Bodhisattva

(Barlaam und Josaphat ist eine Legende des Mittelalters über das Leben des Gautama Buddha). So kennt die europäische Geheimlehre nicht nur den «Bodhisattva», sondern sie kennt, wenn sie den Namen Josaphat entziffern kann, auch den Begriff des Wortes. [1] So blickte der europäische Kenner der Initiation immer hinein in der Zeiten Wende, zu den wahren Gestalten der großen Lehrer aufschauend. Von Zaratas, von Buddha, von Skythianos, von ihnen wußte er, daß durch sie einströmte in die Kultur der Zukunft diejenige Weisheit, die immerdar von den Bodhisattvas gekommen ist und die verwendet werden soll, um zu begreifen das würdigste Objekt alles Verstehens, den Christus, der ein von den Bodhisattvas grundverschiedenes Wesen ist, den man nur verstehen kann, wenn man alle Weisheit der Bodhisattvas zusammennimmt. Daher ist in den Geistesweisheiten der Europäer außer allem andern auch ein synthetischer Zusammenschluß aller Lehren enthalten, die der Welt gegeben worden sind durch die drei großen Schüler des Manes und den Manes selbst. Wenn man auch nicht verstanden hat den Manes, es wird eine Zeit kommen, wo die europäische Kultur sich so gestalten wird, daß man wieder einen Sinn verbinden wird mit den Namen Skythianos, Buddha und Zarathustra. Sie werden den Menschen das Lehrmaterial geben, um den Christus zu verstehen. Immer besser und besser werden die Menschen durch sie den Christus verstehen. Angefangen hat das Mittelalter allerdings mit einer sonderbaren Verehrung und Anbetung gegenüber dem Skythianos, gegenüber dem Buddha und gegenüber dem Zarathustra, als ihre Namen ein wenig durchgesickert waren; angefangen hat es damit, daß derjenige, der sich in gewissen christlichen Religionsgemeinschaften als ein echter Christ bekennen wollte, die Formel sprechen mußte:«Ich verfluche Skythianos, ich verfluche Buddha, ich verfluche Zaratas!» Das war eine über viele Gebiete des christlichen Zeitalters verbreitete Formel, durch die man sich als rechter Christ bekannte. Was man aber damals glaubte verfluchen zu müssen, das wird das Kollegium der Lehrer sein, die der Menschheit den Christus am allerbesten verständlich machen werden, zu denen die Menschheit emporblicken wird als zu den großen Bodhisattvas, durch die der Christus wird begriffen werden. Wir beginnen damit, daß wir zunächst das Elementare, welches wir von ihnen lernen können, der Kultur einverleiben. Von dem Buddha hat das Christentum hinzuzulernen die Lehre von der Wiederverkörperung und dem Karma. So wird man anfangen den Skythianos zu verstehen, der nicht nur die Wiederverkörperung des Menschen zu lehren hat, sondern der das zu lehren hat, was von Ewigkeit zu Ewigkeit waltet. [2]

Es sind im Laufe der Evolution immer neue Fähigkeiten hinzugekommen, und jedesmal, wenn die Menschheit reif wurde, mit einer neuen Gabe ausgestattet zu werden, mußte die neue Fähigkeit einmal zuerst in einem großen Menschen inkarniert werden. In ihm manifestierte sie sich zuerst, und er legte dann die Keime in die Seelen, die da bereit waren. [3] In dem Wortgebrauch der vorder-asiatischen Sprachen würde man von einer solchen Wesenheit wie einem auf der Erde verkörperten Bodhisattva gesagt haben: Sie ist «erfüllt mit dem heiligen Geist». [4] Einer, der die ganzen irdischen Erfahrungen aufgenommen hat, so daß er von jedem Dinge weiß, wie es verwertet werden kann und so ein Schöpfer geworden ist, wird ein Bodhisattva genannt, das heißt ein Mensch, der Bodhi, die Buddhi der Erde, genugsam in sich aufgenommen hat. Dann ist er reif, aus den innersten Impulsen heraus zu wirken. Die Weisen der Erde sind noch nicht Bodhisattvas. Auch für einen Weisen gibt es noch immer Dinge, in denen er noch nicht vermag sich zurechtzufinden. Erst wenn man das ganze Wissen der Erde in sich aufgenommen hat, um schaffen zu können, ist man ein Bodhisattva. Buddha, Zarathustra zum Beispiel waren Bodhisattvas. Diese können die fortdauernde Entwickelung regeln; etwas Fremdes aber können sie nicht (in die Entwickelung) hineinbringen. [5] Wir sprechen von Verkörperungen von Bodhisattvas, wenn wir die Namen Skythianos, Zarathustra und Buddha nennen. [6] Diejenigen Persönlichkeiten, die bis in ihren Ätherleib hinein beseelt sind, die einen Archangelos in sich tragen in der nachatlantischen Zeit, die nennt man Bodhisattva. [7]

