Schönheit

Dasjenige, was als Schönheit aufgeprägt wird dem Wesen, das stammt aus dem Kosmos; das ist dasjenige, was uns enthüllt in dem einzelnen Wesen, wie der ganze Kosmos in diesem Wesen wirkt. Dazu muß man allerdings empfinden, wie dieser Kosmos in der menschlichen Gestalt zum Beispiel zum Ausdruck kommt. [1] Dasjenige, was schön ist, scheint, das heißt trägt sein Inneres an die Oberfläche. Dasjenige, was wir mit den Sinnen sehen, braucht uns nicht zu scheinen, das ist da. Das, was uns scheint, was also im Sinnlichen ausstrahlt, sein Wesen im Sinnlichen ankündigt, ist das Geistige. [2]

Eine gewisse Berechtigung hat schon der Satz: Über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Man hat eben für irgendeine Sache Geschmack oder hat ihn nicht, hat ihn schon oder hat ihn noch nicht. Woher kommt dieses? Sehen Sie, das kommt davon her, daß bei aller Wahrnehmung desjenigen, auf das wir die Idee des Schönen anwenden, eigentlich ein doppeltes Wahrnehmen vorhanden ist. Sie nehmen einen Gegenstand, den Sie so betrachten, wahr, erstens indem er eine gewisse Wirkung auf Sie ausübt, auf physischen und Ätherleib. Dies ist die eine Strömung, möchte ich sagen, die von dem schönen Objekt zu Ihnen kommt, die Strömung, die auf den physischen und auf den Ätherleib geht, gleichgültig, ob Sie eine Malerei, eine Skulptur oder irgend etwas vor sich haben, die Wirkung geschieht auf physischen und Ätherleib. Außerdem erleben Sie im Ich und im Astralleibe dasjenige mit, was draußen ist. Sie erleben tatsächlich eine Doppelwahrnehmung. Und je nachdem Sie in der Lage sind, das eine mit dem anderen in Harmonie oder Disharmonie zu bringen, finden Sie das betreffende Objekt schön oder häßlich. Das Schöne ist unter allen Umständen darin gelegen, daß auf der einen Seite Ihr Ich und Astralleib, auf der anderen Seite Ihr physischer und Ätherleib zusammenschwingen, miteinander in Einklang kommen. Es muß ein innerer Prozeß, ein innerer Vorgang stattfinden, damit Sie etwas als schön erleben können. [3] Die Schönheit nimmt ihren Anfang während der Mondenent-wickelung, setzt sich während der Erdentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung. [4]

Dadurch aber, daß ein Wesen gestaltet wird von der Peripherie des Weltenalls herein, dadurch wird ihm aufgedrückt dasjenige, was nach der Urbedeutung dieses Wortes das Wesen der «Schönheit» ist. Schönheit ist nämlich der Abdruck des Kosmos, mit Hilfe des Ätherleibes, in einem physischen Erdenwesen. [5] Wenn wir ein richtiges Gefühl für Schönheit entwickeln, stecken wir in der richtigen Weise in unserem ätherischen Leibe darinnen. Wenn wir aber, sei es bildhauerisch, sei es malerisch, sei es dramatisch, also durch Kunst einen Menschen darstellen, dann streben wir ja danach, etwas sich selbst Genügsames zu schaffen, etwas, was in sich abgeschlossen ist, was gewissermaßen eine ganze Welt in sich trägt – wie der Mensch in seinem ätherischen Leibe eigentlich die ganze Welt in sich trägt, denn er zieht die ätherischen Kräfte aus der ganzen Welt zusammen (siehe: Ätherleib – Bildung des Ätherleibes), um sich seinen ätherischen Leib innerhalb des irdischen Daseins zu gestalten. Keinen Sinn für Schönheit haben, heißt mißachten, nicht anerkennen den ätherischen Leib. [6]

Die Kleidung ist nicht aus dem Befriedigen der Bedürfnisse des Menschen entstanden, sondern aus der Sehnsucht, sich zu schmücken. Alles das, was sich der Wilde anzieht, oder namentlich, was er sich nicht anzieht, was er sich nur aufmalt auf den Körper, was ja ebenfalls gerade nicht zu dem Nützlichen gerechnet werden kann: alles das zeigt, daß man nicht von dem Logisch-Wahren oder dem Logisch-Richtigen, nicht von dem Nützlichen, sondern von dem Schmückenden, von dem Schönen eigentlich in dem Sinne, wie es verstanden wird, ausgegangen ist. Das sieht man im Grunde eigentlich auch bei den Kindern. Sie streben tatsächlich zu dem, was für sie weder der Ausdruck des Guten auf der einen Seite noch des Nützlichen auf der anderen Seite, sondern das Schöne ist. [7]

Zitate:

[1]  GA 82, Seite 89   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[2]  GA 276, Seite 92f   (Ausgabe 1961, 160 Seiten)
[3]  GA 176, Seite 112f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[4]  GA 170, Seite 74   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[5]  GA 82, Seite 57   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[6]  GA 220, Seite 103f   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[7]  GA 303, Seite 52   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)

Quellen:

GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)
GA 276:  Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheins – Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung (1923)
GA 303:  Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik (1921/1922)