Gral

Der keltische Volksgeist errichtete als keltischer Archangelos in der Hochburg des Grals ein neues Inspirationszentrum. [1] Wir versetzen uns in die tragische Stimmung des zu Initiierenden der ägyptischen Zeit, der sich sagen mußte: Ehedem fand ich, wenn ich hinaufkam in die spirituellen Welten, den Osiris, durchdringend die Weiten mit dem schöpferischen Wort und seinem Sinn, das darstellt die Grundkräfte alles Seins und Werdens. Stumm und schweigsam ist es geworden. Der Gott, der als Osiris bezeichnet worden ist, hat diese Region verlassen. Er ist hinuntergestiegen in die irdische Region, um in die Seelen der Menschen einzuziehen. – Erst damals wurde er, der den Menschenseelen früher geistig kund war, auch im physischen Leben offenbar, als Moses die Stimme vernahm in der Welt, die eigentlich früher nur in den spirituellen Welten hat gehört werden können: «Ehjeh asher ehjeh ! Ich bin der Ich-bin, der da war, der da ist, der da sein wird!» Und dann ging das Einleben dieser Wesenheit, die allmählich als das schöpferische Wort sich in den spirituellen Welten für das Erlebnis des Einzuweihenden verloren hatte, über in die Erdenregion, damit es allmählich aufleben konnte in den Seelen der Erdenmenschen, und in diesem Aufleben zu immer höherer und höherer Glorie die weitere Entwickelung der Erde befeuern konnte – bis zum Ende der Erdentwickelung. Verfolgen wir die Erdentwickelung, wie nun dieses schöpferische Wort für den spirituellen Blick so fortschreitet, wie etwa ein Fluß, der an der Oberfläche gewesen ist und dann unter der Erdoberfläche für eine gewisse Zeit verschwindet, um später an anderer Stelle wieder hervorzutreten. Es trat hervor, und schauen konnten es in den späteren Zeiten diejenigen, die am Mysterienwesen teilnehmen durften. Und ins Bild mußten sie bringen, was sie schauen konnten, was da wieder heraufstieg, aber jetzt so heraufstieg, daß es nunmehr zur Erdentwickelung gehörte. Wie stieg herauf, was im alten Ägypten untergetaucht war? So stieg es herauf, daß es sichtbar wurde in jener heiligen Schale, die da bezeichnet wird als der Heilige Gral. Im Grunde genommen schließt das Wort «Heiliger Gral» und alles, was mit ihm zusammenhängt, das Wiederauftauchen des morgenländischen Mysterienwesens in sich ein. [2] Von vielen, vielen Geheimnissen ist dieser Heilige Gral umgeben. In dem heiligen Gral war nämlich alles enthalten, wenn man ihn in seiner Wesenheit verstand, was die Geheimnisse der Menschenseele in der neueren Zeit charakterisierte. [3]

Wenn der mittelalterliche Initiierte im Bilde darstellen wollte, was er zu lernen hatte, um so seinen lebendig gebliebenen Seelenteil zu durchdringen mit der neuen Weisheit, so wies er hin auf die Burg des Heiligen Gral und auf das, was als neue Weisheit – das ist ja der «Gral» – von dieser Burg ausgeht. Und wenn er hinweisen wollte auf das, was dieser neuen Weisheit feindlich ist, so wies er hin auf ein anderes Gebiet, auf jenes Gebiet, worinnen alle die Wesenheiten und Kräfte hausten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, an den tot gewordenen Teil des menschlichen Leibes und den unbewußt gewordenen Teil der menschlichen Seele heranzukommen, wurde bezeichnet mit «Chastelmarveille». [4]

Zitate:

[1]  GA 121, Seite 132   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[2]  GA 144, Seite 62f   (Ausgabe 1960, 84 Seiten)
[3]  GA 144, Seite 66   (Ausgabe 1960, 84 Seiten)
[4]  GA 144, Seite 69   (Ausgabe 1960, 84 Seiten)

Quellen:

GA 121:  Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910)
GA 144:  Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums (1913)