Baum des Lebens

Da, wo es mit Bezug auf das Paradiesesleben heißt: Der göttliche Geist beschloß, daß der Mensch, nachdem er sich dieses oder jenes angeeignet hat, zum Beispiel die Urteilsfähigkeit über Gut und Böse, nicht auch erhalten solle einen Einblick in die Kräfte des Lebens.– Da ist die Stelle, wo in der Bibel aufmerksam gemacht wird, daß der Mensch nicht mit ansehen soll die Wiederbelebung seines Wesens während seines physischen Erdendaseins. Aber in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt schaut der Mensch an, wie die Kräfte aus der Sternenwelt auf ihn, auf seine Wesenheit wirken, wie sie ihn nach und nach wieder aufbauen. [1]

Daß die Begriffe unvollkommen sind, das rührt davon her, daß der Mensch in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit recht wenig tief in die Realitäten eindringt, daß der Mensch eigentlich nur an der Oberfläche der Wesenheiten haftet. Würde er tiefer gelangen, so würde er, indem er sich den Begriff des Wolfes bildet, in seiner Seele nicht nur haben den abstrakten Begriff, sondern er würde den Gemütszustand haben, der diesem Begriffe entspricht; er würde das durchmachen, was das Wolfsdasein ist. Er würde die Blutgierigkeit des Wolfes fühlen und auch fühlen die Geduld des Lammes. Wenn das heute nicht so ist, so rührt das davon her, daß der Mensch, nachdem die luziferischen Einflüsse stattgefunden hatten, abgehalten wurde von den Göttern, zu der Erkenntnis auch noch das Leben zu haben. Er sollte nicht essen von dem Baume des Lebens. Er hat daher also nur die Erkenntnis und kann nicht das Wirkliche des Lebens nachleben. Das kann er nur dann, wenn er in okkulter Weise eindringt in dieses Gebiet. Dann hat er also nicht nur den abstrakten Begriff, sondern dann lebt er in dem, was wir mit den Ausdrücken «die Blutgier des Wolfes», «die Geduld des Lammes» bezeichnen. [2]

Wenn wir an jene Stelle der Bhagavad Gita kommen (15. Gesang) wo Krishna dem Arjuna offenbart, welches die Natur des Avayatabaumes ist, des Feigenbaumes, indem er ihm sagt, daß dieser Baum wurzelaufwärts und zweigabwärts gerichtet ist, und wo Krishna weiter sagt, daß die einzelnen Blätter dieses Baumes die Blätter des Vedabuches sind, die zusammen das Vedawissen geben. Das eigene Gehirn kann kein Mensch sehen, wenn er beobachtet. Kein Mensch kann auch sein eigenes Rückenmark sehen. Diese Unmöglichkeit hört auf, sobald man im Ätherleib betrachtet. Da tritt ein neues Objekt auf, das man sonst nicht sieht: das eigene Nervensystem nimmt man wahr. Aber man nimmt es allerdings nicht etwa so wahr, wie es der heutige Anatom wahrnimmt. Jetzt schaut man nach aufwärts und sieht, wie sich die Nerven, die in alle Organe gehen, nach oben im Gehirn zusammensammeln. Das gibt das Gefühl: Das ist ein Baum, der nach oben seine Wurzeln hat, nach aufwärts gehend, und der seine Zweige in alle Glieder hinunterstreckt. Aber das wird in der Tat nicht so empfunden, daß es so klein ist, wie wir sind innerhalb der Haut, sondern das wird wie der mächtige Weltenbaum empfunden: die Wurzeln gehen weit hinaus in die Raumesweiten und die Zweige gehen nach unten. [3]

Es wurde den Menschen entzogen der Genuß vom «Baume des Lebens». Das heißt es wurde ihnen entzogen, was frei, willkürlich durchdrungen hätte den Gedankenäther (Ton- oder chemischer Äther) und den Sinnes-(Lebens-)äther. [4]

