Katharsis

Wenn der heutige Mensch schläft, so kann das alles, was er tagsüber erlebt, keinen so starken Eindruck auf seinen astralischen Leib machen, daß dies in der Nacht weiterwirkt. Wenn der heutige normale Mensch abends einschläft, ist sein Tagesleben wie ausgelöscht. Beim Einweihungsschüler, wenn er auch lange nichts von der Umwandlung seines astralischen Leibes merkt, ist es aber anders. Wenn er anfängt Meditation zu üben und die in okkulten Schulen vorgeschriebenen Übungen auf sich wirken läßt, sieht der Hellseher, während beim gewöhnlichen Menschen etwas Unorganisiertes, Chaotisches zu schauen ist, beim Meditanten ganz andere Strömungen, andere Formen und Organe. Das zeigt sich als Wirkung der Übungen, wenn auch der Schüler selbst lange nichts davon merkt. Es wird sein astralischer Leib ein anderes Wesen, wenngleich auch die Meditation noch so kurz ist. Chaotisch war vorher der astralische Leib, und alles, was der Mensch tat, wurde übertönt durch die Tageseindrücke. Nur die Vorschriften der okkulten Schulung geben etwas, was alle Alltagseindrücke übertönt. Daher nannte man diese Wandlung der Seele: Reinigung oder Katharsis. Der Schüler wird ein Gereinigter, während beim gewöhnlichen Menschen der astralische Leib fortfährt, chaotisch, ungeordnet zu sein. [1]

Schon in den ägyptischen Mysterien konnte nur der eingeweiht werden, der seinen ganzen Astralleib durchgearbeitet hatte, so daß der Astralleib vollständig von dem Ich aus geleitet werden konnte. [2]

In dem Drama des Äschylos erkennt man noch etwas von dem Drama des Gottes. In der Mitte der Handlung steht Dionysos als die große dramatische Figur; der ihn umgebende Chor begleitet die Handlung. Die dramatische Kulthandlung hatte die ganz bestimmte Aufgabe, den Menschen auf eine höhere Stufe des Daseins zu führen. Diese Reinigung durch das göttliche Vorbild nennt man (auch) die «Katharsis». So sollte Furcht und Mitleid hervorgerufen werden. Das gewöhnliche Mitleid, das am Persönlichen hängt, soll zum großen unpersönlichen Mitleid erhoben werden, wenn man den Gott leiden sieht für die Menschheit. [3]

Es gibt einen wichtigen okkulten Grundsatz: Jede Eigenschaft hat zwei entgegengesetzte Pole. So finden wir, wie positive und negative Elektrizität sich gegenseitig ergänzen, oder Wärme und Kälte, Tag und Nacht, Licht und Finsternis und so weiter. So hat auch jede Kamaeigenschaft (Astraleigenschaft) zwei entgegengesetzte Seiten. Zum Beispiel hat der Mensch im Löwen die Wut aus sich herausgesetzt, die auf der anderen Seite, wenn er sie veredelt, die Kraft ist, die ihn zu seinem höheren Selbst hinaufführen kann. Die Leidenschaft soll nicht vernichtet, sondern geläutert werden. Der negative Pol muß hinaufgeführt werden zu einer höheren Stufe. Dieses Läutern der Leidenschaft, dieses Hinaufführen ihres negativen Poles nannte man bei den Pythagoreern die Katharsis. [4]

Der Grieche hat eigentlich in dem Wirken des Kunstwerkes auf den Menschen immer etwas gesehen, was er auch leiblich betrachtet hat. Er sprach von der Krankheitskrisis, von der Katharsis, und er sprach so auch von der Wirkung des Kunstwerks, er sprach so auch in der Erziehung. [5]