Die individuelle Führung der Menschen unterliegt den Angeloi. Wenn nun ein Mensch vom Bodhisattva zum Buddha wird, dann wird sozusagen sein Angelos frei. Solche Angeloi sind es dann, die nach Erfüllung ihrer Mission aufsteigen in die Reiche der Archangeloi. [8] Solche Individualitäten, die zwar im physischen Leibe verkörpert waren, die aber Umgang pflegen konnten mit höheren Individualitäten, die nicht physisch verkörpert sind, gab es immer. Bevor die Menschen zum Beispiel die Gabe des logischen Denkens erlangt haben, wodurch sie selbst heute logisch denken können, mußten sie hinhorchen auf gewisse Lehrer. Diese Lehrer konnten auch nicht durch gewisse Fähigkeiten, die man im physischen Leibe entwickelt, logisch denken, sondern nur dadurch, daß sie in den Mysterien Umgang hatten mit göttlich-geistigen Wesenheiten, die in höheren Regionen sind. Eine gewisse Kategorie solcher Wesen, die zwar im physischen Leibe verkörpert sind, aber Umgang haben mit göttlich-geistigen Wesenheiten, damit sie das heruntertragen, was sie von jenen lernen, und es den Menschen mitteilen können, das sind die Bodhisattvas. Sie sind also in einem Menschenleib verkörperte Wesenheiten, die heranreichen mit ihren Fähigkeiten bis zu einem Verkehr mit den göttlich-geistigen Wesenheiten. [9] Ein Bodhisattva verkörperte dasjenige, was er als geistige Wesenheit war, nicht vollständig. Würde man einen solchen Leib, der von einem Bodhisattva beseelt war, hellseherisch angesehen haben, so würde man gesehen haben, daß er nur teilweise die Wesenheit eines Bodhisattva umschloß, die als ätherischer Leib weit hinausragte über die menschliche Hülle und in dieser Art ihre Verbindung mit dem Geistigen hatte, das sie nie ganz verließ. So verließ der Bodhisattva die geistige Welt nie vollständig. Er lebte zur gleichen Zeit in einem Geistleibe und in einem physischen Leibe. [10]

Man kann von einer immer und immer wiederkehrenden Verkörperung des Bodhisattva sprechen, muß aber wissen, daß der Bodhisattva hinter all den Menschen, in denen er sich verkörpert, gestanden hat als Teil derjenigen Wesenheit, die selber die personifizierte Allweisheit unserer Welt ist. So also blicken wir auf das Weisheitselement, das in älteren Zeiten aus den luziferischen Welten heraus der Menschheit sich mitteilte. Wenn wir auf dieses schauen, schauen wir auf die Bodhisattvas. [11]

Jener Bodhisattva, der fünf bis sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zum Buddha wurde, ist einer von den zwölf Boddhisattvas, die alle eine bestimmte Mission haben. Wie dieser eine die Mission hatte, die Lehre von Mitleid und Liebe auf die Erde zu bringen, so haben auch die anderen ihre Missionen, die in den verschiedenen Erdenepochen erfüllt werden müssen. Inmitten der zwölf Bodhisattvas sitzt ein dreizehntes Wesen, das wir nicht in demselben Sinne einen Lehrer nennen können wie die zwölf Bodhisattvas, sondern das wir nennen müssen dasjenige Wesen, von dem die Weisheit selber substantiell ausströmt. Dieser Dreizehnte ist derjenige, den die alten Rishis nannten Vishva Karman, den Zarathustra nannte Ahura Mazdao, das ist der, den wir den Christus nennen. Derjenige, der fünf bis sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung vom Bodhisattva zum Buddha geworden ist, er wurde geschmückt mit den Kräften des Vishva Karman. Derjenige, der als nathanischer Jesus den Christus in sich aufgenommen hat, er wurde nicht bloß «geschmückt», sondern «gesalbt», das heißt durchdrungen, durchtränkt von dem Christus. [12]

