Parzival

Man unterschied bei der Einführung in die Mysterien drei Stufen, durch die der Mensch hindurchgehen mußte. Die erste Stufe war die Dumpfheit, die zweite Stufe war der «Zwîfel», die dritte Stufe war die «Saelde». Die erste Stufe war die, auf welcher der Mensch von allem Vorurteil der Welt hinweggeführt wurde, hingewiesen wurde auf die Kraft seiner eigenen Seele, seine eigene Liebeskraft, damit er das innere Licht leuchten sehen konnte. Die zweite Stufe war der «Zwîfel». Dieser Zweifel an allem kommt auf der zweiten Stufe der Einweihung, und er wird auf einer höheren Stufe hinaufgehoben in die innere Seligkeit – Saelde. Dies war die dritte Stufe, das bewuße Zusammenführen mit den Göttern. Perce-val – dringe durch das Tal so wurden im Mittelalter solche Einzuweihende genannt. [1] Parzival muß etwa ins 7. oder 8. Jahrhundert zurückversetzt werden. [2] Bei einer Gelegenheit, wo auch über Parzival gesprochen wurd, wies Rudolf Steiner darauf hin, daß die von Wolfram von Eschenbach geschilderte Schulung des Parzival durch Trevrizent in dem Gebiet der Eremitage in Arlesheim (Schweiz) stattgefunden habe. Er bezeichnete ziemlich genau den Platz, nämlich da, wo heute die «Hütte des Eremiten» steht. Er bezeichnete die ganze Gegend als Gralsgebiet. (Weiteres siehe in dem Werk von Werner Greub: Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Grals, Dornach 1974). [3]

Parzival ist der Sohn eines abenteuernden Ritters und seiner Mutter Herzeleide. Der Ritter ist schon weggezogen, bevor Parzival geboren wurde. Die Mutter erleidet Schmerzen und Qualen schon vor der Geburt. Sie will ihren Sohn von alledem bewahren, womit er in Berührung kommen kann etwa durch Rittertugend und dadurch, daß er im Ritterdienste seine Kräfte entfaltet. Sie zieht ihn so auf, daß er nichts von allem erfährt, was in der äußeren Welt vorkommt, was dem Menschen durch die Einflüsse der äußeren Welt gegeben werden kann. In der Einsamkeit der Natur, nur eben diesen Eindrücken der Natur überlassen, soll Parzival heranwachsen. Einzig und allein das erfährt er von seiner Mutter, daß es einen Gott gibt, daß ein Gott hinter allem steht. Er will Gott dienen. Aber mehr weiß er nicht, als daß er Gott dienen kann. Alles andere wird ihm vorenthalten. Aber der Drang zum Rittertum ist so stark, daß er dazu getrieben wird, die Mutter eines Tages zu verlassen und hinauszuziehen, um das kennenzulernen, wonach es ihn treibt. Und dann wird er nach mancherlei Irrfahrten nach der Burg des Heiligen Grals geführt. Wir erfahren, daß Parzival einst auf seinen Wanderungen in eine waldige Gegend kam, wo zwei Männer fischten. Und auf die Frage, die er ihnen stellte, wiesen sie ihn nach der Burg des Fischerkönigs. Er kam in die Burg, trat ein, und es wurde ihm der Anblick, daß er einen Mann fand, krank und schwach, der auf einem Ruhebett lag. Dieser gab ihm ein Schwert, das Schwert seiner Nichte. Und der Anblick bot sich ihm weiter, daß ein Knappe hereintrat mit einer Lanze, von der Blut heruntertroff, bis zu den Händen des Knappen. Dann trat herein eine Jungfrau mit einer goldenen Schale, aus der ein solches Licht leuchtete, das alle anderen Lichter des Saales überstrahlte. Dann wurde ein Mal aufgetragen. Bei jedem Gange wurde diese Schale vorübergetragen und in das Nebenzimmer gebracht. Und der dort liegende Vater des Fischerkönigs wurde durch das, was in dieser Schale war, gestärkt. Das alles war dem Parzival wunderbar vorgekommen, allein er hatte auf seinen Wanderungen durch einen Ritter den Rat erhalten, nicht viel zu fragen. Daher fragte er auch jetzt nicht nach dem, was er sah; er wollte erst am nächsten Morgen fragen. Aber als er aufwachte, war das ganze Schloß leer. Trotzdem das Wunderbarste vor seine Seele getreten ist, hat er zu fragen versäumt. Und er muß es immer wieder hören, daß es mit dem, was zu seiner Sendung gehört, etwas zu tun hat, daß er hätte fragen müssen, daß gewissermaßen seine Mission zusammengehangen hat mit dem Fragen nach dem Wunderbaren, das ihm entgegengetreten ist. Erkennen ließ man ihn, daß er eine Art Unheil dadurch herbeigeführt hat, daß er nicht gefragt hat. In Parzival haben wir eine Persönlichkeit, die abseits erzogen worden ist von der Kultur der äußeren Welt, die nichts hat wissen sollen von der Kultur der äußeren Welt, die zu den Wundern des Heiligen Grals hat geführt werden sollen, damit sie nach diesen Wundern fragt, aber mit jungfräulicher, nicht durch die übrige Kultur beeinflußten Seele. [4] Parzival soll nicht einer von denjenigen sein, die gewissermaßen gelernt haben, was einst auf Golgatha hingeopfert worden ist, was nachher die Apostelväter, die Kirchenlehrer und die anderen verschiedenen theologischen Strömungen gelehrt haben. Er sollte nicht wissen, wie sich die Ritter mit ihren Tugenden in den Dienst des Christus gestellt haben. Er sollte einzig und allein mit dem Christus-Impuls in den Untergründen seiner Seele in Zusammenhang kommen. Getrübt hätte es diesen Zusammenhang nur, wenn er das aufgenommen hätte, was die Menschen über den Christus gelehrt oder gelernt hatten. Äußere Lehre gehört immer auch der sinnlichen Welt an. Aber der Christus-Impuls hat übersinnlich gewirkt und sollte übersinnlich in die Seele des Parzival hineinwirken. Zu nichts anderem sollte seine Seele getrieben werden, als zu fragen dort, wo ihm die Bedeutsamkeit des Christus-Impulses entgegentreten konnte: am Heiligen Gral. Fragen sollte er, was der Heilige Gral enthüllen könnte, und was eben das Christus-Ereignis sein konnte.

