Traum

Derjenige, der sich aufklären will über die Traumerlebnisse, so daß diese Aufklärung ihm etwas geben kann zum Eindringen in die okkulten Welten, der muß gerade auf diesem Gebiete die allergrößte Sorgfalt verwenden. Er muß sich daran gewöhnen, sorgfältig allen verborgenen Wegen nachzugehen, und es wird sich ihm zeigen, wie der Traum in den meisten Fällen nichts anderes gibt, als das, was in der äußeren Welt erfahren worden ist. Aber gerade derjenige, der sorgfältiger und immer sorgfältiger wird in der Durchforschung seines Traumlebens – und das sollte im Grunde jeder angehende Okkultist –, der wird dennoch nach und nach bemerken, daß aus dem Gewebe des Traumes ihm Dinge hervorquillen, von denen er ganz und gar nicht in seinem bisherigen Leben, in dem Leben dieser Inkarnation äußerlich hat erfahren können. [1] Die Gefühle sind im Grunde genommen nur das wache Parallelstück zu dem, was im Traume im Bilde, in der instinktiven Imagination, auftritt. [2]

Die Bilder, die wir in den Träumen haben, die haben wir nur aus dem Grunde, weil wir ungewohnt sind, den Traum mit der Zukunft zusammenzubringen; wir werfen wie ein Kleid über einen Leib die Reminiszenzen aus der Vergangenheit darüber. Das, was eigentlich im Traume lebt, weist immer auf die Zukunft hin. [3]

Was im Traume wirkt, was darinnen tätig ist, das ist durchaus das Wesen in uns, das dasjenige in uns umfaßt, was wir durch die Pforte des Todes tragen. Die Kräfte unserer ewigen Seele wirken wirklich prophetisch im Traume. Allein, was als Bilder zum Vorschein kommt, dasjenige, worin der Traum sich kleidet, das ist Reminiszenz aus der Vergangenheit. Man kann sagen: Der Traum wird seiner eigenen Natur nach dadurch gefälscht, daß der Mensch nicht imstande ist, wirklich mit dem zu arbeiten, was im Traume als seine Wesenheit wirkt. Er kleidet das, was ihm noch nicht zum Bewußtsein kommen kann, in die Bilder, die ihm sein Leib, die ihm gewisse Sinnesanklänge, gewisse Erinnerungs-Reminiszenzen aus dem vergangenen Leben geben. Das alles ist eine Verfälschung des Traumes, ist eine Maske des Traumes. Was in uns lebt als Zustand während des Träumens, während des Schlafens, das hört nicht auf, wenn wir wachen; diese Zustände setzen sich durchaus in unser waches Tagesleben hinein fort; sie sind nur übertönt durch das, was waches Tagesleben ist. Dieses wache Tagesleben, das im Vorstellen abläuft, ist gewissermaßen ein helles Licht, welches das übertönt, was mehr unterbewußt bleibt, was unter dem Strom dieses wachen Tagesbewußtseins verläuft. Aber während wir unser waches Tagesbewußtsein in unserer Seele dahinströmen fühlen, während wir das, was durch dieses Dahinströmen geht, erleben, strömt unterbewußt, dunkel in uns ein fortdauerndes, ein das ganze Wachleben durchdringendes Traumleben weiter und strömt ein Schlafesleben weiter. Wir träumen, indem wir zu den klaren, hellen Vorstellungen hinzu Gefühle, Affekte, Leidenschaften entwickeln.

Auch in Gefühlen, Affekten, Leidenschaften lebt, was im Vorstellungsleben lebt. Aber es lebt so in ihm, wie die Vorstellungen im Traume leben. Nur kommen uns, wenn wir ein Gefühl, eine Leidenschaft, einen Affekt entwickeln, sei es ein guter, sei es ein schlimmer, nicht die Bilder, die aber zugrunde liegen, wie sie dem Traum zugrunde liegen, zum Bewußtsein, sondern es kommen uns das Gefühl, der Affekt, die Leidenschaft zum Traumbewußtsein. [4]