Nun ist aber die Menschheit, nachdem sie reif war, den Christus unter sich zu haben, noch lange nicht reif, alles dasjenige zu erkennen, zu fühlen, zu wollen, was der Christus ist. Und ebensoviele Bodhisattvas als notwendig waren, um die Menschen für den Christus vorzubereiten, ebenso viele sind notwendig, um das, was durch den Christus in die Menschheit einfließen soll, in die Menschheit hinauszuführen. Denn in dem Christus ist so viel, daß die Kräfte und Fähigkeiten der Menschen immer größere werden müssen, um ihn ganz zu verstehen. Und erst wenn der letzte zum Christus gehörige Bodhisattva seine Arbeit getan haben wird, wird die Menschheit empfinden, was der Christus ist; dann wird sie von einem Willen beseelt sein, in dem der Christus selber lebt. Der Christus wird durch das Denken, Fühlen und Wollen in die menschlichen Wesen einziehen, und die Menschheit wird die äußere Ausprägung des Christus auf der Erde sein. [13]

Jedesmal wenn in der Zukunft ein Bodhisattva erscheinen wird, zum Beispiel nach 3000 Jahren (Maitreya Buddha und sein Nachfolger) – dann wird man wiederum den Christus, den alles überstrahlenden, um einiges besser verstehen. So wird die Menschheit immer weiser werden und wird den Christus immer besser erkennen. Sie wird ihn aber erst dann ganz verstehen, wenn der letzte der Bodhisattvas seinen Dienst verrichtet und die Lehre gebracht haben wird, die notwendig ist, um uns zu befähigen, die tiefste Wesenheit des Erdendaseins, den Christus, zu erfassen. [14]

Solange ein Bodhisattva in seinem physischen Leibe ist, lebt er als Mensch unter Menschen, als geistiger Wohltäter der Menschen. Aber schon hier auf Erden hat er eine besondere Aufgabe, nicht nur die in Leibern Lebenden zu lehren, sondern er lehrt auch die Toten, ja auch sogar Wesenheiten der höheren Hierarchien. Das rührt davon her, weil der Inhalt der irdischen Theosophie nur auf Erden erlangt werden kann, in einem physischen Leibe. Dann kann sie gebraucht werden in der geistigen Welt, aber erworben muß sie werden in einem physischen Leibe. Nur ausnahmsweise können Bodhisattvas andere Wesen nach dem Tode weiterbringen, die schon hier den Funken des geistigen Lebens aufgenommen haben. [15]

Solche Begriffe wie zum Beispiel den der Bodhisattvas hatte man jahrhundertelang nicht in der abendländischen Geistesentwickelung. Erst wenn man sich an ihnen orientiert hat, steigt man in entsprechender Weise hinauf zur Erkenntnis dessen, was der Christus für die Menschheit gewesen ist, sein kann und fortwährend sein wird. [16] (Siehe auch: Nirmanakaja).

Zitate:

[1]  GA 113, Seite 193   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[2]  GA 113, Seite 194f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[3]  GA 118, Seite 220   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)
[4]  GA 114, Seite 124   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[5]  GA 93a, Seite 54f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[6]  GA 113, Seite 191   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[7]  GA 110, Seite 121   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[8]  GA 152, Seite 74   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[9]  GA 114, Seite 44   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[10]  GA 114, Seite 123f   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[11]  GA 113, Seite 185   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[12]  GA 114, Seite 152f   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[13]  GA 116, Seite 34   (Ausgabe 1982, 174 Seiten)
[14]  GA 117, Seite 145   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[15]  GA 140, Seite 323   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[16]  GA 124, Seite 12   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)

Quellen:

GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 116:  Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins (1909/1910)
GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)
GA 118:  Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)