Ein anderer sollte nicht fragen: der Jüngling zu Sais. Sein Verhängnis war es, daß er fragen mußte, daß er tat, was er nicht tun sollte, daß er haben wollte, daß das Bild der Isis enthüllt werden sollte. Der Parzival der vor dem Mysterium von Golgatha liegenden Zeit, das ist der Jüngling zu Sais. Parzival versäumt das Wichtigste, da er das nicht tut, was dem Jüngling zu Sais verwehrt war, da er nicht fragt, nicht sucht nach der Enthüllung des Geheimnisses für seine Seele. So ändern sich die Zeiten im Laufe der Menschheitsentwickelung. Stellen wir uns vor das Bild der alten Isis mit dem Horusknaben, das Geheimnis des Zusammenhanges zwischen Isis und Horus, dem Sohne der Isis und des Osiris. Aber das ist abstrakt gesprochen, dahinter liegt natürlich ein großes Geheimnis. Der Jüngling zu Sais war nicht reif, um dieses Geheimnis zu erfahren. Als Parzival, nachdem er auf der Gralsburg nach den Wundern des Heiligen Grals zu fragen versäumt hatte, fortreitet, da gehört zu den ersten, die ihm begegnen, ein Weib, eine Braut, die da trauert um ihren eben gestorbenen Bräutigam, den sie im Schoße hält: Richtig das Bild der trauernden Mutter mit dem Sohne, das später so oftmals als Pieta-Motiv gedient hat! Das ist die erste Hinweisung darauf, was Parzival erfahren hätte, wenn er nach den Wundern des Heiligen Grals gefragt hätte. Er hätte in der neuen Form jenen Zusammenhang erfahren, der besteht zwischen Isis und Horus, zwischen der Mutter und dem Menschensohne. Und er hätte fragen sollen! [5]

Der Jüngling zu Nain aus dem Lukas-Evangelium ist kein anderer als der Jüngling zu Sais. Wissen wollte der Jünglings zu Sais unvorbereitet von den Geheimnissen der geistigen Welt; er wollte werden wie die anderen Eingeweihten ein « Sohn der Witwe», der Isis, die da trauerte um ihren verstorbenen Gemahl Osiris. Da er aber unvorbereitet war, so verfiel er dem Tode. Er wird wiedergeboren, er wächst heran als der Jüngling zu Nain, er ist wiederum ein «Sohn der Witwe», wiederum stirbt er im Jünglingsalter. Und der Christus Jesus naht sich, als der Tote aus dem Stadttor getragen wird. Und «viel Volk aus der Stadt» war mit seiner Mutter; es ist die Schar der ägyptischen Eingeweihten. Sie alle sind Tote, die einen Toten begraben. « Und da sie der Herr sah, jammerte ihn derselbigen». Es jammerte ihn der Mutter, die dasteht gleichsam als Isis, welche war die Schwester und Gemahlin des Osiris. Und er sprach: «Jüngling, ich sage dir, stehe auf!» «Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und er gab ihn seiner Mutter.» – Sie ist ja auf die Erde herabgestiegen, die frühere Isis; ihre Kräfte können jetzt auf der Erde selbst erlebt werden. Der Sohn wird der Mutter wieder geschenkt, es ist nun an ihm, sich völlig mit ihr zu verbinden. «Und die Umstehenden priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden». Denn in dem Jüngling zu Nain hatte der Christus Jesus durch die Art der Initiation, welche diese Auferstehung darstellt, einen Keim gesenkt, der erst in seiner nächsten Inkarnation zur Blüte kommen sollte.