Für denjenigen, der in den höheren Welten zu schauen vermag, drückt sich alles dasjenige, was zunächst ein innerer Entwickelungszustand ist, auch auf den höheren Planen, zuerst auf dem astralen Plan, als ein Bild aus. Wenn nun der Mensch den fünften Grad der Einweihung erlangt hat, dann sieht er immerzu ein Bild auf dem astralen Plan das er früher nicht gesehen hat, nämlich das Bild eines sich verästelnden weißen Baumes. Von dem, der es erreicht hat, wird gesagt, daß er unter dem Lebensbaume saß. Dieser Bodhibaum (Buddhas) ist nichts anderes als das astrale Spiegelbild des menschlichen Nervensystems. Der Mensch, der seinen Blick nach innen zu richten vermag durch die Einweihung, der sieht (wie) in die astrale Außenwelt sein Innenleben bis auf das Körperliche hineingespiegelt. [5] Der Christus brachte den Menschen die Kraft vom «Baume des Lebens», indem er seinen physischen Leib hingab, in den hineingeheimnißt waren Vererbungskräfte, die bis zu Adam zurückführten, und mit dem verbunden waren ätherische Kräfte, die noch nicht mit der Vererbung zusammenhingen und noch nicht den Todeskeim in sich trugen. Es waren dies ätherische Kräfte, die aus dem Ätherleibe des Adam stammten, als er noch im Paradiese war. Wie kann nun in uns wieder werden der Baum des Todes zum Baum des Lebens? Alles dasjenige, was dem Menschen an Irdischem anhaftet als Triebe und Leidenschaften, muß von ihm überwunden werden. Keusch und rein, wie die Pflanze, muß der Mensch werden. Und wie die Pflanze in ihrer Keuschheit die Kohlensäure in ihren Säftestrom aufnimmt und zu ihrem Leben nötig hat, so muß auch der Mensch in Zukunft sich dahin entwickeln, daß ihm die Kohlensäure nicht mehr schädlich ist, ja ihm sogar das Leben bringt, das höhere Leben. Hat sich diese Umwandlung vollzogen, dann hat der Mensch den «Baum des Lebens» in sich eingepflanzt und die Kraft in sich, den «Stein der Weisen» zu erzeugen. Ähnlich wie die Pflanze, die ihren Leib aus dem Kohlenstoff der aus der Luft eingeatmeten Kohlensäure aufbaut und Sauerstoff abgibt, wird der Mensch dahin gelangen, die Kohlensäure in seinem Blut zurückzuverwandeln in kohlensaure Salze, um daraus seinen Leib zu gestalten und durch den freiwerdenden Sauerstoff aus eigener Kraft das blaue Blut in rotes Blut zu verwandeln. Bei dieser Umwandlung des Blutes, die sich im Herzen vollziehen wird, lösen sich die feinen physischen Bestandteile, die sich bildenden kohlensauren Salze auf und gehen in die Ätherform über; es entsteht eine Ätherströmung, die direkt vom Herzen nach dem Kopfe geht (vergleiche: Ätherisation des Blutes). Und aus diesem verätherisierten Blutstrom, der für die weitere Entwickelung des Menschen von großer Bedeutung ist und der Entfaltung des höheren Lebens dient, erkraftet sich von neuem wieder der Form-Kraftleib (Phantom). In Zukunft wird so wieder allmählich eine Rückbildung des physischen Leibes aus der Verhärtung in seine ursprüngliche Beweglichkeit stattfinden können, die zugleich mit dieser Neubelebung des Form-Kräfteleibes vor sich gehen wird, der dann mehr und mehr nur noch eine Anziehungskraft haben wird zu den aus der Verwandelung hervorgegangenen feinsten mineralischen Substanzen. Die Keime dieser Kräfte trägt heute jeder Mensch in sich, und es ist dem Menschen anheimgestellt, sie zu entwickeln, ja sogar bewußt den Weg voranzugehen, um den Aufstieg zu seiner höheren Entwickelung dadurch abzukürzen. Dieser Prozeß, nämlich die Umwandlung des physischen Leibes durch die Neubelebung und Erkraftung des Form-Kraftleibes (des obigen Phantoms), ist eigentlich die Erzeugung des «Steines der Weisen». Dieser ist also der umgewandelte Leib, der durch den Form-Kraftleib hell und leuchtend wird wie der Diamant, zugleich auch weich und beweglich. We.55ffDie Erkenntnis des Steines der Weisen war schon einmal viel verbreiteter als (sie es) heute ist, und zwar schon zu einer gewissen Zeit der atlantischen Bevölkerung. Da war wirklich die Möglichkeit, den Tod zu überwinden, etwas, was gang und gäbe war. Die Überwindung des Todes in der atlantischen Zeit ruht natürlich im Gedächtnisse der Individualitäten, ohne daß sie es wissen. Es sind heute viele Menschen wiedergeboren, die in einer früheren Inkarnation jene Zeit durchgemacht haben, und die durch ihr eigenes Gedächtnis auf solche Erkenntnisse hingeführt werden. [6] (Siehe auch: Baum der Erkenntnis).

Zitate:

[1]  GA 141, Seite 73f   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[2]  GA 155, Seite 45   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[3]  GA 142, Seite 92f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[4]  GA 114, Seite 157   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[5]  GA 94, Seite 211   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[6]  GA 93, Seite 109f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)

Quellen:

GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 142:  Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/1913)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)