Nun zeigt die Geisteswissenschaft, daß sie mit dem, was sie schauendes Bewußtsein nennt, hineinblickt in die übersinnliche Welt. Mit dem, was sie auf den ersten beiden Stufen imaginative und inspirierte Erkenntnis nennt, dringt sie in diejenige Welt hinunter, die für das gewöhnliche Bewußtsein nur in der auf- und abflutenden, chaotischen, man möchte sagen, in dem Sinne, wie ich es eben ausgeführt habe, gefälschten Traumeswelt vorliegt. In der imaginativen übersinnlichen Erkenntnis, in der inspirierten übersinnlichen Erkenntnis hebt die Geisteswissenschaft aus diesen Untergründen die wahre Gestalt desjenigen, was da lebt und webt und wallt, wirklich herauf. Und in der intuitiven Erkenntnis wird heraufgehoben, was sonst verschlafen wird, was vollständig mit der Dunkelheit des Bewußtseins zugedeckt wird. [5]

Kann man das Träumen verfolgen, dann zeigt sich immer, daß an jedem Traume beteiligt ist das menschliche Leibesinnere. Irgendwie sind es immer Leibesvorgänge, die mit dem Träumen zusammenhängen, aber Leibesvorgänge, die sich so äußern, daß sie in einer gewissen Weise hinausgehen über das ruhige Schlafesleben, sich hineindrängen in das Seelenleben und in irgendeiner bildlichen Unklarheit zum Ausdrucke kommen. Dieses Träumen so nehmen zu wollen, wie es sich in seinen Bildern darstellt, das kann dem Geistesforscher ja nicht einfallen. [6] Nun kann man da beobachten, wie herunterkommt gewissermaßen der Mensch mit seinem seelischen Wesen, herein in seinen ätherischen und physischen Leib. Wenn nun das geschieht, daß durch irgendeine Abnormität – trotzdem sie sich räumlich decken, kann das sein – zuerst ergriffen wird vor dem Raumesleib der Ätherleib, dann kommt der Mensch nicht gleich ganz in seinen Leib hinein. Er taucht nur in den Ätherleib unter. Allerdings nimmt der Ätherleib dann in Anspruch die flüssigen Bestandteile des Leibes, es bleibt dann das Seelische nur aus den festen Bestandteilen wirklich draußen. Aber der Moment, wo der Mensch noch nicht voll ergriffen hat den physischen Leib, sondern nur ergriffen hat den Ätherleib, der Moment ist derjenige, wo sich eben das Seelische, das herüberkommt aus dem Schlafzustand, nur teilweise des physischen und Ätherleibes bedienen kann, und da entsteht das Träumen. Das völlige Wachen entsteht erst dann, wenn voll der physische Leib ergriffen wird, das heißt alle Willensorgane und namentlich die Sinnesorgane voll ergriffen werden. Es ist also ein teilweises Ergreifen des physischen Leibes, wenn das Träumen auftritt. Aber gerade wenn man in übersinnlicher Forschung dieses Herüberkommen durch das Träumen beobachtet – und man kann ja dieses Träumen ganz besonders beobachten durch die imaginative Erkenntnis; sie ist selbst kein Träumen, sie ist eine vollbewußtere Erkenntnis als die gewöhnliche Tageserkenntnis des normalen Bewußtseins, aber man kann durch sie ganz besonders dasjenige, was eigentlich objektiv vorgeht im Traum, beobachten –, da kann man beobachten, wie das menschliche Seelenwesen ergreift den physischen Apparat, weil die Seele im gegenwärtigen Menschenleben, wenn sie von dem physischen Apparat entfernt ist, eben nicht stark genug ist, um die Denktätigkeit auszuüben. Sie braucht gewissermaßen als eine Unterstützung, um die Denktätigkeit auszuüben, das physische Werkzeug. [7]

Zitate:

[1]  GA 146, Seite 44   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[2]  GA 77a, Seite 126   (Ausgabe 1997, 262 Seiten)
[3]  GA 177, Seite 126   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[4]  GA 72, Seite 156ff   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)
[5]  GA 72, Seite 159f   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)
[6]  GA 72, Seite 326   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)
[7]  GA 82, Seite 157f   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)

Quellen:

GA 72:  Freiheit – Unsterblichkeit – Soziales Leben. Vom Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblichen des Menschen (1917-1918)
GA 77a:  Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben. Darmstädter Hochschulkurs (1921)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 146:  Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita (1913)
GA 177:  Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (1917)