Ein großer Prophet, ein gewaltiger Religionslehrer ist aus dem Jüngling zu Nain geworden. Im dritten nachchristlichen Jahrhundert trat zunächst in Babylonien auf Mani oder Manes, der Begründer des Manichäismus. Eine eigentümliche Legende erzählt über ihn das folgende. Skythianos und Therebinthus oder Buddha waren seine Vorgänger. Der Letztere war der Schüler des Erstgenannten. Nach dem gewaltsamen Tode des Skythianos flieht er mit dessen Büchern nach Babylonien. Auch ihm ergeht es schlecht; nur eine alte Witwe nimmt seine Lehre an. Sie erbt seine Bücher und hinterläßt diese ihrem Pflegesohn, der im Alter von 12 Jahren steht, und den sie als siebenjährigen Sklavenknaben an Kindesstatt angenommen hat. Dieser, der auch wiederum ein «Sohn der Witwe» genannt werden kann, tritt mit 24 Jahren auf als Manes. In seiner Lehre war alles zusammengefaßt, was die alten Religionen an Weisheit enthalten hatten, und er beleuchtete es mit einer christlichen Gnosis, die möglich machte, daß die Bekenner der babylonisch-ägyptischen Sternenweisheit, die Anhänger der alten Perser-Religion, ja sogar die Buddhisten aus Indien, sich durchdringen konnten mit einem Verständnis des Christus-Impulses in dieser Form. Vorbereitend gewirkt hat diese Seele, die vorher in dem Jüngling zu Nain lebte und die eingeweiht wurde von dem Christus in dieser Weise für spätere Zeiten, wo das, was im Manichäismus enthalten war, und was durchaus nicht zur vollen Entwickelung gekommen ist, aufgehen wird zum Heile der Völker des alten Orients, – vorbereitend hat diese Seele in ihrer Inkarnation als Manes gewirkt für ihre eigentliche spätere Mission: den wahren Zusammenklang aller Religionen zu bringen. Damit sie dies tun konnte, mußte sie wiedergeboren werden als diejenige Seele, die zu dem Christus-Impuls in einem ganz besonderen Verhältnis steht. Untertauchen mußte gleichsam noch einmal alles, was in jener Inkarnation als Manes an altem und neuen Wissen aus dieser Seele heraufgekommen war. Als der «reine Tor» mußte er dem äußeren Wissen der Welt und dem Wirken des Christus-Impulses in seinen Seelenuntergründen gegenüberstehen. Er wird wiedergeboren als Parzival, der Sohn der Herzeleide, der von ihrem Gatten verlassenen tragischen Gestalt. Als Sohn dieser Witwe verläßt er nun auch die Mutter. Er zieht hinaus in die Welt. Und die Fortsetzung der Parzivalssage erzählt uns, wie er wiederum hinzieht nach dem Morgenlande, wie er in den Angehörigen der dunklen Rassen seine Brüder findet, wie auch zu diesen die Segnungen des Heiligen Grals einmal kommen werden. So bereitet er sich in seinem Leben als Parzival dazu vor, später ein neuer Lehrer des Christentums zu werden, dessen Aufgabe es sein wird, das Christentum immer mehr und mehr zu durchdringen mit den Lehren von Karma und Reinkarnation, wenn die Zeit dazu reif sein wird. [6] (Weiteres siehe: Gral, Heiliger; Tumbheit und Saelde; Einzelheiten und organisches Korrelat siehe: Organtätigkeiten und Geschichte).

Zitate:

[1]  GA 97, Seite 266   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[2]  GA 210, Seite 211   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[3]  Sch, Seite 73   (Ausgabe 1970, 0 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 162f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 148, Seite 164f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[6]  GA 264, Seite 227uf   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)

Quellen:

GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)
Sch:  Ilona Schubert: Selbsterlebtes im Zusammensein mit Rudolf Steiner und Marie Steiner (1970)