, sondern draußen im Weltenraume zerstreut vorhanden waren, wie dieser ganze physische Leib ein Zusammenschluß von physisch verfolgbaren Stoffen ist, die hereinwandern in die menschliche Form, während sie vorher draußen im Universum ausgebreitet waren, so ist es mit unserer Denkkraft: sie ist in uns Vorstellungskraft. So wie die Stoffe in unserem Blut einmal drinnen sind in der Menschenform und das andere Mal draußen ausgebreitet sind, so ist die Osiris-Kraft als Denkkraft in uns tätig und ausgebreitet im geistigen Weltall als Osiris, als die das ganze Weltall durchlebende und durchwebende Osiris-Kraft, die ebenso einzieht in den Menschen wie die Stoffe, die dann das Blut und die Knochen im Körperhaften des Menschen zusammensetzen. Und in die Gedanken und Vorstellungen und Begriffe fließen ein die um das Universum webenden und lebenden Isis-Kräfte. So müssen wir uns zunächst den Aufblick in der Seele des alten Ägypters zu Osiris und Isis vorstellen. [4] Erst in dem Augenblicke, als der Mond von der Erde fortging (siehe: Erdentwickelung), wurde der Mensch fähig, ein Ich-Bewußtsein in seiner allerersten Anlage aufzunehmen, da begann er erst, sich sozusagen als ein besonderes Wesen zu fühlen. Vorher fühlte er sich im Schoße von anderen Wesenheiten. Früher, als der Mond noch mit der Erde verbunden war, leitete er in der Erde die Wachstumskräfte des einzelnen Menschen von der Geburt an bis zum Tode, so wie er es auch jetzt noch, aber von außen her, tut. Damit aber der Mensch nicht nur zwischen Geburt und Tod eingeschlossen sei, mußten von außen her diejenigen Kräfte kommen, welche von der Sonne hereinwirkten. Fortwährend war also mit der Erdentwickelung verbunden ein Zusammenwirken der inneren Mondenkräfte und der äußeren Sonnenkräfte. Solange die Sonne schon abgespalten, der Mond aber noch mit der Erde verknüpft war, sah der Mensch in innerlichen Bildern die Wirkung der Sonnenkräfte; er spürte das Wohltätige der Sonnenkräfte, denn diese verbanden sich immer mit den Mondenkräften innerhalb des Erdenkörpers, und das bewirkte den Menschen in seiner Konstitution; aber sehen konnte er die Sonnenkräfte nicht. Jetzt ging auch der Mond heraus. Der Mensch erhielt seine Sinne geöffnet, dadurch verschwand für ihn die Möglichkeit, das Seelisch-Geistige der Sonnenkräfte wahrzunehmen. Die alten Ägypter, indem sie sich an diesen Zustand erinnerten, nannten die Kräfte der Sonne, die reinen Strahlen, die der Mensch einst im dumpfen Hellsehen wahrnahm, Osiris. Dieses Wahrnehmen des Osiris verschwand, und durch die Wolkenhülle (der Atlantis) war auch ein äußeres Wahrnehmen nicht möglich: tot war das, was der Mensch früher gesehen hatte. «Der Gegner Typhon hat den Osiris getötet», und diejenigen Kräfte, die als Mond herausgegangen waren, die zwischen Geburt und Tod wirkenden Kräfte, sie suchten jetzt sehnsüchtig den alten Osiris. Und nach und nach verzog sich der Nebel. Und der Mensch fing an die Sonne wiederum zu sehen, aber nicht mehr wie früher, wo er in einem gemeinsamen Bewußtsein war, sondern in jedes einzelne Auge fielen die Strahlen der Sonne, als der Mensch die Sonne nun sah: der zerstückelte Osiris. Da haben wir einen gewaltigen kosmischen Vorgang. Und während wir verkörpert waren in der alten ägyptischen Zeit, haben wir ihn in der Wiederholung erkannt. Das war es, was die ägyptischen Priesterweisen ursprünglich im Sinne hatten, und sie kleideten es in ein Bild. Sie sagten: Damals, als der Mond und die Sonne zuerst draußen standen, da war der Mensch in der Mitte, wie im Gleichgewicht gehalten von den Sonnen- und Mondenkräften. Früher gab es noch keine geschlechtliche Fortpflanzung, es wirkte dasjenige, was man eine jungfräuliche Fortpflanzung (Parthenogenese) nennt. Diejenigen Kräfte, die unsere Erde beherrschten, gingen über aus dem Zeichen der Jungfrau durch die Waage, die Gleichgewichtslage, in das Zeichen des Skorpions; daher sagte der ägyptische Priesterweise: Als die Sonne im Zeichen des Skorpions stand, als die Erde in der Waage war und die Strahlen als Stachel wirkten, indem sie die Sinnesorgane durchstachen – dieses Eintreten der äußeren Gegenständlichkeit, das ist der Skorpionstachel, der trat als etwas Neues auf gegenüber der alten jungfräulichen Fortpflanzung –, da wurde Osiris getötet. Sie sehen, wir dürfen nicht bloß irgend etwas Astronomisches suchen in einem solchen Mythos wie die Osirissage, sondern wir müssen in ihm erblicken das Ergebnis tiefer, hellseherischer Einsicht der alten ägyptischen Priesterweisen. In einen solchen Mythos haben sie hineinverkörpert, was sie über die Erden- und Menschenentwickelung wußten. [5]

