Wissenschaft

Das, was heute im Umkreis des europäischen Lebens die äußere Wissenschaft genannt wird, ist ein verdorrender Zweig am Geisteshimmel der Menschheit. [1] Durch das, was wir den luziferischen Einfluß nennen, durch das Eingreifen von luziferischen Wesenheiten, lenkte der Mensch seine Gedankenkraft und andere Seelenkräfte, die er sonst nur auf das Erwerben von okkulten Ideen und Begriffen verwendet haben würde, ab auf das Studium solcher Dinge, die nur der physischen Welt angehören. [2] In der modernen Wissenschaft kann man die Ehe zwischen der ägyptischen Erinnerung und dem Arabismus, der auf das Tote gerichtet ist, sehen. [3]

Das religiöse Element vom Mohammedanismus ist abgewehrt worden, das ist durch Kriege bekämpft worden. Aber das geistige Element, das sich nicht mit religiösen Streitigkeiten befaßte, sondern das die alte Wissenschaft fortgepflanzt hat, das ist mit dem Mohammedanismus nach Europa gekommen. Und das, was die Europäer da gelernt haben, das ist bis in die heutige Wissenschaft hineingeflossen. Daher haben wir heute in Europa eigentlich zweierlei in unserer Seele: Wir haben die Religion, die vom Christentum angeregt worden ist, und wir haben die Wissenschaft, die vom Mohammedanismus angeregt worden ist. Und das Christentum konnte sich auch hier nur so entwickeln, daß der Mohammedanismus es wissenschaftlich beeinflußte. [4] Der Fortschritt der Wissenschaft dient der Zerstörung ebenso wie dem Aufbau. Und wenn es nur auf diese Wissenschaft ankäme, sie würde aus denselben Quellen heraus, aus denen sie aufbaut, immer Furchtbareres und Furchtbareres an Zerstörungswerken hervorbringen. Sie hat in sich nicht unmittelbar einen Impuls, der die Menschheit vorwärtsbringt. Diese Wissenschaft – was ist sie? Sie ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Baum, der aus dem Grabe Adams wächst, und die Zeit wird immer näherrücken, wo die Menschen erkennen werden, daß diese Wissenschaft der Baum ist, der aus dem Grabe Adams wächst. Und die Zeit wird heranrücken, wo die Menschen erkennen werden, daß dieser Baum zum Holze werden kann, der der Menschheit Kreuz ist, und der erst dann zum Segen führen kann, wenn das daran gekreuzigt wird, was sich in der richtigen Weise verbindet mit dem, was jenseits des Todes liegt, aber schon im Menschen hier lebt. [5]

Es ist noch nicht lange her, da war dasjenige, was man heute als gelehrten Beruf auffaßt, alles mehr oder weniger nur höheres Handwerk. Es war die Art und Weise, beruflich tätig zu sein in der Juristerei, Medizin, und niemandem wäre es vor verhältnismäßig kurzer Zeit eingefallen, aus dem, was Medizin, Juristerei, was die Naturwissenschaft geboten hat, eine Art religiöse Weltanschauung abzuleiten. [6] Man versteht diese neuzeitliche Geistesentwickelung und man versteht auch den Materialismus nicht, wenn man sich nicht klar darüber ist, daß er nichts anderes ist als eine Fortsetzung mittelalterlichen Denkens, nur mit Weglassung der Anschauung, daß man aufsteigen müsse vom Denken zu dem, was übersinnlich ist, eben nicht durch menschliche Vernunft und menschliche Beobachtung, sondern durch Offenbarung, die in der Dogmatik gegeben ist. Wirklich ebensowenig wie die neueren Universitäten in ihrer Struktur verleugnen können ihr Hervorgehen aus christlichen Unterrichtsanstalten des Mittelalters, ebensowenig kann die Struktur des neueren wissenschaftlichen Denkens ihr Hervorgehen aus der Scholastik verleugnen, von der sie nur etwas abgestreift hat, wie ich vorhin sagte, eine bis in höchst Anerkennenswerte gehende Ausarbeitung der Begriffe und der Denktechnik. Diese Denktechnik ist auch verlorengegangen; daher werden gewisse Dinge, die sich da ergeben und die für den wirklichen Denker unbefriedigend sind, in der modernen naturwissenschaftlichen Erwägungsweise mit Eleganz übergangen. Aber dasjenige, was als Geist, als Sinn lebt in dieser modernen Naturwissenschaft, ist Kind der Scholastik. [7]

