Organtätigkeiten und Geschichte

Der Mensch ist eine ungemein feine Organisation; aber diese ist nicht immer gleich. Gerade in der zivilisierten Welt – so grotesk das heute auch für die Menschen erscheint –, ungefähr durch die ganze Zeit vom 4. Jahrhundert bis ins 14. Jahrhundert, war die Nierentätigkeit das Wichtigste; und seither ist es die Lebertätigkeit geworden für die Gesamtmenschennatur. Ich möchte sagen: die Anatomie und Physiologie des Menschen ändert sich eben im Laufe der Jahrhunderte, und man kann Geschichte nicht studieren, wenn man nicht auf die feine Struktur des Menschen eingeht und weiß, wie solche Umwandlungen der äußeren Zivilisationserscheinungen, wie die vom Mittelalter in die neuere Zeit, auch verknüpft sind mit einer Umwandlung der ganzen Menschheitsorganisation. Und sehen Sie, es tritt so um die Wende des 12. bis 14. Jahrhunderts in Europa eine Anschauung auf die sich ausspricht in der Gralssage, in der Parzivalssage. Da taucht besonders ein Motiv auf, das besteht darin, daß man plötzlich einmal darstellen will, wie der Mensch sich hinentwickeln soll zu demjenigen, was man dazumal «saelde» nannte. Das ist das Gefühl eines gewissen inneren Glücksempfindens. Man strebt nach dieser saelde, nach diesem inneren Glücksgefühl, das aber nicht irreligiös, nicht etwa ein innerliches Glücksbehagen sein soll, sondern ein Durchseeltsein mit den göttlichen Schöpferkräften. Warum kommt das herauf? Das kommt herauf, weil dieser Übergang stattfindet von Nierentätigkeit zur Lebertätigkeit. Sie können das begreifen, wenn Sie zur Physiologie Ihre Zuflucht nehmen. Die früheren Physiologen waren, in einer gewissen Beziehung natürlich, bessere Physiologen als die materialistischen Physiologen der Gegenwart; das waren nämlich die Schreiber des Alten Testamentes, wo man zum Beispiel sagte, wenn man schlechte Träume gehabt hat: Der Herr hat mich durch meine Nieren in dieser Nacht gestraft. – Dieses Wissen von gewissen Zusammenhängen einer unnormalen Nierentätigkeit mit den schlechten Träumen, das setzte sich dann fort, und davon war man zum Beispiel im 8., 9., 10. Jahrhundert noch tief durchdrungen, daß man schwer wird durch die Nierentätigkeit. Diese war allmählich den Menschen zu etwas Schwerem geworden. Man kam nicht so recht hinaus. Man klebte an dem Irdischen. Und da empfand man dieses Durchsetzen mit Galle von der physischen Seite her, das aber verbunden war mit einer Durch-saelde-ung, als eine Erlösung, eine innerliche Erlösung – ein innerliches, aber gotterfülltes Glücksgefühl, ein Hinwegstreben von dem Dumpfen der Niere. Die Niere entwickelt ja auch eine Denktätigkeit; die Niere entwickelt die dumpfe Denktätigkeit im Menschen auf dem Umwege durch das Gangliensystem (siehe: Nervensystem sympathisches), was dann durch Induktion verbunden ist mit dem Rückenmarkssystem und mit dem Gehirnsystem, sie entwickelt namentlich dasjenige Denken, das gerade auch im Mittelalter eine große Rolle gespielt hat. Man nannte es dazumal «tumpheit». Und diese Entwickelung von der tumpheit bis zur Erhellung, saelde, das war ja etwas, was zum Parzival-Motiv wurde. Erst später kommt die saelde in ihn, nachdem er durch den Zweifel hindurchgegangen ist. Der Zweifel ist in ihm, das Durchrütteltwerden mit dem Herz-Lungensystem. Nachdem er da hindurchgegangen ist, findet er den Einzug in die saelde. Man kann sagen: Bei den tonangebenden Menschen, bei denjenigen, die solch ein Parzival-Motiv ausgestaltet haben, bei denen ist es so, daß sie die Pioniere, die ersten Vorläufer waren dieser neuzeitlichen Menschheitsorganisation, die übergegangen ist von der alten Nierentätigkeit zu der neuen Lebertätigkeit. [1]

Zitate:

[1]  GA 218, Seite 82uf   (Ausgabe 1976, 336 Seiten)

Quellen:

GA 218:  Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus (1922)