Vor der Mitte der lemurischen Rasse gab es keinen Menschen, der mit Manas begabt war. Erst in der Mitte der lemurischen Zeit senkte sich Manas herab und befruchtete die Menschen. In jedem einzelnen Menschen wird ein Grab geschaffen für das in die Menschheit aufgeteilte Manas – für Osiris, der dargestellt wird als zerstückelt. Es ist die manasische Gottheit, die aufgeteilt worden ist und in den Menschen wohnt. Gräber des Osiris heißen die menschlichen Körper in der ägyptischen Geheimsprache. Manas ist so lange nicht befreit, bis die wiedererscheinende Liebe Manas befreien kann. Mit der Manasbefruchtung zog das Leidenschaftsprinzip in die Menschheit ein. [6]

In der ägyptisch-chaldäischen Zeit blickte man hinauf zur Sonne, aber man sah jetzt die Sonne nicht mehr als die strahlende (große Aura - Ahura Mazdao), man sah das bloß Leuchtende, das bloß Glänzende. Und Ra, dessen irdischer Repräsentant Osiris war, erschien als die eigentlich um die Erde sich bewegende Sonne, die da glänzte. So waren gewisse Geheimnisse dadurch verlorengegangen, daß man nicht mehr als Initiierter der alten Zeit in vollständiger innerer Klarheit den strahlenden Weltengott sehen konnte, sondern daß man jetzt nur dasjenige sehen konnte, was mehr aus Urkräften heraus, aus astralischen Kräften heraus von der Sonne kommt. Die ägyptischen, die chaldäischen Initiierten sahen geistige Taten, aber nicht ein geistiges Wesen. [7]

Osiris wurde getötet – man wollte sagen: Hingeschwunden ist das alte Leben in den Imaginationen –, als die im Herbste untergehende Sonne im 17. Grad des Skorpion stand, und an dem entgegengesetzten Punkte der Vollmond im Stier oder in den Plejaden aufging. [8]

Osiris, der Repräsentant des Sonnenwesens, der Repräsentant der geistigen Sonne, wird getötet durch Typhon, der ja nichts anderes ist als, ägyptisch ausgedrückt, der Ahriman. [9] Osiris war der Geist, welcher so die Kräfte des Sonnenlichtes in sich enthielt, daß er später, als der Mond sich trennte, mit dem Monde mitging, und die Aufgabe erhielt, vom Monde aus das Sonnenlicht auf die Erde zu lenken. Vorher hatte der Mensch die Osiriswirkung von der Sonne her; jetzt erhielt er die Empfindung, daß das, was ihm früher von der Sonne kam, ihm jetzt vom Monde zuströmte. Osiris wendet sich durch 14 Tage in den 14 Gestalten der beleuchteten Mondesscheibe der Erde zu. Dieses, was da der Mond tut, das ist im Kosmos gleichzeitig damit verknüpft, daß der Mensch atmen gelernt hat. Erst als diese Erscheinung in ihrer Art voll am Himmel war, erst da konnte der Mensch atmen, und damit war er verknüpft mit der physischen Welt, und es konnte der erste Keim des Ichs in der menschlichen Wesenheit entstehen. Die spätere ägyptische Erkenntnis hat das alles, was hier geschildert worden ist, empfunden und so erzählt: Osiris regierte früher die Erde, dann aber trat Typhon auf, der Wind. – Das ist die Zeit, in der die Wasser soweit herabfallen, daß die Luft auftritt, wodurch der Mensch zum Luftatmer wird. Das Osirisbewußtsein hat Typhon besiegt, er hat Osiris getötet, ihn in einen Kasten gelegt und dem Meere übergeben. Wie könnte man denn das kosmische Ereignis bedeutungsvoller ausdrücken im Bilde – erst regiert der Sonnengott Osiris, dann wird er hinausgetrieben im Monde? Der Mond ist der Kasten, der in das Meer des Weltenraumes hinausgedrängt wird. Wir erinnern uns nun aber auch daran, daß in der Sage gesagt wird, daß, als Osiris wiedergefunden wurde, als er auftauchte im Weltenraum, er in 14 Gestalten erschien. Die Sage erzählt: Osiris wurde in 14 Glieder zerstückelt und in 14 Gräbern begraben. Die 14 Gestalten des Mondes, die Mondphasen, sind die 14 Stücke des zerstückelten Osiris. Diese 14 Gestalten haben etwas ganz Besonderes bewirkt. Die 14 Gestalten des Mondes, in der Anordnung, wie sie aufeinander folgen, wurden die Veranlassung, daß sich 14 Nervenstränge an das Rückenmark des Menschen angliederten. Das ist eine Folge der Osiriswirkung. [10] (Weiteres siehe: Isis-Wirkung).

Zitate:

[1]  GA 136, Seite 177ff   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[2]  GA 202, Seite 234   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[3]  GA 57, Seite 381f   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[4]  GA 60, Seite 356   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[5]  GA 105, Seite 75uf   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[6]  Bei 60, Seite 4   (Ausgabe 1977, 0 Seiten)
[7]  GA 211, Seite 180f   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[8]  GA 180, Seite 152   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[9]  GA 202, Seite 233   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[10]  GA 106, Seite 79ff   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)

Quellen:

Bei 60:  Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Heft 60 (1977)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 136:  Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen (1912)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)