Diejenigen, die heute glauben, als wissenschaftliche Gelehrte die Wissenschaft rein erhalten zu müssen um ihrer Exaktheit willen, die wollen sie in Wahrheit rein erhalten, weil ihnen verboten worden ist durch die Dogmatik (der Kirche), über Seele und Geist zu denken. Es ist der Bodensatz, der Rückstand, das Residuum der alten kirchlichen Verbote, die uns heute als exakte wissenschaftliche Forderungen von den Lehrkanzeln verkündet werden. [8]

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Tage herein war der große Fortschritt auf dem äußeren materiellen Gebiete verbunden mit einem Zurückgehen der Denkkraft, des klaren, sicheren Denkens. Wo Wissenschaft getrieben wird, ist insbesondere das klare, und namentlich das sichere, das inhalterfüllte Denken zurückgegangen. Und da der Autoritätsglaube, trotzdem es die Menschen nicht glauben, in keiner Zeit so stark ist wie in unserer Zeit, so hat sich mitgeteilt jene Trostlosigkeit in bezug auf die Denksicherheit auch den weitesten Kreisen, dem ganzen populären Denken. Wir leben geradezu in dem Zeitalter des verwahrlosten Denkens, und zu gleicher Zeit in dem Zeitalter des blindesten Autoritätsglaubens. Wie steht doch der Mensch heute durchaus unter dem Eindruck: er müsse glauben, er müsse Autoritäten anerkennen, die von den äußeren Mächten sanktioniert sind. [9] Gerade dem Umstande verdankt die Naturwissenschaft ihre Größe, daß sie, um rechte Naturwissenschaft zu sein, gedankenlos sein darf und sein soll sogar. Aber worauf ich Sie vor allen Dingen aufmerksam machen will, das ist, daß schon in der Gegenwart bemerkt wird, wie die Menschheit durch etwas durchgeht, was ihr das innere Seelenleben zu einem Träumen und die eigentliche Wissenschaft zu einem Schlafen macht, zu einer Ignorantia. Das ist auch das Wohlige, das die Menschen heute an der Wissenschaft und am wissenschaftlichen Denken empfinden, daß sich darinnen seelisch so wohlig schlafen läßt. Man glaubt gar nicht, wie stark die heutige Menschheit schläft, indem sie etwas zu wissen glaubt, wie sie überall autoritätsgläubig bis zum Exzeß ist gegenüber dem, was sie Wissenschaft nennt, und was ihr als Wissenschaft gegeben wird, wie sie aber nirgends aus ihrem tiefen Schlaf heraus diese Wissenschaft auf die wirkliche Umgebung anwenden kann. Ja, sie sieht es als eine Phantasterei an, wenn «Wissenschaftliches» auf das äußere Leben angewendet wird. [10]

Die Wissenschaft muß uns eine äußere Illusion geben von dem Weltenall. Wir brauchen diese äußere Illusion. (Aber) wir müssen sie dann nur von ganz anderer Seite her durch die Geistesforschung mit wahrer Wirklichkeit erfüllen, müssen von dem illusionären Charakter zu der wahren Wirklichkeit aufsteigen. Dann kommt man gerade dadurch, daß man sich durch diese Illusionen erzieht, zur Wirklichkeit der Welt. [11]

