Jüngling zu Sais

Bei den Menschen vor dem Mysterium von Golgatha war es so, daß sie wie Kinder heranwuchsen: sie lernten gehen, sprechen, und sie lernten selbstverständlich, solange die elementaren Kräfte im Sinne des alten Hellsehens noch da waren, auch hellsehen. Sie lernten es wie etwas, was sich ergab im Umgange mit der Menschheit, so wie es sich ergab im Umgange mit der Menschheit, daß man durch die Organisation des Kehlkopfes das Sprechen lernte. Man blieb aber nicht beim Sprechenlernen stehen, sondern schritt vor zu dem elementaren Hellsehen. Dieses elementare Hellsehen war gebunden an die gewöhnliche menschliche Organisation so, wie die menschliche Organisation drinnenstand in der physischen Welt; es mußte also notwendigerweise das Hellsehen auch den Charakter der menschlichen Organisation annehmen. Ein Mensch, der ein Wüstling war, konnte nicht eine reine Natur in sein Hellsehen hineinschieben; ein reiner Mensch konnte seine reine Natur auch in sein Hellsehen hineinschieben. Das ist ganz natürlich, denn es war das Hellsehen an die unmittelbare menschliche Organisation gebunden. Eine notwendige Folge davon war, daß ein gewisses Geheimnis – das Geheimnis des Zusammenhanges zwischen der geistigen Welt und der physischen Erdenwelt –, das vor dem Herabstieg des Christus Jesus bestand, nicht für diese gewöhnliche menschheitliche Organisation enthüllt werden durfte. Es mußte die menschliche Organisation erst umgestaltet, erst reif gemacht werden. Der Jüngling zu Sais durfte nicht ohne weiteres, von außen kommend, das Bild der Isis sehen. Mit dem vierten nachatlantischen Zeitraume, in welchen das Mysterium von Golgatha hineinfiel, war das alte Hellsehen verschwunden. Eine neue Organisation der Menschenseele trat auf, eine Organisation der Menschenseele, die überhaupt abgeschlossen bleiben muß von der geistigen Welt, wenn sie nicht fragt, wenn sie nicht den Trieb hat, der in der Frage liegt. [1]

Der Jüngling zu Sais sollte nicht fragen. Denn sein Verhängnis war es, daß er fragen mußte, daß er tat, was er nicht tun sollte, daß er haben wollte, daß das Bild der Isis enthüllt werden sollte. Der Parzival der vor dem Mysterium von Golgatha liegenden Zeit, das ist der Jüngling zu Sais. Aber in jener Zeit wurde ihm gesagt: Hüte dich, daß deiner Seele unvorbereitet enthüllt werden sollte, was hinter dem Schleier ist! – Der Jüngling zu Sais nach dem Mysterium von Golgatha ist Parzival. Und er sollte nicht besonders vorbereitet werden, er soll mit jungfräulicher Seele zum Heiligen Gral hingeführt werden. Er versäumt das Wichtigste, da er das nicht tut, was dem Jüngling zu Sais verwehrt war, da er nicht fragt, nicht sucht nach der Enthüllung des Geheimnisses für seine Seele. So ändern sich die Zeiten im Laufe der Menschheitsentwickelung!

Als Parzival, nachdem er auf der Gralsburg nach den Wundern des Heiligen Grals zu fragen versäumt hatte, fortreitet, da gehört zu den ersten, die ihm begegnen, ein Weib (Sigune), eine Braut, die da trauert um ihren eben gestorbenen Bräutigam (Schionatulander), den sie im Schoße hält: Richtig das Bild der trauernden Mutter mit dem Sohne, das später so oftmals als Pieta-Motiv gedient hat! Das ist die erste Hinweisung darauf, was Parzival erfahren hätte, wenn er nach den Wundern des Heiligen Grals gefragt hätte. Er hätte in der neuen Form jenen Zusammenhang erfahren, der besteht zwischen Isis und Horus, zwischen der Mutter und dem Menschensohne. Und er hätte fragen sollen! In der spirituellen Strömung müssen wir lernen zu fragen. In der materialistischen Strömung führt aber die Menschen alles ab vom Fragen. [2]

Zitate:

[1]  GA 148, Seite 169f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[2]  GA 148, Seite 165f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)

Quellen:

GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)