Augustinus

In den ersten Jahrhunderten nach dem Christus-Ereignis sehen wir, wie die christlichen Schriftsteller noch auf Grund mündlich überlieferter Tradition der Apostelschüler arbeiten. Sie legten Wert auf physische Überlieferung. Auf diese allein hätten aber spätere Jahrhunderte nicht bauen können. Vom 6. und 7. Jahrhundert an geschieht es nun, daß besonders hervorragenden christlichen Verkündern einverwoben wurde ein Abbild des Ätherleibes des Jesus von Nazareth. Ein solcher Mensch war Augustinus. Er hatte gewaltige Kämpfe durchzumachen in seiner Jugend. Dann aber wurde in bedeutsamer Weise in ihm wirksam der Impuls des Ätherleibes des Jesus von Nazareth, und da beginnt er erst, aus sich selbst heraus christliche Mystik zu treiben. Wir können seine Schriften eben nur in diesem Lichte verstehen. [1]

In demselben Maße, wie die äußere Wissenschaft beim Menschen wächst, wird das, was eigentlich Weisheit ist, gelähmt. Im Römertum findet man neben einer raffinierten Wissenschaft (auf der einen Seite) in bezug auf das Geistige einen vollen Skeptizismus. Sehen wir uns dagegen einmal eine Persönlichkeit wie Augustinus an; er ist nicht in der Lage, zu etwas anderem zu kommen als zum Zweifeln gegenüber dem, was er kennengelernt hat als griechisch-römische Wissenschaft. Nun tritt ihm das Manichäertum entgegen, das er aber in falscher Gestalt kennenlernt. Er lernt da eine Lehre kennen, die mit alledem rechnet, was durch Zarathustra gelehrt worden war. Seine Seele aber ist noch nicht geeignet, dies alles in sich aufzunehmen, weil die Seele eines damaligen Menschen nicht darauf angelegt war, einen solchen hohen Geistesflug zu unternehmen und hinter der physischen Welt noch überall den Geist zu sehen. Die Wissenschaft, die bis zu den Sternen gedrungen war, verfiel, und selbst wenn diese Wissenschaft zu den Europäern gedrungen wäre, hätte keine Seele sie verstehen können. Die Seele mußte geheftet bleiben an das, was man in der äußeren Sinnenwelt sieht. Eine Hindeutung auf ein Geistiges, das hinter der Sonne steht, hatte Augustinus nicht verstehen können; er hatte den Manichäismus nicht verstanden, weil dort von dem Sinnenschleier gesprochen wird, der über das Geistige gebreitet ist. Glauben konnte er an den Christus, der in den physischen Menschen herabgestiegen ist. Aber Glauben und Wissen hatten sich damals schon ganz und gar gespalten. [2]

Schon bei Augustinus entstand die Seelenempfindung: O, was wird es dann sein, wenn nun dasjenige die ganze Welt ergreift, was aus dem entgöttlichten Intellektualismus, aus dem entgöttlichten Römertum, in die Welt hineinströmt? Die Civitas wird eine furchtbare werden; dieser Civitas der Menschen muß entgegengestellt werden die Civitas Dei, der Gottesstaat. – Und so sehen wir auftauchen ein Interesse, das gerade von den folgenden Zeiten auf religiösem Gebiete mit voller Macht ergriffen wurde, und das ein Licht wirft auf alle späteren religiösen Kämpfe in den Seelen, die gerade diese religiösen Kämpfe am tiefsten erfühlt haben. Es taucht bereits bei Augustinus die Frage auf: Wie retten wir das Moralische gegenüber dem äußerlichen Gesetzeshaften? Wie retten wir die Moral, die gottdurchtränkte Moral, wie retten wir sie? Im Römertum kann sie sich nicht ausbreiten. – Das ist das Streben nach Verinnerlichung, das wir in den Bekenntnissen, den Konfessionen des Augustinus finden, wenn wir sie richtig durchdringen. [3]

Augustinus sagte: Was man heute christliche Religion nennt, ist die wahre Religion immer gewesen, nur daß, was früher die wahre Religion war, heute die christliche Religion genannt wird. Augustinus wußte in seiner Zeit noch, daß das Christentum eine Voraussetzung hat: das was in den alten Mysterien getrieben worden ist. [4] Er sagt (wörtlich): Was man gegenwärtig die christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechtes und als Christus im Fleische erschien, erhielt die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen. [5]

Als Augustinus beim Hinuntersteigen zum physischen Dasein, um sich wiederum zu verkörpern, sich einen neuen Ätherleib bilden wollte, bekam er in seinen Ätherleib eine von diesen Wiederholungen des Ätherleibes des Christus (siehe: Abbilder) einverwoben. So kam er dazu, in sich selbst die Quellen von seiner Lehre über die wahre Form der christlichen Mystik zu finden. [6]

Den griechischen Denkern wird das Verhältnis der Seele zur Welt zum Rätsel; den neueren Denkern das Verhältnis des Ich zur Seele. Bei Augustinus kündigt sich das erst an. [7] Augustinus lebt lange vor dem Hereinbrechen unseres (Bewußtseinsseelen-)Zeitalters; aber er bereitet es vor; er ist der Geist, in dessen Schriften wir, lange vor dem ersten Sonnenaufgang, die erste Morgenröte des Zeitalters finden, das ganz auf die Bewußtseinseele zugeschnitten ist. [8]

Zitate:

[1]  GA 104a, Seite 102   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[2]  GA 104a, Seite 90ff   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[3]  GA 343, Seite 280f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[4]  GA 100, Seite 154   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[5]  GA 131, Seite 13   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[6]  GA 109, Seite 70   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[7]  GA 18, Seite 91   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[8]  GA 145, Seite 130   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)