So sonderbar das klingt in unserer Zeit des wissenschaftlichen Fanatismus, so ist es doch so: der Teil des menschlichen Gehirns, der dazu berufen ist, wissenschaftlich zu denken, verfällt einem langsamen Tode. Daher sehen Sie, wie ganz langsam, stufenweise die alten Erbstücke aus dem wissenschaftlichen Denken verschwinden. Wir sehen, wie Aristoteles verhältnismäßig noch viel davon hat, wie aber nach und nach die Wissenschaft ausgepreßt wird von den alten Erbstücken, und wie die Wissenschaft durch das, was sie später bekommt an äußeren Beobachtungen, gottverlassen wird in bezug auf das Denken, wie sie nichts mehr hat von dem alten Fonds. Es war schon im 13. Jahrhundert so, daß ein Denker nichts gefunden hätte in der zeitgenössischen Wissenschaft um ein Bindeglied zu schaffen zwischen der Wissenschaft und dem Christentum. Er hätte zurückgreifen müssen zu Aristoteles. Der hatte noch von dem alten Erbgut der Weisheit, und er konnte die Begriffe liefern, durch die man die Wissenschaft mit dem Christentum zusammenbringen konnte. Dann wurde die Wissenschaft immer ärmer und ärmer an Begriffen, gerade indem sie immer reicher wurde an Beobachtungen. Und dann kam die Zeit, wo alle Begriffe der alten Weisheit aus der Wissenschaft schwanden. Man könnte leicht nachweisen, daß die Wisssenschaft, wenn sie noch so sehr Einzelheit zu Einzelheit häuft, mit keinem einzigen Begriff die Menschheit bereichert hat. Wohlgemerkt: Beobachtungen sind keine Begriffe. Sagen Sie nicht, daß solche Dinge wie Darwinismus und dergleichen die Menschheit mit Begriffen bereichert hätten. Andere haben das getan, nicht die Wissenschafter, sondern Menschen, die ganz andere Quellen hatten. Ein solcher Mensch war Goethe. Er hat die Menschheit mit Begriffen von ganz anderen Quellen her bereichert. Dafür gilt er aber bei den Wissenschaftern auch als Dilettant. Die Dinge liegen so, daß tatsächlich die Wissenschaft nicht bereichert worden ist mit Begriffen. Begriffe finden Sie viel, viel lebensvoller, viel höher und großartiger in uralten Zeiten. Ausgepreßt wie eine Zitrone sind die Begriffe, die der Darwinismus hat. Er hat nur Beobachtungen gesammelt und sie mit den ärmer gemachten Begriffen verbunden. Diese wissenschaftliche Richtung ist etwas, was uns so recht deutlich den Vorgang zeigt des allmählichen Absterbens. Im Gehirn des Menschen ist ein Glied, das im Vertrocknen ist. Das ist das Glied, das heute in der Wissenschaft arbeitet. Und der Grund davon ist, daß der Teil des menschlichen Ätherleibes, der dieses vertrocknende Gehirn beleben sollte, heute noch nicht den Christus-Impuls erlangt hat. Bevor nicht der Christus-Impuls auch einfließt in diesen Teil des menschlichen Gehirns, welcher die Wissenschaft versorgen soll, kommt kein Leben in diese Wissenschaft. [12]

So ersterben gleichsam die Wissenschaften von oben herunter. Und nach und nach werden die Menschen darauf kommen, daß sie zwar imstande sind, die Naturgesetze zu verwerten, daß das aber ganz unabhängig ist von der Wissenschaft. Es braucht jemand keinen Einblick zu haben in Elektrizität, und er kann doch elektrische Apparate konstruieren. Wirkliche Wissenschaft aber stirbt immer mehr und mehr ab. Und so stehen wir jetzt an dem Punkt, wo die äußere Wissenschaft tatsächlich durch die Geisteswissenschaft belebt werden muß. [13]

Zitate:

[1]  GA 129, Seite 15   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[2]  GA 152, Seite 16   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[3]  GA 105, Seite 194   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[4]  GA 353, Seite 107   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[5]  GA 165, Seite 25   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[6]  GA 54, Seite 116   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[7]  GA 206, Seite 72f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[8]  GA 191, Seite 24   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[9]  GA 165, Seite 101f   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)
[10]  GA 190, Seite 156   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)
[11]  GA 193, Seite 170f   (Ausgabe 1977, 208 Seiten)
[12]  GA 112, Seite 235uf   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[13]  GA 124, Seite 63   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 165:  Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls (1915/1916)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 193:  Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft (1919)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)