Chaos

Der Grieche meinte, wenn er von Chaos sprach, die Gesetzmäßigkeit, von der man eine Ahnung bekommt, wenn man in den Traum sich vertieft, oder die man voraussetzen muß im äußersten Umkreise dieses Weltenalls. Ja, er sagte, das Chaos beginnt da, wo die Naturgesetzmäßigkeit nicht mehr zu finden ist, wo eine andere Gesetzmäßigkeit herrscht. Aus dem Chaos heraus ist die Welt geboren für den Griechen. [1]

Sie haben sich vorgestellt: Es gibt etwas, was aller Weltgestaltung zugrunde liegt, aus dem sich alle bestimmten Gestalten erheben, das man aber nur erreichen kann, wenn man aus der Sinnenwelt heraus in den Schlafzustand, in einen traumhaften Zustand kommt. Das haben die Griechen genannt das Chaos. Nur noch ins Mittelalter ragt hinein irgend etwas von einer Kenntnis dessen, was so als übersinnliche, kaum schon Materie zu nennende äußere Substanz allen äußeren Substanzen zugrunde liegt, indem im Mittelalter gesprochen wird von der sogenannten Quintessenz, neben den vier Elementen. [2] (Siehe auch: Akasha).

Das Chaos kann nur so charakterisiert werden, daß man sagt: Wenn der Mensch in einen Bewußtseinszustand kommt, wo das Erleben der Schwere, des irdischen Maßes, gerade aufhört, und die Dinge anfangen, halb leicht zu werden, aber noch nicht hinaus wollen in das Weltenall, sondern noch sich in der Horizontalen, im Gleichgewicht erhalten, wenn die festen Grenzen verschweben, wenn also noch mit dem physischen Leib, aber schon mit der Seelenkonstitution des Träumens das webende Unbestimmte der Welt geschaut wird, dann schaut man das Chaos. Und der Traum ist bloß das schattenhafte Heranschweben des Chaos an den Menschen. In Griechenland noch hatte man die Empfindung: Schön machen kann man eigentlich die physische Welt nicht. Schön machen kann man nur dasjenige, was chaotisch ist. Wenn man das Chaos in den Kosmos wandelt, dann entsteht die Schönheit. Daher sind Chaos und Kosmos Wechselbegriffe. Man kann den Kosmos – das bedeutet eigentlich die schöne Welt – nicht aus den irdischen Dingen herstellen, sondern nur aus dem Chaos, indem man das Chaos formt. Und dasjenige was man mit irdischen Dingen macht, ist bloß ein Nachahmen im Stoffe des geformten Chaos. [3]

So wie der Mensch hier ist, nimmt auch seine Seele und sein Geist teil an dem, was zurückgeblieben ist vom Chaos. Nur ein Teil hat sich herausgegliedert aus dem Chaos. Das Chaos ist um uns herum da. Es wirkt in allen Wesenheiten und ist zur gleichen Zeit mit ein Grund der fortwährenden, fortwirkenden Fruchtbarkeit. Das Chaos wirkt in dem Dünger, in allem Ausgeworfenen, und ohne daß Sie das Chaos hineinmischen in den Kosmos zu irgendeiner Zeit, ist niemals eine Fortentwickelung möglich. [4] Dasjenige, was hinter dem Physischen steht, aus dem heraus das Physische geboren ist, das Chaos – alle haben es gekannt. Ob die Griechen es Chaos, ob die indische Philosophie von dem Akasha spricht, es ist immer dasselbe. Wer es im geistigen Sinne durchdringt, der vernimmt, wie es durchklungen ist von der Sphärenharmonie. [5]

Der Quarz läßt sich nicht so weit bringen, daß der Kosmos etwas machen kann aus seinen Kräften. Daher lebt er nicht. Würde man den Quarz so weit pulverisieren, daß er in den Teilen nicht mehr die Tendenz hätte, sich in dem Teil nach eigenen Kräften zu richten, würde ein Lebendig-Kosmisches aus dem Quarz herauswachsen. Das ist der Fall bei der Samenbildung. Da wird die Materie so weit herausgetrieben, daß der Kosmos mit seinen Ätherkräften eingreifen kann. Man muß die Welt anschauen als ein fortwährendes Hineinkommen ins Chaos und wieder Herauskommen aus dem Chaos. Das, was im Quarz ist, ist auch einmal aus dem Kosmos hervorgegangen, aber es ist geblieben, es ist ahrimanisch geworden. Es exponiert sich nicht mehr den kosmischen Kräften. Sobald es ins Lebendige hineingeht, muß wieder durch das Chaos hindurchgegangen werden. [6]

Zitate:

[1]  GA 225, Seite 198f   (Ausgabe 1990, 192 Seiten)
[2]  GA 227, Seite 122   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[3]  GA 228, Seite 48   (Ausgabe 1964, 155 Seiten)
[4]  GA 284, Seite 84f   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[5]  GA 284, Seite 87   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[6]  GA 316, Seite 155   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)

Quellen:

GA 225:  Drei Perspektiven der Anthroposophie. Kulturphänomene, geisteswissenschaftlich betrachtet (1923)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 228:  Initiationswissenschaft und Sternenerkenntnis. Der Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vom Gesichtspunkt der Bewußtseinsentwickelung (1923)
GA 284:  Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)