Sphinx

Die Gestalt der Sphinx gibt im Bilde wieder, wie der Mensch einmal war. [1] Wenn Sie ein Pferd hellseherisch betrachten, dann sehen Sie den Ätherkopf als eine Lichtgestalt über die Pferdeschnauze sich auftürmen. Nicht so stark, aber ähnlich so war der Ätherkopf bei dem alten Atlantier vorhanden, später ging er immer mehr in den Kopf hinein, so daß er heute ungefähr gleich ist an Größe und Form. Aber dafür war auch der physische Kopf, der nur teilweise erst vom Ätherkopf beherrscht war, der noch viele Kräfte draußen hatte, die heute im Inneren sind, (daher) nicht in jenem hohen Grade menschenähnlich; er bildete sich erst heraus, man sah sozusagen noch etwas von einer niederen tierischen Kopfform. Wie war es, wenn der alte Atlantier einen seiner Genossen bei Tag ansah? Da sah er eine weit zurückliegende Stirn, weit hervortretende Zähne, etwas, was noch an das Tier erinnerte. Wenn dann abends der Mensch einschlief, wenn das atlantische Hellsehen begann, dann richtete der Blick sich nicht nur auf die tierähnliche Gestalt, sondern es wuchs schon die ätherische menschliche Kopfform, und zwar eine weit schönere Form, als sie heute ist, heraus aus dem physischen Kopfe. Da war dem nächtlichen Anschauen das Tierähnliche undeutlich geworden, und es wuchs heraus die schöne Menschengestalt. Und in noch entlegenere Zeiten konnte der atlantische Hellseher zurückschauen, in Zeiten, wo der Mensch noch mehr tierähnlich war, aber verbunden mit einem ganz und gar menschenähnlichen Ätherleib; viel schöner war dieser Ätherleib als der heutige physische Menschenleib, der sich angepaßt hat den starken dichten Kräften. Diese Erinnerung, plastisch ausgestaltet: das ist die Sphinx. [2] Der Hellseher hat in der Tat das vor sich, was in der Sphinx festgehalten ist, wo die Sphinx insbesondere den ausgeprägten Löwenleib hat, dann die Adlerflügel, aber auch etwas Stierartiges – bei den ältesten Darstellungen der Sphinx war sogar der Reptilienschwanz vorhanden, der auf die alte Reptiliengestalt hinweist –, und nach vorne haben wir die Menschengestalt, die die anderen Teile harmonisiert. [3] (Siehe auch: Apokalyptische Tiere).

Die Sphinx, die lebt im Atmungssystem. [4] Wenn der Ätherleib des Menschen durch die Energie des Atmens sich ausweitet, taucht ein luziferisches Wesen in der Seele auf. Es lebt in diesem Ätherleibe nicht die menschliche Gestalt, sondern die luziferische Gestalt, die Sphinxgestalt. So steht der Mensch dadurch, daß er in seinem Atmungsprozeß dem Kosmos geöffnet ist, der Sphinxnatur gegenüber. Dieses Grunderlebnis ging besonders in der 4. nachatlantischen, der griechisch-lateinischen Kulturperiode auf. Und in der Ödipus-Sage sehen wir, wie der Mensch der Sphinx gegenübersteht, wie die Sphinx sich an ihn kettet, zur Fragepeinigerin wird. Der Mensch und die Sphinx, oder wir können auch sagen, der Mensch und das Luziferische im Weltall sollten gleichsam als ein Grunderlebnis der 4. nachatlantischen Kulturperiode so hingestellt werden, daß, wenn der Mensch sein äußeres normales Leben auf dem physischen Plan nur ein wenig durchbricht, er mit der Sphinxnatur in Berührung kommt. Da tritt Luzifer in seinem Leben an ihn heran, und er muß mit Luzifer, mit der Sphinx fertig werden. [5]

Es ist in der griechischen Sage das richtige Gefühl ausgedrückt, das der Hellseher noch während der alten ägyptischen Zeit und in den griechischen Mysterien hatte, wenn er so weit war, daß ihm die Sphinx vor das Auge trat. Was war es denn, was ihm da vor das Auge trat? Etwas Unfertiges, etwas, was werden sollte. Er sah diese Gestalt, die in gewisser Beziehung noch tierische Formen hatte, im Ätherkopf sah er, was hineinwirken sollte in die physische Form, um diese menschenähnlicher zu gestalten. Wie dieser Mensch werden sollte, welch eine Aufgabe die Menschheit in der Entwickelung hatte, diese Frage stand lebendig vor ihm als eine Frage der Erwartung, der Sehnsucht, der Entfaltung des Kommenden, wenn er die Sphinx sah. Daß alle menschliche Forschung und Philosophie aus der Sehnsucht heraus entsteht, ist ein griechischer Ausspruch, aber zugleich auch ein hellseherischer. Man hat vor sich eine Gestalt, die nur mit astralischem Bewußtsein wahrgenommen wird, aber sie quält einen, sie gibt einem Rätsel auf: das Rätsel, wie man werden soll.

Nunmehr hat sich diese Äthergestalt, die in der atlantischen Zeit da war und in der ägyptischen Zeit in der Erinnerung lebte, mehr und mehr dem menschlichen Wesen einverleibt, und sie erscheint auf der anderen Seite in der Menschennatur wieder, sie erscheint in all den religiösen Zweifeln, in dem Unvermögen unserer Kulturepoche gegenüber der Frage: Was ist der Mensch? – In all den unbeantworteten Fragen, in all den Aussprüchen, die sich um das «Ignorabimus» drehen, erscheint die Sphinx wieder. Daher kann der Mensch so schwer zu einer Überzeugung von der geistigen Welt kommen, weil die Sphinx, die früher außen war, nachdem gerade in dem mittleren Zeitraum sich der gefunden hat, der das Rätsel gelöst, der sie in den Abgrund, in das eigene Innere des Menschen gestürzt hat, weil diese Sphinx jetzt im Inneren des Menschen erscheint. [6] In der ägyptischen Zeit war der Mensch nur imstande, die Sphinx wirklich als ätherische Gestalt zu sehen, wenn er gewisse Einweihungsstufen durchgemacht hatte. [7]

In der Zukunft blickt das Menschenantlitz in verklärter Gestalt hervor aus dem abgesonderten, hinuntergestoßenen Bösen des Tierischen. Denken wir uns das verklärte Menschenantlitz, das heute wie ein Rätsel schlummert in der tierischen Materie, abgesondert von dem Tierisch-Bösen und symbolisch dargestellt – die ägyptische Sphinx. Sie ist nicht etwas, was nur auf die Vergangenheit hinweist, sondern sie weist auch auf die Zukunft hin. [8]

Zitate:

[1]  GA 106, Seite 148   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[2]  GA 105, Seite 27f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[3]  GA 106, Seite 102   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[4]  GA 158, Seite 105   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[5]  GA 158, Seite 102f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[6]  GA 105, Seite 187f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[7]  GA 105, Seite 186   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[8]  GA 93a, Seite 239   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)

Quellen:

GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)