Aus der Unbewußtheit heraus hatte man in früheren Zeiten eine ganz bestimmte Empfindung über den Fortgang der Menschheitsentwicklung. Das war die, daß das Werden der Menschheit, der ganzen Menschheit, wenn es sich selber überlassen wäre, fortwährend degenerieren würde, fortwährend von Schädlichkeiten ergriffen würde, fortwährend zu einer Art von Sterben sich hinneigen würde, fortwährend erkranken würde. Aber man hatte auch das Bewußtsein: Wenn der Mensch eingreift in diese Menschheitsentwicklung, so wird er, indem er gerade auf dasjenige sich verläßt, was aus dem Wesen des Unbewußten heraus ihn erleuchtet, zum Heiler der Krankheiten, der Schädigungen. Als eine Heilkraft der Menschheitskultur hat man in den Zeiten der unbewußten Entwicklung der Menschheit empfunden alles Wissen, alle Erkenntnis, weil man nicht dabei stehenblieb, nur in einer Ecke etwas zu wollen und nicht teilzunehmen am äußeren Kulturprozeß – im Gegenteil, man wollte mitmachen gerade als Heiler diesen Kulturprozeß.

Und das Wort, welches uns herübertönt aus der griechischen Erkenntnis, charakterisierend eine der tiefsten Kunstschöpfungen, die Tragödie, das Wort «Katharsis», das tönt herüber aus der griechischen Kultur und will besagen, worauf eigentlich die Wirkung des Trauerspiels beruht. Darauf beruht diese Wirkung: im Menschen Bilder von Leidenschaften zu erzeugen, damit diese Leidenschaften im Anblick der tragischen Handlung des Trauerspiels geheilt werden können – seelisch. Indem dieser Ausdruck «Katharsis» als das die Tragödie Beherrschende heraustönt aus der griechischen Kultur, wird uns angedeutet, wie auch das Künstlerische in dem dem Leben so nahestehenden Griechentum als Heilungsprozeß des Lebens betrachtet worden ist. Denn «Katharsis» ist ein Wort – wir können es nur mit dem abstrakten Wort «Reinigung» übersetzen -, welches man auch braucht für jene Erscheinung, die während einer Erkrankung des Menschen bis zur Krisis führt; und wenn diese Krisis zur Ausscheidung des Schädigenden führt, dann kommt es zur Heilung. Der Grieche entnahm dem menschlich-individuellen Heilungsprozeß die Aufgabe für die Tragödie. Er dachte sich nicht das Künstlerische aus der übrigen Kultur fort; er dachte es sich durchaus darinnenstehend. [6]

Die alten Griechen wußten, daß der Mensch, der eine Tragödie ansieht, die Leiden miterlebt, von ihnen gepackt, ergriffen wird; aber wenn er hinausgeht, so weiß er, daß der Held gesiegt hat über die Leiden, daß der Mensch die Leiden der Welt überwinden kann. Durch den Anblick des Leidens und die Überwindung des Leidens wird er gesund. Den Blick nach innen wenden, macht krank. Das, was im Innern lebt, äußerlich im Bilde zu sehen, das macht gesund.

Darum definiert Aristoteles, die Tragödie führe vor, wie der Held hindurchgeht durch Leiden und Furcht, damit der Mensch von Leiden und Furcht geheilt wird. Das erstreckt sich weit. Der Geisteswissenschafter kann Ihnen sagen, weshalb die alten Völker dem Menschen in Märchen und Sagen Bilder vor die Seele führten: Es wurden ihm Bilder vorgeführt von dem, wovon er im Inneren sein Blick abwenden sollte. Das Blutfließen in den Märchen ist ein gesundes Erziehungsmittel. Tiefe Weisheit liegt auch in den blutrünstigen Märchen. [7]

Zitate:

[1]  GA 104a, Seite 66   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[2]  GA 93, Seite 178   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[3]  GA 51, Seite 277f   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[4]  GA 93a, Seite 52f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[5]  GA 302, Seite 36   (Ausgabe 1978, 142 Seiten)
[6]  GA 335, Seite 62f   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)
[7]  GA 56, Seite 205f   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 56:  Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (1907/1908)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 302:  Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung (1921)
GA 335:  Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken (1920)